Gewalt in der Pflege
Gewaltpräventionskonzepte in der Pflege haben bislang oft nur die Pflegebedürftigen im Blick. Der Arbeitsschutz fordert aber auch den Schutz der Beschäftigten. Gewalthandlungen in der Pflege können sowohl von Pflegekräften als auch von Pflegebedürftigen ausgehen. Es ist daher erfolgversprechender, Gewaltprävention für beide Zielgruppen gleichermaßen zu betreiben.
Im Gesundheits- und Sozialwesen erleben Beschäftigte mit hoher Wahrscheinlichkeit in ihrem Berufsleben Gewaltereignisse am Arbeitsplatz. Dies machen Studienergebnisse deutlich [1][2][3][4][5]
In einer Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und des Competenzzentrums Epidemiologie und Versorgungsforschung bei Pflegeberufen (CVcare) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) gaben knapp 80 Prozent der rund 2.000 befragten Beschäftigten aus Altenpflege, Krankenhäusern und Behindertenhilfe an, in den letzten zwölf Monaten am Arbeitsplatz Gewalt erlebt zu haben[6][7] [8]. In Notaufnahmen der Krankenhäuser kommt es ebenso häufig zu Gewalterlebnissen. Von verbaler Gewalt durch Patientinnen und Patienten berichteten in den letzten 12 Monaten rund 81 Prozent der weiblichen und rund 75 Prozent der männlichen Teilnehmenden. Ebenso treten körperliche Gewaltereignisse sowie sexualisierte Gewaltereignisse auf[9]. Aufgrund der hohen Prävalenzzahlen im gesamten Gesundheits- und Sozialwesen ist die Problematik Gewalt am Arbeitsplatz ein relevanter Stressor bei der Arbeit und damit Handlungsfeld für die Unternehmen.
Besonderheiten von Gewalt im Pflege- und Betreuungssetting
Besonders häufig sind Gewaltereignisse innerhalb beruflich begründeter Betreuungs-, Pflege- oder Behandlungsverhältnisse. „Täterinnen und Täter“ sind in diesen Situationen häufig Menschen mit geistigen oder seelischen Behinderungen, gerontopsychiatrischen Erkrankungen wie Demenz, Suchterkrankungen oder psychiatrischen Störungen. Die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit und damit auch die Schuldfähigkeit dieses Personenkreises ist in der Regel stark eingeschränkt. In Pflege- und Betreuungsberufen werden Menschen mit herausforderndem Verhalten, das mit verbalen, körperlichen und sexuellen Übergriffen verbunden sein kann, im Rahmen der professionellen Tätigkeit des Fachpersonals betreut. Die berufliche Aus- und Weiterbildung muss dem in besonderer Weise Rechnung tragen.
Ein weiterer Unterschied zu vielen anderen Arbeitsfeldern ist, dass die Beschäftigten auch nach einem Gewaltereignis in der Regel weiter mit den „Täterinnen und Tätern“ im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit Kontakt haben. Grund hierfür sind die langfristig angelegten Pflege- und Betreuungsverträge. Das hat Einfluss auf die Auswahl der Interventionsmethoden. Sie dürfen zwar die pflegerisch-therapeutische Beziehung nicht beschädigen, jedoch muss der Schutz der Beschäftigten im Fokus stehen. Gewaltpräventionskonzepte, die für Einrichtungen des Gesundheitsdienstes geeignet sein sollen, müssen diese Besonderheiten berücksichtigen.
Jeder Arbeitgeber und jede Arbeitgeberin hat eine Fürsorgepflicht und die Verantwortung, geeignete Maßnahmen zu treffen, um die seelische und körperliche Unversehrtheit seiner beziehungsweise ihrer Beschäftigten zu gewährleisten.
Die hohe berufliche Verantwortungsübernahme hat oft zur Folge, dass Pflegepersonen aggressives Verhalten erdulden und als unvermeidbaren Teil ihrer Tätigkeit empfinden. Das wird durch ein Klima bestärkt, in dem Führungskräfte oder Kolleginnen und Kollegen gleichgültig auf Gewaltereignisse reagieren und vermitteln, dass eine „gute Pflegekraft so etwas aushalten muss“.
Folgen von Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz
Forschungsergebnisse zeigen: 68 Prozent aller Betroffenen fühlten sich nach Gewaltereignissen belastet. Rund ein Drittel der Befragten, die Aggressionen ausgesetzt waren, fühlten sich psychisch sogar erheblich belastet[10]. Die Beschäftigten zweifelten an sich und ihrer Arbeit, waren verunsichert, verängstigt oder angespannt. Neben der emotionalen Beeinträchtigung kam es auch zu körperlichen Beeinträchtigungen durch Schmerzen und Verletzungen durch Bisse, Tritte und Schläge. Entsprechende Ereignisse wirken sich nicht nur auf die direkte Beziehung zu den Betreuten aus, es zeigen sich auch subtilere Folgen wie eine Reduzierung des eigenen Kompetenzerlebens. Das Gefühl der Ohnmacht oder das Infragestellen der eigenen Person, können das Lebensgefühl und die Leistungsfähigkeit von Beschäftigten langfristig beeinträchtigen.
Das Erleben von kritischen Ereignissen ist nicht nur von der konkreten Situation abhängig, sondern vor allem von subjektiven Bewertungsprozessen. Zu den Risikofaktoren für die Entstehung von Störungen gehört neben der subjektiv wahrgenommenen Bedrohung zudem auch die fehlende Unterstützung durch das Umfeld[11][12]. Personelle oder organisatorische Ressourcen können dagegen die negativen Effekte von Stressoren mildern. Zu den organisationalen Ressourcen gehört die soziale Unterstützung der Beschäftigten[13][14][15]][16].
Gewalt gegen Pflegebedürftige
In Deutschland gibt es keine Statistik darüber, wie viele pflegebedürftige Menschen Gewalt erleben. Die Dunkelziffer ist hoch. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Pflegeforschung 2017 gab jede dritte Pflegeperson an, dass Maßnahmen gegen den Willen der Betroffenen alltäglich sind[17]. Neben der unmittelbaren Gewaltanwendung, wie Schlagen, Fixieren oder dem Entzug von Hilfsmitteln wie dem Rollator kommt es auch zu indirekter Gewalt durch Vernachlässigung beispielsweise durch das Unterlassen von Hilfeleistungen im Alltag. Überforderung und Zeitnot des Personals oder einschränkende Regularien in den Einrichtungen führen oft dazu, dass sich Pflegebedürftige hilflos und fremdbestimmt fühlen und dann aggressiv reagieren. In der Folge entsteht eine Eskalationsspirale, die nur mit professionellem Handeln beendet werden kann (siehe Abbildung 1 Eskalationsspirale). Aufgrund der starken Verschränkung dieser beiden Aspekte hat sich die BGW zusammen mit weiteren Institutionen der Initiative der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) „Gewaltfrei Pflegen“ angeschlossen, in deren Rahmen eine Vielzahl von Unterstützungsangeboten für Führungskräfte und Beschäftigte in der Pflege angeboten werden.
Präventionsmaßnahmen
Die BGW empfiehlt grundsätzlich die Etablierung eines ganzheitlichen professionellen Gewaltmanagementkonzeptes, das die Synergien zwischen den Anforderungen des Arbeitsschutzes und den Anforderungen des Patientenschutzes nutzt. Die Bedingungen in den Einrichtungen sind so zu gestalten, dass die Arbeit ohne eine gesundheitliche Gefährdung für das Personal erbracht werden kann.
Schutzmaßnahmen lassen sich je nach Zielsetzung unterscheiden in:
- Maßnahmen, die der Entstehung von Krisensituationen entgegenwirken. Diese Maßnahmen sind vorrangig zu treffen.
- Maßnahmen, die Gefährdungen in auftretenden Krisensituationen reduzieren. Lassen sich Krisensituationen nicht vermeiden, sind Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten in und während auftretender Krisensituationen zu treffen.
- Maßnahmen, die gesundheitliche Risiken nach aufgetretenen Krisensituationen reduzieren
Des Weiteren lassen sich Schutzmaßnahmen nach ihrem Wirkmechanismus unterteilen in:
- technische/bauliche Maßnahmen
- organisatorische Maßnahmen
- personenbezogene Maßnahmen
Nach den Prämissen des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) haben technisch/bauliche und organisatorische Maßnahmen Vorrang vor personenbezogenen (individuellen) Maßnahmen.
Generell lässt sich festhalten, dass die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen gut belegt ist. Werden die Beschäftigten gut auf kritische Situationen und den Umgang mit Gewalt vorbereitet, haben sie ein geringeres Risiko, Gewalt zu erleben[18]. Grundvoraussetzung für präventive Maßnahmen gegen Aggression und Gewalt am Arbeitsplatz ist eine betriebliche Kultur, die offen und systematisch mit diesem Thema umgeht. Des Weiteren ist es wichtig, für eine regelmäßige Qualifizierung aller Beschäftigten der gefährdeten Bereiche zu sorgen. Die Durchführung von umfassenden Qualifizierungsprogrammen (Deeskalationstrainings, Fachqualifizierung) wird empfohlen[2]. Es zeigten sich positive Effekte auf das Wissen sowie auf die Zuversicht, schwierige Situation besser bewältigen zu können. Studien belegen auch, dass durch Trainingsprogramme für deeskalierendes Verhalten, Gewaltminderung erreicht werden kann[19][20].
Die Entscheidung, welche Maßnahmen im konkreten Einzelfall zu ergreifen sind, kann auf Grundlage der durchzuführenden Gefährdungsbeurteilung getroffen werden. In Tabelle 1 werden Beispiele für Präventionsmaßnahmen in Pflegebetrieben vor, während und nach einem Gewaltereignis aufgeführt, differenziert nach dem T-O-P-Prinzip möglicher Präventi-onsmaßnahmen (T = technisch, O = organisatorisch, P = personenbezogen).
Von 2017 bis 2021 setzten die Unfallkassen und Berufsgenossenschaften gemeinsam mit der Kampagne „kommmitmensch“ Impulse für eine wertschöpfende Präventionskultur. Auch bei der Gewaltprävention wirkt eine gelebte Präventionskultur unterstützend. Gerade beim Umgang mit Aggression, Gewalt und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sind begleitende Maßnahmen zur Enttabuisierung des Themas im Unternehmen von besonderer Bedeutung. Solange Gewaltereignisse oder sexuelle Belästigungen in ihrer Bedeutung für die Betroffenen heruntergespielt oder als hinzunehmendes Berufsrisiko kommuniziert werden, bleibt es bei einer hohen Dunkelziffer und weiterführende Präventionsmaßnahmen werden aufgrund der systematischen Unterschätzung des Problems kaum umgesetzt.
Präventions- und Rehabilitationsangebote der BGW
Das Zusammenspiel von Prävention und Rehabilitation ist beim Thema „Gewaltereignisse“ von besonderer Bedeutung. Erkranken Menschen bei ihrer Arbeit durch ein Gewaltereignis psychisch, ist es häufig schwierig, diese beruflich wiedereinzugliedern, wenn im Betrieb strukturelle Defizite im Arbeitsschutz bestehen. Zudem besteht die Gefahr, dass Ähnliches wiederholt geschieht.
Die Präventionsangebote der BGW setzen daher bei den betrieblichen Verhältnissen und der Arbeitsschutzorganisation an. Neben der Qualifizierung von Führungskräften zum Aufbau eines Deeskalationsmanagements und dem Angebot der Organisationsberatung wird die Ausbildung von betrieblichen Deeskalationstrainerinnen und -trainern sowie kollegialen Erstbetreuerinnen und Erstbetreuern gefördert. Voraussetzung dafür ist, dass der Betrieb eine systematisch angelegte Arbeitsschutzorganisation im Rahmen des BGW-Bonusprogramms nachweist. Diese Bedingung sorgt für Nachhaltigkeit im Deeskalationsmanagement.
Die von der BGW geförderten Ausbildungsinstitute wurden danach ausgesucht, ob die Deeskalationskonzepte für die speziellen Anforderungen der BGW-Branchen geeignet sind. Reine Selbstverteidigungskurse sind in diesem Feld nicht hilfreich.
Falls es doch zu einem Übergriff kommt: Nach einem Extremerlebnis benötigen Betroffene schnelle Unterstützung, zum Beispiel durch psychologisch geschulte kollegiale Erstbetreuende. Die BGW bietet ihren Versicherten bundesweit und unbürokratisch telefonische Beratung durch Psychotherapeutinnen und -therapeuten an.
Weitere Informationen finden sich auf: www.bgw-online.de/gewalt