Gewaltprävention im öffentlichen Dienst in Nordrhein-Westfalen
Im öffentlichen Dienst in Nordrhein-Westfalen sorgen rund eine Million Beschäftigte dafür, dass die Menschen gut leben können und bilden damit einen Grundpfeiler des Gemeinwesens. Dabei werden sie immer wieder mit aggressivem Verhalten, verbalen Anfeindungen und physischen Angriffen konfrontiert. Doch was tun?
Beim weiteren Ausbau des Präventionsnetzwerks ist es ein wichtiges Ziel, #sicherimDienst noch bekannter zu machen. Durch die vergrößerte Reichweite können weitere Tipps und Tricks zum Umgang mit Gewalt dargestellt werden, sodass möglichst viele Beschäftigte geeignete Lösungsstrategien für mehr Schutz im Dienstalltag erhalten können.
Schnell wird der Begriff Gewalt verwendet. Doch was ist eigentlich Gewalt?
Der Begriff wird vielfältig ausgelegt. Vor diesem Hintergrund musste eine für die Arbeiten der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen (UK NRW) geeignete und passende Definition für den Umgang mit dem Thema festgelegt werden.
„Gewalt ist ein äußeres Verhalten von Personen, das sich gegen Menschen, Objekte oder Systeme richtet, um diesen physischen, psychischen oder sozialen Schaden zuzufügen.
Zur Gewalt am Arbeitsplatz zählen alle Vorkommnisse, bei denen Beschäftigte in Situationen, die einen Bezug zu ihrer Arbeit haben, verbal, physisch oder psychisch angegriffen werden, was zu einer Beeinträchtigung beziehungsweise Schädigung ihrer Gesundheit, ihrer Sicherheit oder ihres Wohlbefindens führt.“ [1]
Die Definition ist sehr weitreichend und schließt auch sexualisierte Gewalt mit ein. Im Unternehmen sollte eine „Grundsatzerklärung gegen Gewalt“ diese Definition beinhalten und deutlich erkennbar und lesbar für Kunden und Kundinnen sein. Eine solche „Grundsatzerklärung gegen Gewalt“ wirkt sowohl nach außen als auch nach innen.
Ein alltägliches Beispiel
Bei sommerlichen Temperaturen baden zwei Personen an einer sehr gefährlichen Stelle in einem See. Mitarbeitende des Kommunalen Ordnungsdienstes (KOD) werden darauf aufmerksam. Sie greifen zum Schutz der Badenden ein. Die Stimmung ist umgehend aufgeheizt und es herrscht großes Unverständnis über die Maßnahmen. Während der Überprüfung der Personalien bildet sich eine Menschentraube um die Ordnungshüter. Plötzlich mischen sich zwei bis dahin unbeteiligte Personen ein. Erst kommt es zu heftigen Beleidigungen, dann greifen sie die Ordnungshüter körperlich an und überschütten sie mit Bier. Einer der Mitarbeitenden wird bei Handgreiflichkeiten verletzt.
Über verbale und körperliche Angriffe gegen Mitarbeitende des Kommunalen Ordnungsdienstes wird regelmäßig berichtet. Doch weitet man den Blick auch auf andere Berufsgruppen im oder für den öffentlichen Dienst, wird schnell klar: Hierbei handelt es sich um ein allgegenwärtiges Problem. Auch Mitarbeitende von Bäderbetrieben, der Stadtverwaltung, Vollzugskräfte oder Beschäftigte im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) sind mit aggressivem Verhalten, verbalen Anfeindungen oder körperlichen Angriffen konfrontiert.
Zahlen, Daten, Fakten – oder wissen wir es nicht so genau?
Die Hemmschwelle, übergriffig zu werden, scheint zu sinken. Zu diesem Ergebnis kommt eine Befragung der dbb jugend (Beamtenbund) nrw vom November 2022. Mehr als die Hälfte der rund 300 Befragten gab an, dass die Zahl der verbalen und körperlichen Übergriffe habe merklich zugenommen (siehe Abbildung 1). 22 Prozent nehmen immerhin eine leichte Zunahme wahr. Nur 15 Prozent gaben an, die Zahl der Übergriffe sei im Vergleich zur vor der Pandemie liegenden Zeit in etwa auf gleich hohem Niveau geblieben. [2]
Das in Abbildung 1 dargestellte Ergebnis stammt aus einer Befragung von Beschäftigten. Wie aber sieht es mit Zahlen der Strafverfolgungsbehörden oder der Unfallversicherungsträger aus?
Die Strafverfolgungsbehörden und die Unfallversicherungsträger können die Zahlen und Folgen der Ereignisse nur anhand der ihnen gemeldeten Ereignisse oder Unfälle erfassen. Bei derden Strafverfolgungsbehörden erfolgt dies durch Strafanzeigen und Strafanträge, bei den Unfallversicherungsträgern per Unfallanzeige.
Aber werden entsprechende Ereignisse überhaupt gemeldet? Hier zeigen sich im Alltag Probleme. Häufig werden Ereignisse nicht zur Strafanzeige gebracht oder es werden keine Unfallanzeigen geschrieben. So ist von einer großen Dunkelziffer an Ereignissen auszugehen, wie dies zum Beispiel auch die Studie „Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst“ (2022) des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung in Speyer zeigt. [3]
Gleiches gilt auch innerbetrieblich. Auch hier werden Ereignisse häufig nicht erfasst oder dokumentiert, zum Beispiel im Verbandbuch oder mit Erfassungsbögen. Somit haben auch Unternehmer und Unternehmerinnen und ihre Führungskräfte häufig keinen Überblick über die Anzahl und die Art der Ereignisse in ihren Dienststellen und Ämtern.
Nachfragen bei Mitgliedsbetrieben und betroffenen Personen bei Beratungen und Überwachungen haben gezeigt, dass es zwei Gründe für die Nichterfassung gibt:
- Vielfach sehen Betroffene und Führungskräfte die Mühen zur Dokumentation als zu groß an, um solche Ereignisse festzuhalten und
- man ist sich nicht sicher, welche Ereignisse tatsächlich dokumentiert beziehungsweise gemeldet werden sollen. So äußerte sich eine Führungskraft in einer Verwaltung gegenüber dem Autor: „Wenn wir alle Ereignisse erfassen und dokumentieren würden, dann würden wir nichts anderes mehr machen.“
So stellt sich hier die Frage, welche Menge und Arten von Übergriffen zur Erstellung und Pflege der Gefährdungsbeurteilung notwendig sind? Werden Menge und Arten der Gewaltereignisse bei der Gefährdungsbeurteilung und der Ableitung von Maßnahmen angemessen berücksichtigt. Hier kann nur deutlich darauf hingewiesen werden, dass gerade die Erfassung von Gewaltereignissen in Anzahl und Art einen wesentlichen Bestandteil der Gefährdungsbeurteilung darstellt und unabdingbar zu berücksichtigen ist.
Hilfsmittel für die Erfassung können zum Beispiel betriebsinterne Meldebögen sein, die sich speziell mit der Erfassung von Gewaltereignissen beschäftigen, aber auch der sogenannte FoBiK-Fragebogen (FoBiK – Formen der Bedrohung im Kundenverkehr) [3], der in Verbindung mit dem Aachener Modell ein schnelles und aussagekräftiges Ergebnis bringt. Das Aachener Modell inklusive eines Fragebogens wird sowohl in der Broschüre „Gewaltprävention – ein Thema für öffentliche Verwaltungen? (PIN 37) als auch auf der Homepage der Unfallkasse NRW, inklusive eines Auswertungsbogens, vorgestellt.
Das Aachener Modell
Bereits seit vielen Jahren beschäftigt sich die Unfallkasse NRW mit dem Thema Gewalt gegen Beschäftigte. Dies führte bereits im Jahr 2008 zur Veröffentlichung der Schrift Prävention in NRW 37 „Gewaltprävention – ein Thema für öffentliche Verwaltungen?! – Das Aachener Modell – Reduzierung von Bedrohungen und Übergriffen an Arbeitsplätzen mit Publikumsverkehr“ (Broschüre PIN 37 der Unfallkasse NRW).
Schnell stellte sich heraus, dass das Aachener Modell nicht nur für den Bereich der Verwaltungen nutzbar ist. Vielmehr ist es ein Modell, das in allen Bereichen des öffentlichen Dienstes und auch darüber hinaus genutzt werden kann. Es bildet bereits in vielen Mitgliedsbetrieben der Unfallkasse NRW die Grundlage für die Gewaltprävention. Das Modell umfasst neben präventiven Maßnahmen unter anderem auch Hinweise zur Nachsorge nach Gewaltereignissen und zur Dokumentation und Meldung von Ereignissen. Der Vorteil des Modells liegt in seinen Eskalationsstufen, die angemessene und verhältnismäßige Maßnahmen erlauben. Das Modell selbst muss für das jeweilige Unternehmen angepasst und mit Leben gefüllt werden. Beispiele für die den Gefahrenstufen zugeordneten Maßnahmen sind der Broschüre PIN 37 der Unfallkasse NRW zu entnehmen. Die Maßnahmen der einzelnen Stufen bauen dabei aufeinander auf (siehe Abbildung 2 und Abbildung 3).
Neben dem Aachener Modell bietet die Unfallkasse NRW weitere zahlreiche unterstützende Tätigkeiten, Materialien, Qualifizierungsmaßnahmen et cetera an, sowohl im Bereich der Allgemeinen Unfallversicherung als auch im Bereich der Schülerunfallversicherung.
Unterstützung durch #sicherimDienst
Mit Beschluss des Kabinetts vom 8. Juni 2021 wurde die NRW-Initiative „Mehr Schutz und Sicherheit von Beschäftigten im öffentlichen Dienst“ ins Leben gerufen. Als Lenkungsgremium ist eine interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG „Mehr Schutz und Sicherheit von Beschäftigten im öffentlichen Dienst“) eingerichtet worden, in der alle Ressorts der Landesregierung vertreten sind. Entsprechend hoch ist das Interesse der Landesregierung NRW an dem Vorhaben. Zur Umsetzung des Auftrags wurde durch die IMAG das Innenressort mit der Einrichtung einer ressortübergreifenden Projektgruppe beauftragt.
Bei der Auftaktveranstaltung am 25. Juni 2021 betonte Innenminister Herbert Reul nicht nur die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer solchen Initiative, sondern auch die Bedeutung des Aachener Modells, das von der Polizei Aachen in Kooperation mit der Unfallkasse NRW geschaffen worden war.
Die NRW-Initiative verfolgte zwei Hauptziele:
- Einrichtung eines landesweiten Netzwerks „Mehr Schutz und Sicherheit von Beschäftigten im öffentlichen Dienst“
- Erstellung eines Leitfadens „Mehr Schutz und Sicherheit von Beschäftigten im öffentlichen Dienst“
Nach erfolgreichem Projektabschluss erfolgte die Gründung des Netzwerks und es wurde ein Präventionsleitfaden erstellt (www.sicherimdienst.nrw).[4]
Die NRW-Initiative, das Projekt sowie das Netzwerk wurden und werden von der Unfallkasse NRW aktiv unterstützt und begleitet.
Gemeinsam für mehr Schutz und Sicherheit von Beschäftigten
Das bundesweit einmalige Präventionsnetzwerk #sicherimDienst fokussiert auf die Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeiten und Berufsbilder im öffentlichen Dienst auf. Aufgrund der zahlreichen Berufsbilder und der unterschiedlichen Rahmenbedingungen richten sich die Angebote tätigkeitsbezogen an fünf verschiedene Zielgruppen: Operativ- und Einsatzkräfte, Beschäftigte im Innendienst mit Publikumsverkehr, Dienstleistende (beispielsweise im Gesundheitswesen oder Sozialdiensten) und an Lehr- und pädagogische Fachkräfte. Auch Mandatsträgerinnen und -träger oder besondere Amtsträgerinnen und-träger, beispielsweise in der Kommunalpolitik, sind als eigene Zielgruppe definiert. Die Betroffenen müssen konkrete und für ihr Tätigkeitsfeld spezifische Hilfestellungen erhalten. So ist Schule nicht wie Busfahren, auch wenn die Täterinnen- und Tätergruppen bei Gewalt gegen Beschäftigte häufig die gleichen sind.
Über 350 Behörden, Organisationen, Verbände und Institutionen des öffentlichen Dienstes in Nordrhein-Westfalen haben sich bislang bei #sicherimDienst zusammengeschlossen. Für den Umgang mit Gewaltübergriffen bietet #sicherimDienst zwei wichtige Hilfestellungen an:
- Es werden umfangreiche und praxisorientierte Informationen zum Thema Gewalt und Tipps zur Vor- und Nachsorge von Übergriffen zur Verfügung gestellt.
- Im Rahmen des Netzwerks besteht die Möglichkeit des Erfahrungsaustauschs. Die vielen positiven Ressourcen können somit genutzt werden und ermöglichen es, gemeinsam an Präventions- und Schutzmaßnahmen zu arbeiten.
In einem Präventionsleitfaden gibt es konkrete Handlungsempfehlungen, jeweils speziell zugeschnitten für die fünf Zielgruppen. Die Zielgruppen sind behörden- und berufsübergreifend nach Tätigkeiten und Form des Bürgerkontakts gegliedert:
- Innendienst mit Publikumsverkehr
- Operativ- und Einsatzkräfte
- Dienstleistende
- Mandats- und besondere Amtsträger
- Lehr- und pädagogische Fachkräfte
Der Leitfaden wurde gemeinsam von Beschäftigten aus allen Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes, der Landesverwaltung und Expertinnen und Experten aus der wissenschaftlichen Forschung entwickelt. Neben der Wissensvermittlung zu Bedingungen, Ursachen und Formen der Gewalt werden allgemeine Hilfestellungen und Handlungsempfehlungen zur Verfügung gestellt. Auch strukturelle Aspekte wie Führungsverantwortung und Arbeitsschutz und damit auch Arbeitszufriedenheit werden thematisiert. Für den Umgang mit Gewaltsituationen werden Möglichkeiten der Vorsorge, des Handlings und der Nachsorge von Gewalterfahrungen dargestellt, ergänzt durch Tipps zur Umsetzung und zur Rechtssicherheit. Diese beziehen sich sowohl auf bauliche und technische Maßnahmen als auch auf organisatorische und personenbezogene Maßnahmen.
Zusätzlich zum Präventionsleitfaden bietet das bereichsübergreifende Netzwerk #sicherimDienst große Unterstützung. In dem Präventionsnetzwerk haben sich mittlerweile rund 1.000 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus allen Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes zusammengeschlossen. Das bietet eine gute Möglichkeit, sich im Rahmen des Netzwerks auszutauschen und geeignete Ansprechpersonen bei Fragen zu finden. Der Zusammenschluss ermöglicht einen einrichtungsübergreifenden Austausch von Erfahrungen und Tipps im Umgang mit Gewalt und macht geeignete Praxisbeispiele unter den Mitgliedern bekannt. Hier sei beispielsweise das Gütersloher Modell [5] als hilfreiches Orientierungssystem für Einsatz- und Rettungskräfte in öffentlichen Gebäuden genannt, das dazu beitragen kann, dass externe Hilfe schneller dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Begleitet wird #sicherimDienst durch eine groß angelegte Öffentlichkeitsarbeit. Damit soll sowohl nach innen als auch nach außen für das Thema Gewalt im öffentlichen Dienst sensibilisiert und ein Zeichen gesetzt werden.[6]
Werden auch Sie Teil des Netzwerks
Beim weiteren Ausbau des Präventionsnetzwerks ist es ein wichtiges Ziel, #sicherimDienst noch bekannter zu machen. Durch die vergrößerte Reichweite können weitere Tipps und Tricks zum Umgang mit Gewalt dargestellt werden, sodass möglichst viele Beschäftigte geeignete Lösungsstrategien für mehr Schutz im Dienstalltag erhalten können.
#sicherimDienst ist eine Kampagne des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen der NRW-Initiative „Mehr Schutz und Sicherheit von Beschäftigten im öffentlichen Dienst“. Kernelemente der Kampagne sind ein übergreifender Präventionsleitfaden sowie ein landesweites Präventionsnetzwerk.
Werden auch Sie Teil des Netzwerks!
Nutzen Sie das Kontaktformular auf der Internetseite oder schreiben Sie eine E-Mail an: kontakt@sicherimdienst.nrw
Weitere Informationen unter: www.sicherimdienst.nrw, Twitter @sicherimDienst, Facebook SicherimDienst oder LinkedIn #sicherimDienst. [7]