„Es müssen klare Grenzen gezogen werden“

Wo liegen die Ursachen für Gewalt und was können Betriebe oder Schulen tun, um Gewalt vorzubeugen? Ein Gespräch mit Professor Thomas Bliesener vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN).

Sehr geehrter Herr Professor Bliesener, viele Menschen haben den Eindruck, dass immer häufiger mit Gewalt auf Konflikte reagiert wird. Man hört oft, die Gesellschaft „verrohe“. Können Sie das anhand Ihrer Forschungsdaten bestätigen?

Bliesener: Nein, man muss differenzieren. Gewalt umfasst ein breites Spektrum von Handlungen. Das reicht von Beleidigung und Bedrohung bis hin zu tätlichen Angriffen auf Leib und Leben. Wenn wir auf die Polizeiliche Kriminalstatistik schauen, dann sehen wir, dass in den vergangenen Jahren die Anzeigen bei Delikten wie leichter Körperverletzung und Beleidigung gestiegen sind. Für die schweren Gewaltdelikte, zu denen beispielsweise auch Sexualdelikte gezählt werden, gilt das Gegenteil. Hier sehen wir eine stetige Abnahme.

Und wie sieht es mit Gewalt im öffentlichen Raum aus?

Gerade hier sehen wir viel weniger Übergriffe als früher. Es wurde eine Reihe von erfolgreichen Maßnahmen getroffen und die Aufmerksamkeit für Übergriffe hat sich parallel dazu erhöht. Nehmen wir zum Beispiel die Prügelstrafe. Sie ist in Schule und Erziehung verboten. So sieht man Eltern im öffentlichen Raum nicht mehr ihre Kinder ohrfeigen. Selbst auf den Schulhöfen hat es früher mehr Raufereien unter Kindern und Jugendlichen gegeben als heute, das belegen auch die Statistiken der gesetzlichen Unfallversicherung.

Das heißt, es hat einen Bewusstseinswandel gegeben, die Gesellschaft ist sensibler geworden für das Thema?

Ja, bei der Frage, was ist noch tolerierbar und was nicht, haben sich die Grenzen verschoben. Handlungen, die zuvor vielleicht als lediglich unangemessenes Verhalten hingenommen wurden, werden jetzt nicht mehr akzeptiert und als möglicherweise strafrechtlich relevante Gewaltausübung identifiziert. Es gibt damit auch eine höhere Anzeigebereitschaft.

Prof. Dr. Thomas Bliesener | © Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN)
Prof. Dr. Thomas Bliesener ©Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN)

Was weiß die Wissenschaft über die Ursachen von Gewalt?

Es gibt immer verschiedene Risikofaktoren, die zusammenspielen und die Gewaltbereitschaft eines Menschen erhöhen. Ein wichtiger Faktor ist die Erziehung und Prägung in der Familie. Welches Konfliktverhalten haben die Eltern vorgelebt? Konnten sie ihre Auseinandersetzung gut beenden oder sind sie handgreiflich geworden? Konnten sie brenzlige Situationen deeskalieren oder nicht? Für Jugendliche spielt dann die Dynamik in ihrer Peergroup eine wichtige Rolle. Wird in der Gruppe Gewalt akzeptiert? Ist sie ein Mittel, um Akzeptanz zu erlangen? Gibt es auch körperlichen Gewalteinsatz gegen Außenstehende? In Beziehungen sind Kränkungen oft die Ursache für Übergriffe. Kränkungen hängen in der Regel mit einem fragilen Selbstwert zusammen. Ob jemand ein gutes Selbstwertgefühl aufbauen kann, hängt wiederum von vielen Faktoren ab, die in seinem familiären und schulischen Umfeld liegen.

Nach den Angriffen auf Rettungskräfte in der Silvesternacht 2022 in verschiedenen Großstädten kam schnell die Frage auf, inwiefern ein Migrationshintergrund eine Rolle spielt.

Die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik helfen hier nicht weiter, sie differenzieren nur nach Deutschen und Nichtdeutschen. Das KFN hat in Schleswig-Holstein eine Erhebung gemacht zur Kriminalität von Zuwanderern. Der Vergleich zeigt: Zuwanderer begehen häufiger Straftaten als Deutsche ohne Migrationshintergrund. Aber bei dieser Aussage darf man nicht stehen bleiben. Die Gruppe der Zuwanderer ist im Durchschnitt jünger und weist mehr Männer auf als die deutsche Bevölkerung. Beide Merkmale – jung und männlich – sind auch bei Deutschen ohne Migrationshintergrund mit höheren Kriminalitätsraten assoziiert. Aber auch wenn man diese ungleiche Verteilung herausfiltert, bleibt eine höhere Kriminalitätsrate bei den Zuwanderern. Die Ursachen dafür liegen in ihren Lebensumständen: Sie haben häufig eine schlechtere Schulbildung, weniger berufliche Chancen, leben eher in kriminalitätsbelasteten Stadtteilen, haben oft eine schlechtere Sprachkompetenz und weniger ausgeprägte Unterstützungsnetzwerke. Ausschlaggebend für eine erhöhte Kriminalität sind die Lebensumstände, nicht die ethnische Zugehörigkeit.

Was können Betriebe, Schulen, öffentliche Einrichtungen tun, um Gewalt vorzubeugen?

In einem ersten Schritt müssen Grenzen klar gezogen werden. Die Leitung muss deutlich machen, dass sie Verhaltensweisen wie Beleidigung, Mobbing oder gar tätliche Angriffe nicht toleriert. Diese Grenzen kann man zum Beispiel auch in einem Kodex festlegen. Das gibt Sicherheit. Verbunden damit muss auch klargestellt werden, dass eine Übertretung dieser Grenzen deutliche Konsequenzen nach sich zieht. Ebenso wichtig ist es, den Opfern von Gewalt Möglichkeiten anzubieten, Übergriffe zu melden. Das kann eine Vertrauensperson sein oder ein anonymer Kummerkasten. Wenn es Anzeigen oder Beschwerden gibt, dann muss den Vorfällen in möglichst objektiver Form nachgegangen werden.

Haben Sie feststellen können, dass Prävention ihr Ziel erreicht und Gewaltvorfälle in einer Organisation reduzieren kann?

Ja, das kann ich aus meiner eigenen Forschungserfahrung insbesondere für den schulischen Kontext bestätigen. Dort wurden bereits substanzielle Erfolge erzielt, zum Beispiel mit Programmen gegen Mobbing und Bullying. Wichtig ist, dass die Angebote eine nachhaltige Strategie verfolgen. Sie sollten deshalb mit professioneller Begleitung eingeführt und dann von der jeweiligen Institution dauerhaft weitergeführt werden. Manchmal kommt es dabei zu Irritationen, wenn die Hinweise auf Gewaltvorfälle nach Einführung des Programms erst mal steigen. Aber das ist normal, die Programme setzen in der Regel auf Sensibilisierung. Wenn aber Gewalt deutlicher wahrgenommen wird, gibt es erst mal mehr Anzeigen. Das ändert sich, sobald sich eine gewaltfreie Kultur etabliert hat.

Wie wichtig ist es, gerade Jugendliche möglichst rasch für eine Gewalttat zur Rechenschaft zu ziehen?

Es gibt mittlerweile einige Forschungsarbeiten zum Thema Sanktionsgeschwindigkeit. Es ist keineswegs eindeutig, dass eine Beschleunigung der gerichtlichen Aburteilung bessere Effekte erzielt als ein Gerichtsverfahren, das möglicherweise erst ein Jahr nach der Tat angesetzt wird. Fatal ist nur, wenn der Täter oder die Täterin keinerlei Konsequenzen erlebt nach Ausübung von Gewalt. Damit wird die Abschreckungswirkung von Strafe ausgehebelt.

Was kann die Gesellschaft, jeder und jede Einzelne, tun, um Gewalt entgegenzuwirken?

Es ist wichtig, immer wieder deutlich zu machen, dass gewalttätiges Verhalten nicht toleriert wird. Das gilt zum Beispiel auch für Shitstorms oder Hassbotschaften im Netz. Meist wehrt sich niemand dagegen außer dem Opfer selbst. Die anderen verlassen den Chat, beziehen aber oft nicht Position gegen den Aggressor oder die Aggressorin. Das ist auch eine wichtige Botschaft für Betriebe: Es lohnt sich, Zivilcourage zu fördern, um eine gewaltfreie Betriebskultur zu fördern. Auch Menschen, die nicht direkt betroffen, aber Zeugen von Übergriffen sind, sollten Position beziehen und die Grenzen klarmachen. Es gibt immer wieder tolle Einzelbeispiele für Zivilcourage, aber als Gesellschaft können wir noch mehr dafür tun, Personen zu ermutigen, Flagge zu zeigen.

Das Interview führte Elke Biesel/DGUV.