Erste globale Daten über Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz
Die erste globale empirische Studie wirft ein Schlaglicht auf das Ausmaß von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz und ihre komplexen Wurzeln. Das ILO-Übereinkommen 190 (engl. Convention 190, C190) aus dem Jahr 2019 gibt den völkerrechtlichen Rahmen vor und dient als Regelwerk für Vorbeugung, Abhilfe und Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, einschließlich genderbasierter Gewalt und Belästigung.
Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz beeinträchtigen das Leben und die Würde der betroffenen Menschen, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden. Darüber hinaus sind weitreichende Auswirkungen auf Familien, Unternehmen und Gesellschaft festzustellen, in deren Folge die Ungleichheit in der Gesellschaft vertieft und die Produktivität der Unternehmen untergraben wird. Um Gewalt und Belästigung wirksam zu verhindern und zu bekämpfen, sind valide und repräsentative empirische Information hilfreich.
In einer weltweiten Studie – die erste in diesem Bereich – hat die International Labour Organization (ILO) in Zusammenarbeit mit Lloyd's Register Foundation und Gallup erstmalig globale Daten zu Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz erhoben, um das Problem besser zu erfassen und Aufmerksamkeit zu generieren. Die Studie basiert auf Interviews mit 75.000 Menschen im Alter von mindestens 15 Jahren aus 121 Ländern aus allen Regionen der Welt. Die Ergebnisse geben einen Überblick über das Ausmaß, die Häufigkeit und die wichtigsten Formen (physische, psychische, sexuelle) von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. Darüber hinaus eröffnet die Studie einen Einblick auf die zentralen Barrieren, die Opfer daran hindern, über das Erlebte zu sprechen, geschweige denn, es zur Anzeige zu bringen.
Die Erhebung robuster Daten zu diesen hochsensiblen Themen ist herausfordernd und gleichzeitig von grundlegender Bedeutung, um das Thema öffentlich zu machen und das Dunkelfeld zu erhellen. Unternehmen und Organisationen wussten lange zu wenig über Ausmaß und Formen von Gewalt oder waren nicht bereit, das Thema anzugehen. Mit diesen Daten ist auch eine Grundlage geschaffen, um die Gruppen in der Arbeitswelt zu identifizieren, die am meisten gefährdet sind, dies auch und vor allem in Regionen und an Orten, für die es bislang nur lückenhafte Daten gab. Mit der Studie liegt auch eine valide Grundlage vor, um eingeleitete Veränderungen und neue Rahmenbedingungen zukünftig in ihrer Wirksamkeit messen zu können und Fortschritte zu bewerten.
Es ist ein Verdienst dieser Studie, dass auch jene Faktoren ins Blickfeld genommen werden, die Menschen dazu veranlassen, Gewalt- oder Belästigungserfahrungen nicht öffentlich zu machen. Darunter sind zuvorderst Scham und Schuldgefühle zu nennen, aber auch ein mangelndes Vertrauen in Institutionen oder auch die Erfahrung, dass inakzeptables Verhalten als „normal“ angesehen wird.
Gewalt und Belästigung sind nicht einfach zu erfassen, insbesondere über verschiedene politische, religiöse, ethnische und kulturelle Kontexte hinweg. Zudem gibt es eine große Scheu und Angst, über das Erlebte zu sprechen. Nur gut die Hälfte der Opfer weltweit (54,4 Prozent) hat diese Erfahrung mit einer anderen Person geteilt, oftmals erst nachdem sie wiederholt Gewalt und Belästigung erlebt haben. Als Gründe für das Schweigen werden „Reputationsverlust“ und „Zeitverschwendung“ genannt, ein deutlicher Hinweis auf die Erwartung, dass die Offenlegung nicht ernst genommen wird, persönlich schadet und/oder zu keinen weiteren Handlungen oder Hilfen führt. Freunde und Freundinnen oder Familienangehörige werden eher und häufiger informiert als andere informelle oder formelle Stellen. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, dass Gewalterfahrungen offengelegt werden, bei Frauen mit 60,7 Prozent um 10 Prozent höher als bei Männern.
Ausmaß von Gewalt und Belästigung weltweit
Eine zentrale Erkenntnis der Studie: Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz sind weitverbreitete Phänomene auf der ganzen Welt, über alle Kulturen, politischen Systeme und Religionen hinweg. Mehr als jede fünfte Person – 22,8 Prozent beziehungsweise 743 Millionen Erwerbstätige – hat während des Arbeitslebens mindestens eine Form von Gewalt und Belästigung erlebt, sei es physische, psychische oder sexuelle Gewalt.
Unter den Personen, die über Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz berichten, gibt etwa ein Drittel (31,8 Prozent) an, mehr als eine Form erlebt zu haben, und 6,3 Prozent waren von allen drei Formen in ihrem Arbeitsleben betroffen. Eine Differenzierung anhand der Gewaltformen ergibt folgendes Bild:
- Eine von zehn Erwerbspersonen – 8,5 Prozent oder 277 Millionen – hat physische Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz erlebt, wobei Männer häufiger betroffen sind als Frauen.
- Psychische Gewalt und Belästigung findet sich bei Frauen und Männern gleichermaßen und stellt die häufigste Form der Gewalterfahrung im Arbeitsverlauf dar: 17,9 Prozent oder 583 Millionen Erwerbstätige sind betroffen, ein Befund, der über alle Länder hinweg gilt.
- Frauen sind besonders häufig sexueller Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz ausgesetzt mit 6,3 Prozent oder 205 Millionen Frauen. Die Daten zu sexueller Gewalt und Belästigung zeigen den weitaus größten geschlechtsspezifischen Unterschied zwischen den drei Gewaltformen – 8,2 Prozent der Frauen gegenüber fünf Prozent der Männer erleben sexuelle Gewalt und Belästigung.
Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz sind häufig wiederkehrende und anhaltende Erfahrungen. Mehr als drei von fünf Opfern erfahren Gewalt und Belästigung nicht nur einmal, sondern wiederholt im zeitlichen Verlauf. Bei der Mehrzahl der Befragten hat der letzte Vorfall innerhalb der vergangenen fünf Jahre stattgefunden.
Vulnerable Gruppen
Das Risiko, am Arbeitsplatz Gewalt und Belästigung zu erleben, ist in bestimmten demografischen Gruppen besonders ausgeprägt. Die Vulnerabilität ist deutlich ausgeprägt bei jungen Menschen in der Arbeitswelt, bei Migrantinnen und Migranten, bei Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Angestellten im Unterschied zu Selbstständigen. Für alle Gruppen gilt: Die größere Betroffenheit und damit Vulnerabilität liegt bei Frauen vor. Die Studienergebnisse zeigen, dass junge Frauen doppelt so häufig wie junge Männer sexuelle Gewalt und Belästigung erleben und dass Migrantinnen im Vergleich zu Frauen ohne Migrationshintergrund nahezu doppelt so häufig Opfer werden.
Personen, die zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Behinderung, Nationalität/Ethnie, Hautfarbe und/oder Religion erlebt haben, machen mit größerer Wahrscheinlichkeit Gewalt- und Belästigungserfahrungen am Arbeitsplatz als Personen, die einer solchen Diskriminierung nicht ausgesetzt sind. Die genannten Gruppen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, Opfer zu werden. Das gilt weltweit in besonderer Weise für geschlechtsspezifische Diskriminierung: Nahezu fünf von zehn Personen, die im Verlauf ihres Lebens Opfer von geschlechtsspezifischer Diskriminierung geworden sind, sind auch von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz betroffen, im Vergleich zu Menschen, die nicht aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert wurden.
Die Daten machen insgesamt deutlich, vor welchen Herausforderungen alle Beteiligten in Regierungen, Unternehmen, Gewerkschaften und Institutionen stehen, um Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz zielgenau zu beenden, wirksame Präventionsmaßnahmen zu treffen und dabei die besonders vulnerablen Gruppen zu stärken und zu schützen.
Die regelmäßige Erhebung robuster Daten über Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz, sowohl auf nationaler als auch auf regionaler und globaler Ebene, ist eine wichtige Basis, um Gesetze und Vorbeugungs- sowie Abhilfemechanismen zu entwickeln, regelmäßige Forschung und Controllingmaßnahmen zu initiieren und Aufmerksamkeit für das Thema zu stärken.
Diese Ergebnisse fordern zu konkreten Maßnahmen und Regelungen auf, dies sowohl auf gesetzlicher Ebene als auch durch Angebote und Verfahren vor Ort. Sie bestätigen und unterstreichen die Bedeutung des ILO-Übereinkommens 190 (im folgenden C190) gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt und der korrespondierenden Empfehlung 206 aus dem Jahre 2019 als weltweit wirksame Grundlage zur Gestaltung und Sicherung einer Arbeitswelt, die auf Würde, Respekt und Sicherheit für alle beruht, frei von Belästigung und Gewalt.
ILO-Übereinkommen 190 – der völkerrechtliche Rahmen
C190 ist wegweisend und weltweit das erste völkerrechtliche Instrument, das Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt (im formellen wie im informellen Bereich) definiert und ahndet und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch Arbeitenden im informellen Sektor einen weitreichenden Schutz vor Gewalt und Belästigung im Arbeitsfeld gewährt. Anlässlich des 100-jährigen Bestehens der ILO 2019 wurde der völkerrechtliche Standard nach langer intensiver Vorbereitung und befördert durch die Me-too-Debatte von der Internationalen Arbeitskonferenz und damit von allen Mitgliedstaaten (Regierungen, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen) verabschiedet.
Mit C190 wird das Recht eines jeden Menschen auf eine Arbeitswelt frei von Gewalt und Belästigung anerkannt. Gleichzeitig wird die Entwicklung und Implementierung integrierter und geschlechtergerechter Ansätze für Prävention, Schutz, Abhilfemaßnahmen und Strafen gefordert. Nach der Annahme der Konvention durch die 187 Mitgliedstaaten der ILO ist es im nächsten Schritt Aufgabe der souveränen Mitgliedstaaten, C190 zu ratifizieren und damit in nationales Recht umzusetzen. Damit ist auch die Verpflichtung zur Überprüfung der bestehenden nationalen Gesetzgebung – in den Bereichen Arbeitsschutz, Prävention, Strafrecht, Hilfe und Opferentschädigung – im Hinblick auf Nachjustierungen verbunden. Neben Regierungen wird den Sozialpartnern und den Unternehmen eine wesentliche Rolle in der Umsetzung zugeschrieben.
Definition und Anwendungsbereich
C190 schafft Klarheit darüber, was unter Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz zu verstehen ist. Die Norm setzt ein unmissverständliches und weltweites Signal, dass jede Androhung und jedes Verhalten, das Menschen im Arbeitsbereich herabwürdigt, belästigt oder angreift, verboten ist und geahndet wird, unabhängig davon, ob es sich um physische, psychische oder sexuelle Gewalt und Belästigung handelt.
§ 1a definiert Gewalt und Belästigung als „eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich, ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“.
In globaler Perspektive ist auch die Verbindung zwischen C190 und anderen ILO-Normen hervorzuheben, insbesondere zu Übereinkommen, die das Recht auf Nichtdiskriminierung, Versammlungsfreiheit und Kollektivvereinbarungen festschreiben sowie die Abschaffung von Zwangs- und Kinderarbeit als Ziel definieren.
Vor dem Hintergrund der empirischen Erkenntnisse zu sexueller Belästigung und Gewalt und im Kontext der Me-too-Bewegung ist es ein wichtiger Meilenstein, dass geschlechterspezifische Gewalt einen eigenen Stellenwert bekommt, der sich auch in der Art widerspiegelt, wie Maßnahmen zur Vermeidung und zur Abhilfe konzipiert sein müssen.
Geschlechterspezifische Gewalt ist definiert als „Gewalt und Belästigung, die sich gegen Personen aufgrund ihres Geschlechts richten oder von denen Personen eines bestimmten Geschlechts unverhältnismäßig stark betroffen sind“.
C190 gewährt den höchstmöglichen Schutz für Menschen in der Arbeitswelt und umfasst einen weiten Personenkreis aller Beschäftigten ungeachtet der Art des Arbeitsverhältnisses. Die ILO-Konvention bezieht sich auf öffentliche wie private Arbeitsverhältnisse und bezieht alle Sektoren ein, einschließlich der informellen Wirtschaft. Das Arbeitsverhältnis muss nicht durch einen schriftlichen Vertrag nachgewiesen werden.
Folgende Gruppen sind konkret benannt und eingeschlossen:
- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Sinne der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten
- Personen, die unabhängig von ihrem vertraglichen Status arbeiten (hierunter fallen auch Beschäftigte im informellen Sektor)
- Personen in der Ausbildung, einschließlich Praktikantinnen und Praktikanten sowie Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis gekündigt wurde
- freiwillige Helfende
- Arbeitssuchende und Stellenbewerber und -bewerberinnen
- Personen, die die Befugnisse, Pflichten oder Verantwortlichkeiten einer Arbeitgeberin oder eines Arbeitgebers ausüben
Gleichzeitig wird das Feld möglicher Täterinnen und Täter weit gefasst. Neben Führungspersonen sowie Kolleginnen und Kollegen der gleichen Organisation sind auch Kundinnen und Kunden sowie sonstige Dienstleistende einbezogen.
Grundsätzlich sind alle Arbeitsstätten berücksichtigt, öffentlich zugängliche Räume wie auch private Räumlichkeiten, damit auch private Haushalte, sowie Ruhe- und Pausenbereiche. Der Schutz greift auch für Arbeiten, die außerhalb des Betriebs, zum Beispiel im Handwerks- und Dienstleistungsbereich bei Kunden, durchgeführt werden, inklusive Privatwohnungen und Baustellen. Orte im Kontext beruflich veranlasster Reisen und damit die Orte der Anreise, Ausbildungsstätten oder Veranstaltungen gehören ebenso zum Geltungsbereich wie bereitgestellte Unterkünfte für Beschäftigte.
Zukunftsweisend ist die Einbeziehung virtueller Räume, die im Zuge der Digitalisierung in zunehmendem Maße Orte von Belästigung und Gewaltandrohung sind, das heißt E-Mail-Kommunikation, Messengerdienste oder sonstige Kommunikationsplattformen. Das ist ein wichtiger Schritt, um den Schutz vor verbaler und schriftlicher Belästigung und Gewalt zu gewährleisten.
Konkrete Maßnahmen auf staatlicher und betrieblicher Ebene
Im Kampf gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt ist die Ratifizierung von C190 durch die 187 Mitgliedstaaten der ILO ein notwendiger konkreter Schritt. Deutschland befindet sich bereits im Ratifizierungsprozess und zählt damit zu den Vorreiterstaaten sowohl innerhalb von Europa als auch global. Am 21. Dezember 2022 hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurf zur Ratifikation des ILO-Übereinkommens 190 beschlossen und damit den Weg geebnet für die parlamentarischen Beratungen, die Mitte 2023 abgeschlossen sein dürften.
Mit der Ratifizierung durch Deutschland werden Rechtsvorschriften bekräftigt oder eingeführt, die die Belästigung und Gewalt in der Arbeitswelt entsprechend der internationalen Definition unter Strafe stellen und diese konsequent ahnden. Es bedarf sowohl staatlicher als auch unternehmensinterner Beschwerde-, Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismen. Die Notwendigkeit der guten und kontinuierlichen Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Sozialpartnern ist für die effektive Umsetzung der Norm nicht hoch genug zu bewerten. Denn der soziale Dialog kann dazu genutzt werden, um bereits während des Gesetzgebungsprozesses, aber spätestens bei der Entwicklung und Implementierung von Schutz- und Abhilfesystemen zu guten Ergebnissen im Kampf gegen Belästigung und Gewalt zu kommen.
Gleichzeitig geht es darum, Rechtsbeihilfen niederschwellig zur Verfügung zu stellen. Folgt man den genannten empirischen Erkenntnissen der weltweiten Studie, die ein mangelndes Vertrauen von Opfern in Institutionen belegen, so ist die Einrichtung unabhängiger Stellen für Opfer von Gewalt und Belästigung ein notwendiger Schritt, um Vertrauen zu stärken, Hilfe anzunehmen und auch Übertretungen zur Anzeige zu bringen. Alle Gutachten in Deutschland zu sexueller Gewalt in institutionellen Kontexten wie Kirchen, Bildungseinrichtungen, Schulen und Vereinen sind sich einig in der Forderung, unabhängige Stellen für Betroffene einzurichten. Die Ergebnisse der genannten globalen Studie weisen in die gleiche Richtung.
Im Arbeitskontext ist zudem eine konsequente Risikoanalyse unter Einbeziehung von Arbeitnehmervertretungen durchzuführen, um darauf aufbauend zielgenaue Sicherungs- und Schutzmaßnahmen zu schaffen. Ergänzend sind Sensibilisierungsmaßnahmen und Schulungen in Unternehmen durchzuführen, die sich sowohl an Führungskräfte als auch an Mitarbeitende richten.
Es ist deutlich leichter, auf betrieblicher oder institutioneller Ebene Beschwerdemechanismen einzuführen als im informellen Sektor, zum Beispiel in der Heim- oder Hausarbeit oder insgesamt in den Fällen, in denen kein schriftlicher Arbeitsvertrag zugrunde liegt. Staatlicherseits sind deshalb der Stärkung der Justiz, der Unterstützung Betroffener durch Rechtsbeistände sowie niederschwelliger sozialer, medizinischer und rechtlicher Hilfen eine hohe Priorität einzuräumen.
Sensibilisierungs- und Unterstützungsangebote müssen zugänglich und zugeschnitten sein für besonders vulnerable Gruppen. Nach den Ergebnissen der Studie sind dies vor allem junge Menschen, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, in dieser Gruppe vor allem Mädchen und Frauen. Und ganz wichtig: Ein Bekanntmachen und eine Anzeige dürfen sich nicht als Nachteil im Arbeitsalltag auswirken. Dieser Aspekt ist insbesondere in informellen Kontexten zentral, in denen ein Durchbrechen der Strukturen mit neuen Gefährdungen für die Menschen verbunden sein kann. Dies gilt umso mehr im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung. Hier sind neutrale Anlaufstellen und transparente unabhängige Verfahren das A und O.
C190 ist ein bindendes völkerrechtliches Übereinkommen. Ergänzt wird es durch die rechtlich nicht bindende ILO-Empfehlung 206, die den Mitgliedstaaten als Hilfe zur Umsetzung zur Verfügung steht und teilweise über die Konvention hinausgeht, zum Beispiel bei dem Recht auf Freistellung für Opfer im Falle eines Verfahrens oder bei der Anwendung flexibler Arbeitszeitmodelle, um Opfer von den als Täter oder Täterin identifizierten Personen fernzuhalten.
Ausblick
Es ist deutlich geworden, dass Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt über Ländergrenzen hinweg, aber auch über Kulturen, Religionen und Wertesysteme hinweg existieren. Gerade darum ist ein bindendes völkerrechtliches Instrument die richtige Antwort im Kampf gegen Gewalt und Belästigung sowie in der Prävention und Eindämmung von gewaltsamen Übergriffen. Die konkreten Maßnahmen dienen dazu, Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz aus dem Dunkelfeld zu holen und die Arbeitswelt sicher zu gestalten.
Mit C190 steht zudem ein völkerrechtliches Regelwerk zur Verfügung, das eine gemeinsame Grundlage auch in internationalen Lieferketten darstellt. Dies ist von großem Vorteil für Unternehmen, die in Lieferketten handeln oder produzieren oder Tochtergesellschaften im Ausland haben. C190 kann in diesen Zusammenhängen als Instrument der Interessenvertretung dienen – auch im Rahmen der Umsetzung von Sorgfaltspflichten in Lieferketten.
Gerade weil Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt eine so große Reichweite haben, kommt der ILO-Konvention eine „Convening Power“ (Fähigkeit, alle Beteiligten an einen Tisch zu bringen) zu. Denn auch in Ländern, in denen das Übereinkommen nicht ratifiziert ist, sollten Sozialpartner und andere Akteurinnen und Akteure auf die Konvention verweisen, um zu sensibilisieren und Unterstützungsmechanismen auf den Weg zu bringen.
Die Ergebnisse der globalen Studie nehmen sowohl die Staatengemeinschaft als auch die Sozialpartner in die Pflicht, Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt konsequent zu verfolgen und ihrer Entstehung vorzubeugen.
Quellen:
- International Labour Organization: Women and Men in the Informal Economy: A Statistical Picture, ILO, Genf 2018.
- International Labour Organization: Experiences of violence and harassment at work: A global first survey, ILO, Genf 2022.
- International Labour Organization: Übereinkommen 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, 108. Internationale Arbeitskonferenz, Genf 2019.
- International Labour Organization: Empfehlung 206 zu Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, 108. Internationale Arbeitskonferenz, Genf 2019.
- Niederfranke, A.; Löbel, L.-M.: Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt – ILO Übereinkommen 190. In: Arbeit und Recht. Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Ausgabe 10/2021, S. 392–396.