Gewaltunfälle am Arbeitsplatz – Zahlen aus der Unfallanzeigen-Statistik der DGUV
Die Arbeitsunfallanzeigen der gesetzlichen Unfallversicherung zeigen: Gewalt am Arbeitsplatz ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Frauen sind häufiger als Männer Opfer von Gewaltunfällen. Besonders viele Fälle gibt es im Gesundheits- und Sozialwesen sowie im öffentlichen Personenverkehr.
Gewaltunfälle sind ein vielschichtiges Phänomen mit einem breiten Formenspektrum. In den vergangenen Jahren ist es zu Recht zunehmend in den Fokus von Öffentlichkeit und Prävention gerückt.[1] Der vorliegende Beitrag beleuchtet den Stand und die Entwicklung der den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung gemeldeten Arbeitsunfälle mit Gewaltkontext. Basis dafür ist die Dokumentation der Unfallanzeigen der DGUV.
Kommt es in Arbeitskontexten zu Gewalt, werden in den meisten Fällen Straftatbestände verwirklicht, bei denen je nach Einzelfall zu prüfen ist, ob auch die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten sind. In den meisten Fällen wird die Erstattung einer Strafanzeige gemäß § 158 Strafprozessordnung (StPO) anzuraten sein. Die Polizeiliche Kriminalstatistik[2] weist seit Anfang des Jahrtausends einen kontinuierlichen Rückgang erfasster Fälle aus – die Straftaten mit Schusswaffen haben sich sogar mehr als halbiert. Diesen Trend bestätigen die den gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand gemeldeten Gewaltunfälle bisher nicht. Bis zum Berichtsjahr 2019 war für die meldepflichtigen Gewaltunfälle ein leicht ansteigender Trend zu konstatieren, der erst in den letzten beiden Berichtsjahren gebrochen zu sein scheint.
Die genauen Ursachen für diese gegenläufige Entwicklung der polizeilich registrierten Gewaltkriminalität und der Gewalt am Arbeitsplatz sind bisher nicht bekannt. Zwei mögliche Erklärungen bestehen darin, dass die Gewaltfälle außerhalb der Arbeit noch stärker zurückgegangen sind oder Arbeitsunfälle und angezeigte Straftaten zunehmend auseinanderfallen. Für diese These spricht eine zunehmende Meldebereitschaft, weil weite Teile der Gesellschaft nicht mehr bereit sind, vormals als „normal“ oder „üblich“ abgetane übergriffige Verhaltensweisen zu akzeptieren. Opfer von Gewalt – auch verbaler Gewalt und diskriminierendem Verhalten – nehmen die ihnen zustehenden Hilfs- und Heilungsangebote häufiger an.
Wird eine versicherte Person durch einen Arbeits- oder Wegeunfall verletzt, sodass sie für vier oder mehr Tage arbeitsunfähig ist oder sogar verstirbt, handelt es sich um einen meldepflichtigen Unfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung. Angaben zu diesen Unfällen werden durch die Unfallversicherungsträger für eine repräsentative Stichprobe verschlüsselt und finden Eingang in die Arbeitsunfallstatistik der DGUV. Damit ist die Arbeitsunfallstatistik die wichtigste nationale Quelle für arbeitsbezogene Unfälle und mithin auch für sämtliche Gewaltunfälle am Arbeitsplatz.
Die Gewaltunfälle lassen sich in der Unfallstatistik über das europaweit einheitliche Merkmal „Abweichung“ identifizieren. Dahinter verbirgt sich das den Unfall kennzeichnende, vom normalen unfallfreien Verlauf der Tätigkeit abweichende Ereignis. Anhand dieses Merkmals lassen sich Gewaltunfälle danach unterscheiden, ob der Angriff oder die Bedrohung von Beschäftigten des eigenen Unternehmens oder aber von betriebsfremden Personen ausgegangen ist. Zur Gruppe der Gewaltunfälle werden dabei gelegentlich auch Unfälle gezählt, die durch Tiere ausgelöst wurden oder durch Überraschung und Schreck der Unfallopfer. Aus Abgrenzungsgründen und da in der Regel sämtliche Unfälle überraschend auftreten, werden diese Unfälle hier nicht weiter betrachtet[3].
Zum Berichtsjahr 2021 wurden den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand und den gewerblichen Berufsgenossenschaften knapp 12.000 meldepflichtige Unfälle (Unfälle mit einer Arbeitsunfähigkeit von vier oder mehr Tagen) im Zusammenhang mit Gewalt gemeldet. Im überwiegenden Teil (70 Prozent) ging der Angriff oder die Bedrohung dabei von betriebsfremden Personen aus.
Für die Jahre bis 2019 gibt es eine Tendenz zur Zunahme dieser Unfälle, die sich in den Jahren 2020 und 2021 nicht fortsetzt. Inwieweit hierbei ein Zusammenhang zur SARS-CoV-2-Pandemie besteht, ist nicht leicht auszumachen und wird in den kommenden Jahren zu bewerten sein. In einigen Wirtschaftsbereichen wie der Gastronomie und Beherbergung ging das Arbeits- und Arbeitsunfallaufkommen pandemiebedingt stark zurück. In anderen Bereichen wie der Medizin und Pflege waren die Belastungen am Arbeitsplatz mindestens gleich hoch, wenn nicht gar höher als vor der Pandemie.
Bei der Betrachtung der Unfallzahlen sollte beachtet werden, dass die Dokumentation dieser Unfallhergänge auf Basis der zum Teil unvollständigen Angaben von Unfallanzeigen und Durchgangsarztberichten äußerst schwierig sein kann. Oftmals lassen sich aus den Unfallbeschreibungen die Zusammenhänge nicht klar einer der oben genannten Fallgestaltungen zuweisen. So können bei etwa 15 Prozent der hier betrachteten Unfälle keine näheren Angaben zur Gewalteinwirkung gemacht werden.
Wirtschaftsbereich und Berufe
Gewaltunfälle spielen in einigen Branchen eine viel größere Rolle als in anderen. 40 Prozent der im Berichtszeitraum 2017 bis 2021 gemeldeten Gewaltunfälle (26.082 meldepflichtige Unfälle) am Arbeitsplatz sind dem Wirtschaftsbereich Gesundheits- und Sozialwesen zuzuordnen. In der Versorgung von Kranken und im Pflegebereich kommt es immer wieder zu Situationen, bei denen Versicherte von Betreuten, Patientinnen, Patienten oder Angehörigen angegriffen werden. Weitere Branchen mit hohem Fallaufkommen sind in Abbildung 2 dargestellt. Typische Konstellationen im Bereich Verkehr und Lagerei (10.145) sind Angriffe auf Beschäftigte im öffentlichen Personenverkehr, zu dem Taxis, Busse und Züge sowie Straßenbahnen gehören.
Überfälle auf Tankstellen und andere Einzelhandelsunternehmen, insbesondere kurz vor Ladenschluss, betreffen den Bereich Handel (5.557). Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Sicherheitsunternehmen finden sich im Wirtschaftsbereich N wieder. Er umfasst die Erbringung von sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen (7.768).
Neben den absoluten Zahlen der Gewaltunfälle nach Wirtschaftsbereich zeigt Abbildung 2 auch den Anteil der Gewaltunfälle an allen meldepflichtigen Arbeitsunfällen. Das Gesundheits- und Sozialwesen hat demnach auch relativ gesehen den höchsten Anteil an gewaltbedingten Unfällen: 6,9 Prozent der Arbeitsunfälle dieses Wirtschaftsbereichs sind Gewaltunfälle. Es folgen die Bereiche Erziehung und Unterricht (3,6 Prozent), öffentliche Verwaltung (2,6 Prozent) und die Erbringung sonstiger wirtschaftlicher Dienstleistungen (2,5 Prozent). Insgesamt über alle Branchen hinweg liegt der Anteil von Gewaltunfällen am Arbeitsplatz bei 1,7 Prozent der meldepflichtigen Arbeitsunfälle.
Die Betrachtung der Gewaltunfälle nach der Größe der Betriebe (Abbildung 3) ist ein Spiegel der Verteilung nach den Wirtschaftsbereichen. Im Gesundheits- und Sozialwesen gibt es viele Betriebe mit einer hohen Zahl an Mitarbeitenden, sodass die Quote der Gewaltunfälle auch hier durchschlägt.
Parallel zu den Wirtschaftsbereichen ist auch in bestimmten Berufen und Berufszweigen das Risiko, einen Gewaltunfall zu erleiden, deutlich höher als in anderen Tätigkeitsfeldern. Abbildung 4 gibt jeweils die absolute Anzahl und den Anteil der Gewaltunfälle nach der beruflichen Tätigkeit an. Krankenpflege und Geburtshilfefachkräfte (9.601 meldepflichtige Arbeitsunfälle durch Gewalt) sind neben den Schutzkräften und Sicherheitsbediensteten (6.913) mit den höchsten absoluten Zahlen betroffen. Es folgen die Beschäftigten in der Kinder- und Lernbetreuung (6.582), Betreuungsberufe im Gesundheitswesen (5.956), Verkaufskräfte (4.803) sowie die Fahrerinnen und Fahrer schwerer Lkw und Busse (3.524).
Bei den Berufen der Reise- und Zugbegleitung kam es in fünf Jahren zu 2.907 meldepflichtigen Gewaltunfällen, allerdings fällt hier der hohe Anteil auf, den diese Unfälle an allen gemeldeten Arbeitsunfällen dieser Berufsgruppe ausmachen. Ein Viertel aller Unfälle sind demnach Gewaltunfälle – ähnlich hoch ist dieser Anteil noch bei den Schutzkräften und Sicherheitsbediensteten (21 Prozent). Hohe Anteile verzeichnen weiterhin Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Seelsorgerinnen und Seelsorger (12 Prozent) sowie die sogenannten „nicht akademischen juristischen, sozialpflegerischen und religiösen Berufe“ (12 Prozent) – hierzu gehören unter anderem Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher sowie Justizbedienstete.
Geschlecht
Bei der Verteilung der Gewaltunfälle nach Alter und Geschlecht ist vor allem der hohe Anteil weiblicher Betroffener bemerkenswert. Bei ihnen steht jeder dreißigste Arbeitsunfall im Zusammenhang mit Gewalt, bei den Männern nur jeder neunzigste. Die Betrachtung nach dem Alter liefert dagegen ein ziemlich ausgeglichenes Bild, bei den Berufsneulingen sind Meldungen von Gewaltunfällen relativ gesehen seltener. Bei den weiblichen Versicherten ist der Anteil von Gewaltunfällen im Alter zwischen 25 und 29 Jahren am höchsten und nimmt dann mit zunehmendem Alter ab, bleibt aber immer über dem Niveau der männlichen Versicherten.
Bundesland
Der Anteil der Gewaltunfälle ist in den Bundesländern unterschiedlich.[4] Das hängt vor allem mit den unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen und dem Grad der Urbanisierung zusammen. Die drei Stadtstaaten haben die höchste Quote an Arbeitsunfällen: In Berlin sind 3,6 Prozent der gemeldeten Unfälle Gewaltunfälle, in Bremen sind es 3,2 Prozent und in Hamburg noch 2,5 Prozent. Mit einem Anteil von 1,9 Prozent Gewaltunfälle folgt das am dichtesten besiedelte Flächenland Nordrhein-Westfalen (1,9 Prozent) vor Hessen und Sachsen (beide 1,8 Prozent).
Die geringsten Anteile an Gewaltunfällen sind in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen zu verzeichnen (jeweils 1,1 Prozent).
Wochentag
Eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Auswertung ist die Analyse der Gewaltunfälle nach dem Wochentag des Angriffs (Abbildung 7). Absolut gesehen werden an den Tagen in der Mitte der Werkwoche (Dienstag bis Donnerstag) die meisten Gewaltunfälle gemeldet. An Montagen und an Freitagen ist das Aufkommen etwas geringer, am Wochenende sind es noch einmal weniger Fälle. Der wichtigste Grund liegt darin, dass weniger Beschäftigte am Wochenende arbeiten.
Gleichzeitig liegt aber der Anteil der Gewaltunfälle an allen Arbeitsunfällen am Wochenende deutlich höher als an den restlichen Tagen. Dies ist sicherlich in den relativ hohen Fallzahlen im Gesundheits- und Sozialwesen begründet, denn in den Pflege- und Betreuungsberufen wird in der Regel in Schichten und 365 Tage im Jahr gearbeitet. An Sonntagen liegt der Anteil sogar noch einmal höher: 6,4 Prozent aller meldepflichtigen Arbeitsunfälle sind dem Bereich Gewalt, Angriff, Bedrohung zuzuordnen.
Verletzungen und psychische Gewalt
Die hier dargestellten Gewaltunfälle lassen sich auch nach der Art der Verletzung differenzieren. Es wird dabei immer nur die schwerste der vorliegenden Verletzungen betrachtet. In 17,9 Prozent der Fälle wurde als erste schwerste Verletzung eine psychische Verletzung diagnostiziert. Darunter sind neben Fällen von verbaler Gewalt auch solche, bei denen Versicherte zum Beispiel Zeuge eines Gewaltangriffs werden und dadurch psychische Verletzungen erleiden.
Häufigste Verletzungsart im Untersuchungszeitraum 2017 bis 2021 sind Erschütterungen und Oberflächenprellungen (44.376 meldepflichtige Gewaltunfälle), gefolgt von Schockzuständen und psychischen Verletzungen (22.497), (Dis-)Torsionen (20.196) und Zerreißungen (17.913). In immerhin 9.194 Fällen kam es in der Folge des Angriffs zu einer Frakturverletzung.
Fazit
Gewalt am Arbeitsplatz ist auch weiterhin ein weitverbreitetes Problem, das in sehr unterschiedlichen Formen auftritt: Frauen sind häufiger betroffen als Männer; das Gesundheits- und Sozialwesen stärker als andere Branchen und in Stadtstaaten liegt der Anteil der Gewaltunfälle höher als in Flächenländern. Entsprechend vielfältig sind auch die Folgen für die Betroffenen und die Unternehmen. Etwa 12.000 Arbeitsunfälle aufgrund von Gewalt, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von vier oder mehr Tagen geführt haben, werden den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung jährlich gemeldet. Die in der Vergangenheit zu konstatierende steigende Tendenz wurde in den letzten beiden vorliegenden Berichtsjahren gebrochen. Inwieweit es sich dabei lediglich um einen Nebeneffekt der SARS-CoV-2-Pandemie handelt, wird sich erst in der Zukunft zeigen.