Beleidigt, bedroht, geschlagen

Beschäftigte im Zuständigkeitsbereich der Unfallversicherung Bund und Bahn (UVB) sind immer wieder Übergriffen ausgesetzt: ob Kundenbetreuerin bei der Deutschen Bahn AG, Einsatzkräfte des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) oder Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit (BA). Wie und wo kann die Prävention ansetzen, um Betriebe und Verwaltungen sowie Beschäftigte zu unterstützen?

Daniel W. ist unterwegs – und sauer: Er hat seine FFP2-Maske vergessen und ist trotzdem in den Zug gestiegen, damit er es rechtzeitig zur Arbeit schafft. Die S-Bahn ist fast leer. Die Kundenbetreuerin der Bahn, Christine M., spricht ihn an: Daniel W. solle die Bahn verlassen, weil er keine Maske dabei habe.  Daniel W. fühlt sich ungerecht behandelt. Mit einem Gespräch will er die Situation klären. Doch die Lage ist eindeutig: Daniel W. muss die S-Bahn am nächsten Halt verlassen. Da dreht er durch. Er greift die Kundenbetreuerin Christine M. an und schlägt mehrmals auf sie ein. Ein Reisender kann Hilfe holen. Daniel W. wird mit Hilfe von zufällig anwesenden Beschäftigten der DB-Sicherheit GmbH überwältigt und der Polizei übergeben. Christine M. ist schwer verletzt.

Schwere Angriffe wie dieser sind glücklicherweise die Ausnahme. Doch fast täglich werden Zugbegleiter angegriffen, Triebfahrzeugführerinnen angepöbelt, Beschäftigte beim Zoll bedroht und Mitarbeitende der Bundesagentur für Arbeit bespuckt. Auch Polizei und Rettungskräfte werden im Einsatz angegriffen und an ihrer Arbeit gehindert. Stichschutzwesten und Tierabwehrspray als Ersatz für Pfefferspray gehören für einige mittlerweile zur Standardausrüstung. Dass Übergriffe und Gewalt bei der Deutschen Bahn (DB) nicht nur gefühlt zunehmen, zeigen die neuesten Zahlen.

Vor allem die Durchsetzung der pandemiebedingten Verhaltensregeln hat zu erhöhtem Konfliktpotenzial im Kontakt mit Kundinnen und Kunden geführt. Von Januar 2022 bis Ende September 2022 kam es zu 2.325 Übergriffen auf DB-Beschäftigte, wie eine Sprecherin der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) dem RND Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte. Es sei davon auszugehen, dass die Gesamtzahl im Jahr 2022 höher liegen werde und die Zahl des Vorjahres – 2.582 Übergriffe – „deutlich übersteigen wird“ [1]. Auch die DGUV berichtet von weiter hohen Zahlen: Die Anzahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle bei abhängig Beschäftigten in Deutschland aufgrund von menschlicher Gewalt, Angriff und Bedrohung ist seit einigen Jahren konstant hoch, 2021 lag sie bei 13.369 Fällen (siehe auch in dieser Ausgabe: „Gewaltunfälle am Arbeitsplatz – Zahlen aus der Unfallanzeigen-Statistik der DGUV“).

Hohe Dunkelziffer

Dabei wird das Ausmaß der Ereignisse von der Unfallstatistik nicht vollständig erfasst, fließen dort doch nur die meldepflichtigen Unfälle ein. Das sind solche Ereignisse, bei denen die Beschäftigten mehr als drei Tage am Arbeitsplatz ausfallen. Die tatsächliche Anzahl an belastenden Vorfällen, wie beispielsweise durch Beschimpfung oder Bedrohung, dürfte also deutlich höher liegen. Beschäftigte berichten, dass sie es nicht mehr schafften, jede belastende Konfrontation aufgrund der hohen Anzahl statisch zu erfassen, da Konfrontationen mittlerweile Alltag seien. „Gewaltereignisse gehen an vielen Menschen aber nicht spurlos vorüber. Es drohen psychische Erkrankungen und Arbeitsunfähigkeit. Sowohl im Bund als auch bei der Bahn wurden bereits gut funktionierende Betreuungskonzepte entwickelt“, sagt Judith Treiber, Psychologin und Traumaexpertin der UVB (Quelle: im Gespräch mit der Autorin). Doch nicht alle Unternehmen sind für das Thema ausreichend sensibilisiert. Bevor Präventionsmaßnahmen umgesetzt werden, muss der Unternehmer oder die Unternehmerin den Blick für das Risiko schärfen.

Risikofaktor Kundenkontakt

Besonders gefährdet für Gewalt am Arbeitsplatz sind Menschen, die beispielsweise in der Fahrkartenkontrolle, im Jobcenter, als Zugbegleitservice, bei der Bundespolizei oder als Rettungskräfte arbeiten. Der direkte Kontakt zu Menschen ist also ein wesentlicher Risikofaktor, der in der Regel aber nicht zu vermeiden ist. Wie bei allen anderen Gefährdungen gilt auch hier das TOP-Prinzip: Technische Maßnahmen müssen zuerst geprüft werden, anschließend organisatorische und personenbezogene Maßnahmen. „Erster Schritt ist immer die Gefährdungsbeurteilung“, erklärt Treiber. „Ein grobes Instrument zur Gefährdungsbeurteilung stellt die Prüfliste Psychotrauma der Unfallversicherung Bund und Bahn (UVB) dar. Mit dem Aachener Modell gibt es auch ein tiefer gehendes Verfahren, das neben der Gefährdungsbeurteilung konkrete Maßnahmen für ein Sicherheitskonzept bereithält.“ Technische Maßnahmen können beispielsweise Bodycams, geeignete Alarmierungsmöglichkeiten, veränderte Gestaltung von Räumlichkeiten mit Fluchtwegen zur Eigensicherung oder ergänzender Schutz durch einen Sicherheitsdienst und die Polizei sein. Einstieg in jedes Sicherheitskonzept ist die Grundsatzerklärung des Unternehmers beziehungsweise der Unternehmerin gegen Gewalt. Es ist deren Selbstverpflichtung, ihre Beschäftigten vor Übergriffen zu schützen und keine Gewalt von Kunden und Kundinnen zu tolerieren. Es folgt eine Einschätzung der Gefährdungslage – für jede Tätigkeit werden daraus Sicherheitsstandards abgeleitet, Verhaltensempfehlungen für bedrohliche Situationen herausgegeben und eine psychosoziale Nachsorge geregelt. 

Wenn etwas passiert, benötigen die Betroffenen schnelle Hilfe. Wie körperliche Verletzungen müssen auch psychische Wunden gut versorgt werden, damit sie sich nicht verschlimmern. „Ängste, Unsicherheitserleben und körperliche Symptome wie Zittern, Schwindel und Herzrasen sind Anzeichen für seelische Wunden. Ziel einer psychologischen Ersten Hilfe ist es, diese akuten Stressreaktionen zu verringern und das Sicherheitsgefühl der Betroffenen wieder herzustellen“, erklärt Treiber. Eine psychologische Erste Hilfe sollte ereignisnah erbracht werden, am besten bis zu 48 Stunden nach einem Übergriff. Die Hilfe kann entweder durch speziell ausgebildete Beschäftigte des Betriebs oder durch externe Dienstleister erfolgen. Die UVB bildet in Seminaren Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus, die das Konzept der psychologischen Ersten Hilfe in ihre Betriebe tragen und dort umsetzen sollen. In den Tagen nach dem Ereignis sollte das Unternehmen weitergehende psychologische Hilfen durch psychosoziale Fachkräfte zur Verfügung stellen. Und: Wenn es den Betroffenen gesundheitlich nicht gut geht, sollte eine Unfallanzeige gestellt werden. Bei mehr als drei Tagen Arbeitsunfähigkeit ist eine Unfallanzeige sogar Pflicht. Die UVB sorgt dann gemeinsam mit spezialisierten Fachleuten dafür, dass die Betroffenen wieder gesund und arbeitsfähig werden.

Unternehmen und Betriebe stehen beim Thema Gewalt also oft vor vielen Fragen: Wie können traumatische Ereignisse verhindert werden? Was muss in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden? Welche Maßnahmen sind nach einem traumatischen Ereignis geeignet, um die Betroffenen psychologisch unterstützen zu können? Wie kommen wir an Hilfen durch die UVB? „Es gibt viele unterschiedliche Fragestellungen und die Beratung muss individuell auf die Bedürfnisse und Rahmenbedingungen des einzelnen Betriebs zugeschnitten sein“, stellt Jan Hetmeier, Abteilungsleiter Fachreferate Arbeitsschutz und Prävention bei der UVB, klar. „Deshalb unterstützen wir nachhaltig und mit einer umfassenden Beratung durch unsere Aufsichtspersonen und beispielsweise auch eine Psychologin in der Prävention.“

Auch unterstützt die UVB Projekte und Initiativen der Unternehmen und Betriebe, die sich für mehr Sicherheit und Gesundheit einsetzen. Ein Beispiel ist der Verein „HELFER sind TABU!“, in dem sich verschiedene Organisationen – Deutsches Rotes Kreuz, Malteser Hilfsdienst, Johanniter-Unfall-Hilfe, Arbeiter-Samariter-Bund, Feuerwehr und Polizei – zusammengeschlossen haben, um Daten zum Thema Gewalt zu erfassen. So entstanden ein bisher einzigartiges Erfassungs- und Auswertetool sowie ein umfassender Datenpool. Mithilfe der Daten wurden Präventionsmaßnahmen zur Verhütung von gewalttätigen Übergriffen gegen Einsatzkräfte abgeleitet, die generell oder spezifisch für einzelne Organisationen sinnvoll sind. 

Unterstützung durch die UVB bei der Ausbildung psychologischer Ersthelferinnen und Ersthelfer hat beispielsweise die DB Sicherheit GmbH erhalten. „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der DB Sicherheit GmbH sehen und erleben in ihrer Dienstzeit Übergriffe, Angriffe, Suizide, Leichenfunde und vergebliche Reanimationen oder natürlich auch Großschadensereignisse“, berichtet Uwe Rumpel, psychosoziale Fachkraft bei der DB Sicherheit GmbH. „Das macht ja etwas mit diesen Menschen.“ Mit finanzieller und planerischer Unterstützung der UVB wurden beispielsweise Schulungen im Raum Nordrhein-Westfalen ermöglicht. 

Wenn Menschen traumatische Ereignisse erleben, können psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen entstehen. Die UVB unterstützt hier in allen Fragen zum Thema, um eine nachhaltige Prävention umsetzen zu können und die Versicherten zu schützen.