„Auch das Positive immer wieder erwähnen“
Um die Mitarbeitenden des Jobcenters StädteRegion Aachen vor Gewalt und Übergriffen zu schützen, wurde 2008 das Modellprojekt abba gestartet. Im Rahmen des Projekts wurden Daten zu Gewaltvorfällen erhoben. Die Ergebnisse dienen bis heute als Grundlage für technische, organisatorische und personelle Präventionsmaßnahmen.
Warum sind Sie damals mit in das Projekt eingestiegen?
Graaf: Ich habe das Thema Gewalt, Prävention und Sicherheitsgefühl schon immer als sehr wichtig erachtet. Mittlerweile sehe ich das durch die gesellschaftlichen Veränderungen und auch den immer mehr aufkommenden Druck über soziale Medien als dauerhafte Führungsaufgabe. Denn wir müssen es ermöglichen, dass die Kolleginnen und Kollegen vernünftig arbeiten können.
Was haben Sie aus dem abba-Projekt mitgenommen?
Graaf: Zum einen unser eigenes Sicherheitskonzept. Wir sind mittlerweile hoch sensibilisiert für das Thema. Ich habe immer gesagt, wenn es etwas mehr kostet, dann ist das so. Natürlich haben wir Sicherheitsknöpfe und Systeme am PC, aber sehr viel ist auch in Sachen Schulungen passiert: deeskalierende Gesprächsführung, Menschen abholen oder beruhigen. Da investieren wir bis zum heutigen Tage viel.
Schallenberg: Das abba-Konzept ist für uns immer noch die Grundlage, worauf wir unsere Handlungskonzepte aufbauen. Wir haben grundlegende Dinge angepasst: vor allem räumlich, also Eingänge und Fluchtwege mit mehr Schutz im Eskalationsfall. Außerdem ein möglichst freundlicher Empfang und weniger Wartezeiten, damit die Stimmung entspannt bleibt. Und die Zahlen geben uns recht: Vollendete Übergriffe, wo es zu einem tätlichen Übergriff auf Kolleginnen und Kollegen kam, hatten wir schon länger nicht mehr.
Wie kann ich mir das mit dem Sicherheitsdienst genau vorstellen?
Schallenberg: Die Kundinnen und Kunden kommen zum Beispiel in unserem Neubau in Alsdorf nicht bis in den Bürotrakt. Der Sicherheitsdienst begrüßt sie unten im Haus, erklärt ihnen, wo sie lang müssen, gibt den Kolleginnen und Kollegen Bescheid und dann werden sie in der Wartezone abgeholt. Wir stellen zwei positive Aspekte fest: Punkt eins ist, dass wir keine unbegleiteten Gäste im Haus haben. Zusätzlich fühlen sich die Kundinnen und Kunden wie vom Gastgeber abgeholt.
Sehen Sie das Thema Prävention von Übergriffen heute mit anderen Augen?
Graaf: Es hat sich alles Mögliche weiterentwickelt. Heute haben wir eine völlig veränderte Kundenstruktur ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Da stehen die Kolleginnen und Kollegen auch vor großen emotionalen Herausforderungen, haben immer mehr Kundinnen und Kunden, die Kriegstraumata haben und psychisch sehr beeinträchtigt sind. Hier trotzdem eine gute Willkommenskultur zu schaffen, ist eine Herausforderung. Im Moment haben wir das gut im Blick. Gleichwohl muss sich jeder darüber im Klaren sein, dass es keinen hundertprozentigen Schutz gibt. Aber im Rahmen des vertretbaren möglichen Aufwands fühlen sich viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr sicher.
Was sind die häufigsten Vorfälle, mit denen Sie es aktuell zu tun haben?
Graaf: Es sind in der Regel Bedrohungen und Beleidigungen.
Schallenberg: Das ist auch so ein bisschen die Entwicklung in der Gesellschaft. Das größte Thema sind verbale Entgleisungen. Die Sprache verroht und das bemerken die Kolleginnen und Kollegen sehr stark.
Wie sind die Abläufe nach einem Vorfall?
Schallenberg: Es gibt zwei Arten von Verletzungen: körperliche und seelische. Für die körperlichen Verletzungen gibt es seit vielen Jahren Ersthelfende. Es gibt vorgegebene Prozentsätze für die Anzahl der Ersthelfenden, die man erfüllen muss. Da liegen wir immer darüber. Da sind wir sehr stolz auf die Kolleginnen und Kollegen, dass sie das als wichtige Aufgabe identifiziert haben und sich da zur Verfügung stellen.
Seit einigen Jahren haben wir auch ein gutes Netzwerk von Kolleginnen und Kollegen ausgebildet, die wir regelmäßig fortbilden als psychologische Ersthelfende. Wir haben 14 Kolleginnen und Kollegen quer durch die Städteregion verteilt und die können bei uns zentral abgerufen werden. Die psychologischen Ersthelfenden werden aber überraschend wenig in Anspruch genommen, das ist auch Teil der Wahrheit. Wir bieten Hilfe an, aber zwingen diese nicht auf.
Gibt es da vielleicht auch Hemmschwellen?
Schallenberg: Ja, es scheint so. Einen Verband nehme ich gerne, aber zu sagen, das hat mich jetzt psychisch so belastet, dass ich ein Hilfsangebot wahrnehme, geschieht im Vergleich immer noch zögerlich. Oft stehen die Betroffenen dann drei Wochen später da und benötigen therapeutische Unterstützung. Wir achten daher sehr stark darauf, immer eine Unfallanzeige auszufüllen. Hier hat sich viel verbessert, dass auch psychische Belastungen eben als „Verletzung“ wahrgenommen werden.
Was sind für Sie die notwendigen Schritte, um psychische Gesundheit in der Arbeitswelt weiter zu stärken? Was müssen wir alle tun?
Graaf: Man muss das Thema weiter als Führungsthema identifizieren und dann in all seinen Facetten immer sensibel sein. Und sich mit Kolleginnen und Kollegen hinsetzen und überlegen, wie wir jetzt auch auf Lageentwicklungen reagieren können. Dadurch, dass die Welt so agil und schnelllebig geworden ist, gibt es kein Patentrezept, sondern wir müssen lernen, die Organisation so agil aufzustellen, dass wir immer schneller und flexibler werden. Wir werden mit Krisen und Kriegen leben müssen. Wir müssen uns auf diese Agilität einlassen, wir sind Teil dieser Welt, dieser Gesellschaft.
Das neue Mindset „Das Glas ist halb voll und nicht halb leer“?
Schallenberg: Ja, nicht immer nur auf das Negative schauen. Herr Graaf hatte mal auf einer Mitarbeiterversammlung gesagt, wir reden so viel über die drei Prozent unserer schwierigen Kunden, aber wir haben doch 97 Prozent, die gut mitmachen und unauffällig sind – da reden wir nie drüber.
Graaf: Darauf sollten wir insgesamt stärker den Fokus setzen. Das Positive auch immer wieder zu erwähnen. Sonst ziehen wir uns alle in einer Abwärtsspirale nach unten.
Das Interview führte Katrin Päßler, leitende Fachkraft für Arbeitssicherheit, Stadt Aachen. Sie war zu Zeiten des Projekts als Aufsichtsperson bei der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen (UK NRW) beschäftigt und leitete das Projekt.
Lesen Sie auch den Beitrag dieser Ausgabe „Mit abba gegen psychische Belastung und Gewalt in Jobcentern“.