ICF-basierte Prädiktion des Outcomes in der Rehabilitation nach Trauma
Wie arbeitsfähig sind Menschen mit schweren muskuloskeletalen Verletzungen sechs Monate nach ihrer ersten stationären Rehabilitation? Dieser Beitrag stellt die Zwischenergebnisse einer Längsschnittstudie zur Prognose der Arbeitsfähigkeit vor.
Funktionsfähigkeit und Kontextfaktoren sind die zentralen Elemente des bio-psycho-sozialen Modells der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Diese sollen entsprechend dem Handlungsleitfaden der DGUV neben der Diagnose in der Steuerung des Reha-Managements berücksichtigt werden. Entscheidend ist dabei, aus der Vielzahl der in der ICF zur Verfügung stehenden Aspekte diejenigen zu selektieren, die den Rehabilitationserfolg und im Speziellen die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit maßgeblich beeinflussen.
Hintergrund
Jährlich werden knapp 1,7 Millionen Menschen nach Verletzungen im Krankenhaus behandelt.[1] In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um leichtere Verletzungen, die ausschließlich einer ambulanten oder kurzen stationären Behandlung bedürfen. Allerdings geht aus dem Jahresbericht 2020 des TraumaRegister DGU® der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) hervor, dass jährlich etwa 30.000 Personen eine schwere Verletzung entsprechend der Schwerverletzten-Definition des TraumaRegister DGU® erleiden.[2] Mit einer Letalität von Traumapatientinnen und Traumapatienten von unter zehn Prozent[3] stellt sich nicht mehr nur die Frage, ob eine Person ein schweres Trauma überlebt, sondern auch wie sie dieses überlebt, ob eine Rückkehr in den Arbeitsprozess möglich ist und welche Faktoren diese Rückkehr beeinflussen.
In der wissenschaftlichen Literatur mangelt es an konsistenter Evidenz hinsichtlich relevanter Einflussfaktoren zur Vorhersage der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nach traumatischen Verletzungen. Neben der Verletzungsschwere und den physischen Beeinträchtigungen haben sowohl personbezogene als auch soziodemografische Aspekte sowie soziale und mentale Faktoren einen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit.[4][5][6][7][8][9][10] Vereinzelt wird in diesen Studien eine ganzheitliche Sichtweise berücksichtigt und damit die unfallverletzte Person mit ihrem beruflichen, sozialen und persönlichen Hintergrund betrachtet. Allerdings unterscheiden sich diese Studien hinsichtlich ihrer methodischen und konzeptionellen Umsetzung sowie in der Auswahl der analysierten Einflussflussfaktoren (Prädiktoren).
Die ICF[11] bietet mit ihrer bio-psycho-sozialen Perspektive eine Systematik, die die ganzheitliche Sicht auf Patientinnen und Patienten unterstützt. Neben Körperfunktionen und -strukturen, Aktivitäten und Teilhabe – in der ICF subsumiert unter „Funktionsfähigkeit“ – bezieht die Perspektive der ICF mit Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren auch „Kontextfaktoren“ mit ein.[12]
Bislang mangelt es an einer wissenschaftlichen Studie, die ein umfassendes und ganzheitliches Konzept, wie es die ICF bereitstellt, bei der Auswahl, Erfassung und Analyse von Einflussfaktoren auf die Arbeitsfähigkeit schwer verletzter Personen systematisch berücksichtigt.
In diesem Beitrag werden Zwischenergebnisse einer Sechs-Monats-Nacherhebung der im Rahmen des Projektes icfPROreha durchgeführten Längsschnittstudie vorgestellt, die darauf abzielt, unter Berücksichtigung der bio-psycho-sozialen Perspektive Einflussfaktoren zur Prognose des Status der Arbeitsfähigkeit von Personen mit schweren muskuloskeletalen Verletzungen nach Entlassung aus der ersten stationären unfallchirurgisch-orthopädischen Rehabilitation zu identifizieren.
Methoden
Das Forschungsvorhaben „ICF-basierte Prädiktion des Outcomes in der Rehabilitation nach Trauma – icfPROreha“ ist ein von der DGUV gefördertes Verbundvorhaben der Abteilung BG Rehabilitation der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklink Murnau und des Lehrstuhls für Public Health und Versorgungsforschung, Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie von neun weiteren kooperierenden Kliniken. Das Vorhaben zielt darauf ab, für Patienten und Patientinnen mit schweren muskuloskeletalen Verletzungen Aspekte der Funktionsfähigkeit und Kontextfaktoren zu identifizieren, die eine frühzeitige – das heißt bei Aufnahme in die stationäre unfallchirurgisch-orthopädische Rehabilitation – Prognose der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit beziehungsweise der Dauer der Arbeitsunfähigkeit ermöglichen. Zudem wird der Zusammenhang zwischen Arbeitsfähigkeit, Funktionsfähigkeit und Lebensqualität untersucht. Die Umsetzung von icfPROreha erfolgt über 55 Monate (April 2017 bis Oktober 2021) und gliedert sich in vier Projektphasen (Abbildung 1).
Studiendesign
In Phase 3 von icfPROreha wurde in Zusammenarbeit mit den beteiligten Kliniken eine multizentrische Längsschnittstudie durchgeführt, in der mithilfe eines standardisierten Erhebungsinstrumentariums Aspekte der Funktionsfähigkeit und Kontextfaktoren in der stationären Rehabilitation von Personen mit schweren muskuloskeletalen Verletzungen systematisch erfasst und eine Datenbasis zur Durchführung von Prädiktionsanalysen der Zielgröße Arbeitsfähigkeit generiert wurde.
Studienpopulation
In die Studie eingeschlossen wurden schwer verletzte Personen, die von August 2018 bis Dezember 2019 in die Rehabilitationsabteilungen oder -zentren einer der beteiligten Kliniken stationär aufgenommen wurden und dabei folgende Einschlusskriterien erfüllten: (1) Alter: 18 bis 65 Jahre, (2) Diagnose gemäß Verletzungsartenverzeichnis (VAV) der DGUV[13], (3) erste stationäre unfallchirurgisch-orthopädische Rehabilitation seit Unfall oder Verletzung, (4) Aufnahme in die stationäre unfallchirurgisch-orthopädische Rehabilitation innerhalb von 16 Wochen nach Unfall oder Verletzung. Personen mit Verletzungen der großen Nervenbahnen einschließlich Wirbelsäulenverletzungen mit neurologischer Symptomatik sowie Patienten und Patientinnen mit Schädel-Hirn-Verletzungen (ab SHT Grad II) wurden ausgeschlossen.
Erhebungsinstrument
In der Längsschnittstudie kam ein umfassendes Erhebungsinstrumentarium zum Einsatz, das in den Projektphasen 1 und 2 (Abbildung 1) unter Berücksichtigung der Ergebnisse von Literaturübersichten und Expertenbefragungen durch eine im Projekt etablierte Arbeitsgruppe entwickelt wurde (Tabelle 1). Die 47 potenziellen Einflussfaktoren wurden unter anderem über verschiedene standardisierte Fragebögen erfasst, wie zum Beispiel die Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Partizipation über den WHO Disability Assessment Schedule (WHODAS 2.0)[14], die Primärpersönlichkeit über den Persönlichkeitsfragebogen Big Five Inventory (BFI)[15] und die Lebensqualität über den EuroQol five dimensions (EQ-5D)[16].
Datenerhebung
Teilnehmende der Studie füllten den Erhebungsbogen zur Erfassung der Einflussfaktoren nach Aufnahme in die stationäre Rehabilitation in elektronischer Form auf einem Tablet aus. Weitere Erhebungszeitpunkte waren bei Entlassung aus der Rehabilitation sowie per telefonischer Nachbefragung 3, 6, 12 und 18 Monate nach Entlassung, zu denen die Zielgröße Status der Arbeitsfähigkeit erhoben wurde.
Datenanalyse
In einem ersten Schritt wurden alle Fälle mit einem bekannten Status der Arbeitsfähigkeit (ja versus nein) zum Zeitpunkt sechs Monate nach Entlassung aus der Rehabilitation identifiziert und die Daten anschließend deskriptiv analysiert. Zur Prognose der Arbeitsfähigkeit wurde eine logistische Regression durchgeführt.
Ergebnisse
Von den 775 in die Studie eingeschlossenen Patienten und Patientinnen lagen vollständige Daten von 713 Personen vor. In Tabelle 2 sind ausgewählte Ergebnisse der deskriptiven Analysen aufgeführt.
Gemäß VAV waren schwere Verletzungen großer Gelenke (VAV 7) sowie komplexe Brüche der großen Röhrenknochen (VAV 6), gefolgt von Brüchen des Gesichtsschädels und des Rumpfskeletts (VAV 9) die am häufigsten erlittenen Verletzungen. Abbildung 2 zeigt die Verteilung der Diagnosen nach der obersten Hierarchieebene des VAV in absoluten Zahlen.
Sechs Monate nach der Entlassung waren 395 (55,4 Prozent) der Patienten und Patientinnen arbeitsfähig. Geschlechtsspezifisch betrachtet zeigte sich bei den Frauen ein um annähernd zehn Prozent höherer Anteil an arbeitsfähigen Personen (Abbildung 3).
Von den 47 potenziellen Einflussfaktoren wurden die folgenden acht Prädiktoren als relevant für die Prognose des Status der Arbeitsfähigkeit zum Zeitpunkt sechs Monate nach Entlassung aus der stationären Rehabilitation identifiziert: Geschlecht, schulische Bildung, Schwere der Verletzung, subjektive Erwerbsprognose (Selbsteinschätzung der Arbeitsfähigkeit [AF] in einem Jahr), Belastungsschmerz, Behandlung vor Rehabilitation (Bedarf an Ergotherapie), Beeinträchtigung in Aktivitäten und Partizipation sowie Primärpersönlichkeit.
Den Analysen zufolge ist die subjektive Erwerbsprognose bei Aufnahme in die stationäre Rehabilitation ein starker Prädiktor für den Status der Arbeitsfähigkeit. Personen, die es zu Beginn der Rehabilitation als „unwahrscheinlich“ einschätzten, in einem Jahr wieder arbeitsfähig zu sein, hatten verglichen mit Patienten oder Patientinnen, die dies als „ziemlich sicher“ beurteilten, eine um 78 Prozent verringerte Chance, zur Sechs-Monats-Nacherhebung ihre Arbeitsfähigkeit wieder erlangt zu haben.
Weiter reduzierte eine bei Aufnahme in die Rehabilitation vorliegende hohe Beeinträchtigung in Aktivitäten und Partizipation die Chance, ein halbes Jahr nach Entlassung arbeitsfähig zu sein. Ein um 10 Punkte erhöhter Score im WHODAS 2.0 (Score von 0 bis 100, höhere Werte stehen für eine höhere Beeinträchtigung) verringerte die Chance der Arbeitsfähigkeit um 20 Prozent. Weitere Ergebnisse der logistischen Regressionsanalyse sind in Tabelle 3 dargestellt.
Diskussion und Ausblick
Dieser Beitrag berichtet über die ersten Zwischenergebnisse der im Rahmen des Projektes icfPROreha durchgeführten Längsschnittstudie und fokussiert dabei darauf, die zum Zeitpunkt sechs Monate nach Entlassung aus der stationären Rehabilitation relevanten Einflussfaktoren zur Prognose des Status der Arbeitsfähigkeit von Personen mit schweren muskuloskeletalen Verletzungen zu identifizieren. Aus diesen ersten Analysen gehen acht Einflussfaktoren als Prädiktoren zur Vorhersage der Arbeitsfähigkeit hervor, in denen sich die bio-psycho-soziale Perspektive der ICF widerspiegelt. Demnach können bereits bei Aufnahme in die stationäre Rehabilitation neben der Verletzungsschwere unter anderem Körperfunktionen (Belastungsschmerz), Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Partizipation (WHODAS 2.0) und personbezogene Faktoren (Primärpersönlichkeit, Geschlecht) einen wertvollen Beitrag zur Prognose der Arbeitsfähigkeit leisten.
Routinemäßig werden zu Beginn einer Rehabilitationsmaßnahme nach Erhebung der Anamnese und erfolgter klinischer Untersuchung Ziele vereinbart und Therapiepläne erstellt. Eine systematische Erfassung der Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit oder beeinflussenden Kontextfaktoren auf Basis der ICF erfolgt bislang allerdings nicht. Diese Informationen spielen jedoch nicht nur für die medizinische Rehabilitation, sondern auch für das Fallmanagement der Unfallversicherungsträger und auch für die berufliche Rehabilitation eine große Rolle. Sie dienen der Steuerung des Heilverfahrens und der Beurteilung des Rehabilitationserfolgs und sind, wie im Handlungsleitfaden[17] zum Reha-Management der DGUV dargelegt ist, für eine effektive Heilverfahrenssteuerung unerlässlich.
Die hier berichteten Zwischenergebnisse unterstreichen, dass eine frühzeitige Prognose der Arbeitsfähigkeit von betroffenen Patientinnen und Patienten ohne Berücksichtigung von Aspekten der Funktionsfähigkeit und Kontextfaktoren als Grundlage für eine effektive Heilverfahrenssteuerung unzureichend erscheint und zu einer erheblichen Unschärfe im Einzelfall führen kann.
In icfPROreha lagen zum Zeitpunkt der Zwischenanalysen noch nicht alle Daten in Vollständigkeit vor. Finale Analysen, basierend auf dem gesamten Datenpool und durchgeführt unter Berücksichtigung aller vier Zeitpunkte der Nachbefragung, stehen noch aus und werden neben zusätzlichen Ergebnissen gegebenenfalls zu Resultaten führen, die von den Zwischenergebnissen abweichen.
Das Vorhaben wird mit Mitteln der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieses Beitrags liegt bei den Autorinnen und dem Autor.