Weller-System: Perspektiven der elektronischen Heilverfahrenssteuerung

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen bietet vielfältige Chancen. Darüber besteht in Politik und Gesellschaft ein hoher Konsens. Parallel zu den zahlreichen neuen Anwendungsmöglichkeiten, die sich hiermit eröffnen, gewinnen auch Systeme der Fallsteuerung und des Versorgungsmanagements zunehmend an Bedeutung.

Kein Zweifel, die Digitalisierung erfasst auch das Gesundheitswesen. Nicht zuletzt durch die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Pandemie sind zahlreiche innovative digitale Techniken auf breiter Front zur Anwendung gelangt. Videokonferenzen beispielsweise etablierten sich binnen eines Jahres vom Sonderfall zum Standardformat. Für die Akzeptanz und Verfügbarkeit der neuen Techniken im Gesundheitswesen – etwa in Form von Videosprechstunden – bedeutet dies einen enormen Schub, dessen Beginn wir augenblicklich erleben.

Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das am 19. Dezember 2019 in Kraft getreten ist, wurde die wichtigste gesetzliche Grundlage bereits frühzeitig geschaffen. Seither entwickeln sich Angebote und Anbieter für Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) in wachsender Zahl. Nach Genehmigung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind diese dann verordnungs- und abrechnungsfähig im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und – nach dem Grundsatz "mit allen geeigneten Mitteln" – auch in der gesetzlichen Unfallversicherung.      

Systematische Verknüpfung

Unverkennbar ist die enge systematische Verknüpfung der eigentlichen Digitalen Gesundheitsanwendungen mit entsprechenden digitalen administrativen Prozessen. Verordnet ein Arzt oder eine Ärztin zum Beispiel die Nutzung einer bewegungstherapeutischen App, dann wird diese Verordnung über kurz oder lang natürlich per E-Rezept erfolgen (müssen).[1] Die Digitalisierung des Gesundheitswesens beschreibt und forciert in dieser Hinsicht zugleich eine Digitalisierung der Verwaltungsprozesse.

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens beschreibt und forciert zugleich eine Digitalisierung der Verwaltungsprozesse.

Zur Digitalstrategie zahlreicher Unfallversicherungsträger gehören Systeme der elektronischen Heilverfahrenssteuerung. Diese beschreiben für die verschiedensten unfallmedizinischen Konstellationen (Diagnosen) etablierte Standards, insbesondere über die jeweils zu erwartende Dauer der Arbeitsunfähigkeit. Der Einsatz neuer medizinischer Methoden kann so erheblich erleichtert werden, weil auch für die Verwaltung stets Anhaltspunkte über deren Wirksamkeit verfügbar sind. Die Frage etwa, ob die Nutzung einer bewegungstherapeutischen App das Heilverfahren fördert, lässt sich leichter beantworten, wenn die nach bisherigem Standard prognostizierte Dauer der Arbeitsunfähigkeit als Vergleichswert herangezogen werden kann.  

System der elektronischen Heilverfahrenssteuerung | © FSA GmbH
Abbildung 1: Weller-Key Beispiel 05Dc ©FSA GmbH

Das bekannteste System der elektronischen Heilverfahrenssteuerung wurde vom damaligen Chefarzt der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen, Prof. Siegfried Weller, entwickelt. Eingeführt im Jahre 1999, basiert das System inzwischen auf der Analyse von rund 800.000 Datensätzen, die zu 455 Verletzungsmustern von acht gewerblichen Berufsgenossenschaften und vier Unfallkassen regelmäßig anonymisiert geliefert werden. 

Weiterentwicklung der Behandlungspläne

Aktuelle Datenlieferungen sind denn auch die wichtigste Grundlage für die im Zwei-Jahres-Turnus erscheinenden neuen Versionen des Weller-Systems. Darüber hinaus werden laufend technische und inhaltliche Fortschreibungen unternommen, die Ziele und Elemente digitaler Gesundheitsanwendungen aufgreifen.

 Vor allem die seit 2017 in das Weller-System integrierten Behandlungspläne sind hier zu nennen. Sie beschreiben für das jeweilige Verletzungsmuster (Weller-Key) erfahrungsbasierte Therapievorschläge und den idealtypischen Reha-Plan, aus dem sich die Prognose der Arbeitsunfähigkeit schließlich ergibt. Diese Pläne stehen dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin, der versicherten Person und der Verwaltung gemeinsam zur Verfügung. Auf ihrer Basis ist es möglich, besondere Probleme und Komplikationen individuell zu erkennen und frühzeitig zu berücksichtigen. Die Integration wirksamer Digitaler Gesundheitsanwendungen in die Behandlungspläne der Heilverfahrenssteuerung scheint ein aussichtsreicher Weg, um diese in der Unfallversicherung effizient zu etablieren. 

Weller-System Heilverfahrenssteuerung | © BGN
Abbildung 2: Handlungsfelder der Weller-Heilverfahrenssteuerung ©BGN

Aktuelle Neuerungen: Psycho-Weller und ICD-10

Eine wichtige inhaltliche Erweiterung des Weller-Systems ist die Berücksichtigung isolierter psychischer Traumen, die durch Miterleben oder Herbeiführen schwerer Unfälle oder bei Gewalt- und Überfallopfern ausgelöst werden können. Diese sogenannten "Schockschäden" sind als eigenständiger neuer Weller-Key 15 in das kommende Release 2022 integriert. Zum "Psycho-Weller" gehören ein Behandlungsplan und insbesondere auch ein Tool zur Diagnosesicherung. Damit werden für die Bearbeitung dieser oft schwierigen Fälle Standards verfügbar, die in jedem Einzelfall eine wichtige Orientierung bieten.

Die zweite aktuelle Neuerung ist methodischer Art. Die Weller-Codierung ist traditionell mit dem DGUV-Schlüssel verknüpft. Um eine Anbindung an das führende Klassifikationssystem ICD-10 zu schaffen, wurde nun ein Übersetzer Weller/ICD-10 entwickelt. Für die Anwendung gibt es einen "Code-Umrechner".

Übersetzungstools Weller-System | © BGN/FSA
Abbildung 3: Kompatibilität durch automatisierte Übersetzungstools ©BGN/FSA

Der Weller/ICD-10-Übersetzer basiert auf In-Memory-Technologie und ermöglicht somit die Berechnung der einschlägigen Weller-Keys in Echtzeit. An Umsetzungsmöglichkeiten gibt es eine dialogbasierte Webapplikation oder die Integration in Kernsysteme mittels moderner Schnittstellen. Realisierbar ist mittelfristig auch eine systematische Einbindung der DGUV-Schlüssel durch einen Übersetzer zu ICD-10. Langfristig denkbar scheint sogar die Ablösung des DGUV-Schlüssels durch das ICD-Klassifikationssystem.

Ausblick – Big Data

Die Empfehlungen des Weller-Systems basieren letztlich auf der Analyse der in der Unfall-Versicherungs-Controlling-Datenbank (UVCD) gespeicherten Informationen. Die medizinischen Erfahrungen aus rund 800.000 gesteuerten anonymisierten Fallverläufen bilden einen ausgesprochenen "Datenschatz". Durch künstliche Intelligenz (KI) und Big-Data-Techniken besteht die Chance, die Empfehlung zur Fallsteuerung systematisch zu verbessern. Daran wird bei Weller mit Hochdruck gearbeitet.

Automatisiertes Auslesen von Daten über Vor- und Begleiterkrankungen ist Gegenstand eines weiteren Planungsprojekts. Es soll Vorschläge für individualisierte Prognosen von Arbeitsunfähigkeitszeiten entwickeln. Die Aussagefähigkeit steigt mit wachsender Zahl von Datensätzen.

Systeme zur elektronischen Heilverfahrenssteuerung bieten eine unfallmedizinische Wissensbasis, die im Rahmen zunehmender Digitalisierung im Gesundheitswesen erheblich an Bedeutung gewinnen kann.

Entsprechendes gilt für Komplikationen. Sie können schon heute in einem Extrafeld für die UVCD verschlüsselt werden, tragen aber erst künftig mit strukturierten und ausreichend vielen Daten zu einer individualisierten Arbeitsunfähigkeitsprognose für die Heilverfahrenssteuerung bei.

Fazit

Je vielfältiger die Möglichkeiten, umso wichtiger ist die Orientierung. Systeme zur elektronischen Heilverfahrenssteuerung bieten eine unfallmedizinische Wissensbasis, die im Rahmen zunehmender Digitalisierung im Gesundheitswesen erheblich an Bedeutung gewinnen kann. Die Behandlungspläne im Weller-System scheinen geeignet, wirksame Elemente Digitaler Gesundheitsanwendungen in der Unfallversicherung zu etablieren.