Zehnjähriges Jubiläum des Projekts "Reha in Polen"

Die Einführung und Umsetzung der berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren im Ausland ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Das Projekt "Reha in Polen" zeigt seit einer Dekade, wie dies gelingen kann.

Für die Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten der polnischen Reha-Klinik in Schreiberhau (Szklarska Poręba) ist dies mittlerweile Routine: Jeden Morgen betreten bis zu 20 Rehabilitandinnen und Rehabilitanden den Therapiebereich, um die täglichen Physio-, Ergo- und Arbeitstherapiemaßnahmen wahrzunehmen. Sie bilden keine homogene Gruppe, sind unterschiedlichen Alters und beruflichen Hintergrunds. Was alle gemeinsam haben: Sie wollen ihre Arbeitsfähigkeit wiedererlangen und sie sind über die deutsche gesetzliche Unfallversicherung versichert. Alle kommen aus Polen und nehmen im Rahmen des Projekts "Reha in Polen" an einer stationären Rehabilitation teil.

Jedes Jahr werden über 130 Versicherte auf eigenen Wunsch nach Polen verlegt, um dort an einer Maßnahme der Berufsgenossenschaftlichen Stationären Weiterbehandlung (BGSW) teilzunehmen. Dies ist für alle Beteiligten – Versicherte, Unfallversicherungsträger und polnische Partnerkliniken – mittlerweile ein gut bekanntes Verfahren. Der Weg zu diesem Ziel war lang und führte durch Terra incognita – das heutige Ergebnis zeigt jedoch, dass sich die Mühe gelohnt hat.

Ursprung des Projekts

Die Ausweitung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die osteuropäischen EU-Länder im Mai 2011 hat den deutschen Arbeitsmarkt grundlegend verändert. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus Polen hat sich innerhalb von zehn Jahren nahezu verfünffacht: von rund 100.000 im Jahr 2010 – also vor der Einführung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit – auf 453.000 zum Ende des Jahres 2020.[1]

Diese Entwicklung betrifft auch die gesetzliche Unfallversicherung. Die Zahl der Unfallverletzten, die kein oder kaum Deutsch sprechen, ist spürbar gestiegen. Aufgrund dieser Sprachbarrieren konnten die erforderlichen Reha-Maßnahmen im Anschluss an die Akutbehandlung nicht immer erfolgreich durchgeführt werden. Dies führte oft dazu, dass die Polnisch sprechenden Versicherten direkt in die Heimat fuhren und dort innerhalb des polnischen Gesundheitssystems versorgt wurden. Demzufolge war die Heilverfahrenssteuerung erschwert oder gar nicht möglich.

Bereits in der Vorbereitungsphase mussten mehrere Hürden überwunden und viel Überzeugungsarbeit – sowohl bei den Reha-Einrichtungen als auch bei den Unfallversicherungsträgern – geleistet werden, um das Projekt 'Reha in Polen' in Gang zu bringen.

Vor diesem Hintergrund wurde vor genau zehn Jahren die Gesellschaft DGUV Reha International GmbH auf Initiative des damaligen Hauptgeschäftsführers der DGUV, Prof. Dr. Joachim Breuer, gegründet. Das erste Projekt wurde unter dem Namen "Rehabilitation in Polen" ins Leben gerufen, da die polnischen Beschäftigten die größte Gruppe unter den ausländischen EU-Arbeitskräften in Deutschland bildeten.

Ziel des Projekts war es, Kooperationskliniken in Polen zu finden, um dort die polnischsprachigen Versicherten der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung nach der Akutversorgung in Deutschland stationär weiterzubehandeln. Durch die bessere Sprachverständigung und die Nähe zur Familie konnte damit eine sinnvolle Versorgungsalternative für jene geschaffen werden, die nach Polen zurückkehren wollten.

Vorbereitung der Zusammenarbeit und erste Herausforderungen

Zu Beginn mussten mehrere organisatorische, fachliche und rechtliche Fragen geklärt werden. Aus diesem Grund wurde das Projekt von Anfang an von Kolleginnen und Kollegen der DGUV sowie von Externen unterstützt. So hat zum Beispiel der Landesverband Nordwest der DGUV das BGSW-Zulassungsverfahren und das BG Klinikum Hamburg die fachspezifische Reha-Beratung und Personalschulung übernommen. Dank dieser Hilfe konnte der Grundstein für die Zusammenarbeit zwischen der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung und dem ersten Kooperationspartner des Projekts – der KRUS[2]-Klinik "Granit" in Schreiberhau (Niederschlesien) – gelegt werden.

Die ersten Versicherten konnten bereits im Jahr 2012 aufgenommen werden. Die größte Herausforderung für die polnische Seite war anfangs die Rehabilitation einer neuen Patientenkategorie, bei der das Erreichen der Arbeitsfähigkeit als Ziel gesetzt wird. Dieser Schwerpunkt war für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der polnischen Reha-Klinik Neuland, da Arbeitstherapie und berufsbezogene Ergotherapie in Polen nicht praktiziert wurden. Daher haben die BG Kliniken in Hamburg und Halle in den vergangenen Jahren mehrere Schulungen für das physiotherapeutische und ärztliche Personal aus Polen organisiert. Das Ziel war es, zu zeigen, welche Maßnahmen bei der Rehabilitation der Versicherten der gesetzlichen Unfallversicherung angewendet werden können. Diese Schulungen, die sowohl in Deutschland als auch in Polen stattfanden, haben neben der fachlichen Weiterentwicklung auch dazu geführt, dass die Therapiebereiche der Einrichtungen in Polen kontinuierlich erweitert und nachgerüstet worden sind.

Seit Beginn des Projekts wurden mehr als 800 Versicherte nach Polen verlegt. Die Fallzahlen sind bisher jedes Jahr gestiegen, auch in 2020 trotz der Corona-Pandemie.

Bei den Unfallversicherungsträgern stieß das Projekt nicht sofort auf Akzeptanz, weil die Verlegung der Versicherten ins Ausland mit gewissen Risiken verbunden war. Die ersten positiven Erfahrungen führten aber dazu, dass das Angebot der stationären Rehabilitation in Polen von Jahr zu Jahr häufiger wahrgenommen wurde. 

Ausbreitung der Kooperationen

Um die steigende Nachfrage abzudecken, wurden weitere polnische Einrichtungen aufgesucht. Im Jahr 2014 erhielt die KRUS-Klinik "Niwa" in Kolberg (Westpommern) die BGSW-Zulassung, um die Versicherten aus Nordpolen zu versorgen. Zwei Jahre später folgte die private Reha-Klinik "Columna Medica" bei Lodsch, die für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden aus zentralen und östlichen Regionen Polens zur Verfügung steht. Damit konnte das Netzwerk der Partnerkliniken vervollständigt und ein flächendeckendes Angebot für Versicherte aus fast allen Regionen geschaffen werden.

Rolle des D-Arzt-Verfahrens

Eine sehr wichtige Rolle bei der Verlegung der Versicherten zurück nach Polen spielen die Durchgangsärztinnen und Durchgangsärzte, die neben der Behandlung auch über Möglichkeiten der Rehabilitation in Polen informieren, zum Beispiel durch Informationsblätter über das Projekt in polnischer Sprache[3]. Manche D-Ärztinnen und D-Ärzte bieten Sprechstunden auf Polnisch an, teilweise mit Unterstützung einer Dolmetscherin oder eines Dolmetschers (zum Beispiel im Städtischen Klinikum in Görlitz), was für diese Patientengruppe eine große Hilfe bei der Verständigung bedeutet.

Historische Entwicklung des Projekts

Seit Beginn des Projekts wurden mehr als 800 Versicherte nach Polen verlegt. Die Fallzahlen sind bisher jedes Jahr gestiegen, auch 2020 trotz der Corona-Pandemie. 

Diese positive Entwicklung hat mehrere Gründe: die steigende Zahl der polnischen Arbeitskräfte, die Erweiterung des Kliniknetzwerks sowie der bessere Informationsstand über das Projekt bei Unfallversicherungsträgern, D-Ärztinnen und D-Ärzten. Auch die zunehmende Erfahrung der polnischen Partnerkliniken und deren Personal sorgt dafür, dass die Bedürfnisse der Versicherten besser erkannt und somit eine bessere Rehabilitation angeboten werden kann.

Projekt "Reha in Polen" DGUV | © DGUV / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 1: Projekt „Reha in Polen“ – Fallzahlen nach Jahr ©DGUV / Grafik: kleonstudio.com

Versicherte im Bild

Das Angebot der stationären Rehabilitation in Polen wird fast ausschließlich von Versicherten wahrgenommen, die die deutsche Sprache kaum beherrschen. Bei der Mehrheit liegt der Lebensmittelpunkt weiterhin in Polen: Der typische Versicherte (circa 97 Prozent der Rehabilitanden sind Männer) arbeitet und lebt in Deutschland, seine Familie bleibt in der Heimat. Die Häufigkeit der Besuche in Polen hängt von der Entfernung zwischen dem Arbeits- und Heimatort ab. Eines ist klar: Diese Versicherten betrachten die Tätigkeit in Deutschland rein beruflich und haben nicht vor, auf Dauer hierher umzuziehen. Umso wichtiger ist es, die Möglichkeit der heimatnahen Rehabilitation in Polen anzubieten, damit die Betroffenen in eigener Sprache behandelt werden und in der Nähe der Familie bleiben können.      

Projekt "Reha in Polen" DGUV | © DGUV / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 2: Projekt „Reha in Polen“ – Fallzahlen nach Unfallversicherungsträger ©DGUV / Grafik: kleonstudio.com

Die "berufliche" Herkunft und somit die Zugehörigkeit zu einem deutschen Unfallversicherungsträger bildet die Beschäftigungsstruktur der Polen in Deutschland – zumindest bei Berufen mit höherem Unfallpotenzial – ab. Aufgrund der Vielzahl der polnischen Arbeitskräfte und des branchenspezifischen Unfallgeschehens in der Baubranche ist die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) der größte Beleger im Rahmen des Projekts. Es folgt die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG; zum Beispiel Leih- oder Zeitarbeiter) und auf Platz drei befindet sich die Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft Post-Logistik Telekommunikation (BG Verkehr; zum Beispiel Lkw-Fahrer). 

Diese Aufteilung hat sich über die Jahre kaum verändert und wird wahrscheinlich erhalten bleiben, da die polnischen Arbeitskräfte weiterhin diese Branchen der deutschen Wirtschaft prägen werden.

Fazit

Das Projekt "Reha in Polen" wurde in den ersten Jahren verwaltungsintern als "Pilotprojekt" bezeichnet. Die Gründe dafür waren ganz klar: Das Vorhaben hätte an mehreren Stellen scheitern können. Bereits in der Vorbereitungsphase mussten einige Hürden überwunden und viel Überzeugungsarbeit – sowohl bei den Reha-Einrichtungen als auch bei den Unfallversicherungsträgern – geleistet werden, um das Projekt in Gang zu bringen. Dank des großen Engagements der Mitwirkenden und Partnerkliniken sowie der Bereitschaft der Versicherten und Unfallversicherungsträger, an diesem Projekt teilzunehmen, konnte der Rahmen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit geschaffen werden.   

Die Fallzahlen zeigen, dass dieses Angebot nicht nur von den Berufsgenossenschaften, sondern vor allem von Versicherten positiv angenommen wird. Aus diesem Grund wird das Projekt "Reha in Polen" weitergeführt und bei Bedarf weiterentwickelt, um noch bessere Leistungen für die Versicherten der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen.