Europa in den nächsten fünf Jahren – die Karten sind neu gemischt

Mitte Juli, kurz vor der Sommerpause, hat sich das Europäische Parlament in Straßburg konstituiert. Das war der Start der 10. Legislaturperiode. Zu den ersten Amtshandlungen der Europaabgeordneten zählte die Vergabe von wichtigen Posten, mit denen klare Verhältnisse geschaffen wurden. Roberta Metsola (EVP, Malta) ist mit überragender Mehrheit für weitere zweieinhalb Jahre als Präsidentin des Europäischen Parlaments wiedergewählt worden. Von den vierzehn Vizepräsidentinnen und -präsidenten sind auch zwei Deutsche ernannt worden: Sabine Verheyen von der Europäischen Volkspartei (EVP) und Katarina Barley von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D), die das Amt bereits in der vergangenen Legislaturperiode innehatte. Mit der Wahl der symbolträchtigen Posten haben die Europaabgeordneten auch ein starkes Signal für die kommenden fünf Jahre gesetzt und gezeigt: Die Bannmeile um die rechtsextremen Fraktionen hält. Auf diesen sogenannten „Cordon sanitaire“ hatten sich die demokratischen Parteien schon in der vergangenen Legislaturperiode verständigt und auch jetzt wieder deutlich gemacht: Die informelle proeuropäische Koalition im Europäischen Parlament ist ohne die antieuropäischen Fraktionen handlungsfähig. Denn für die Wahl der Vizepräsidentinnen und -präsidenten haben auch die „Patrioten für Europa“ und „Europa der Souveränen Nationen“ Vertreterinnen und Vertreter zur Wahl gestellt. Sie haben bei der Abstimmung aber nicht die erforderliche Mehrheit erhalten.

Auch wenn der vor den Europawahlen befürchtete starke Rechtsruck ausblieb, konnten sich zwei Fraktionen rechts der Mitte die Positionen als dritt- und viertstärkste Kraft sichern und stehen damit vor den Liberalen und den Grünen. Angeführt von den nationalkonservativen Parteien Italiens und Polens kletterte die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) auf Rang vier. Die rechtspopulistischen Parteien Frankreichs und Ungarns gründeten mit EU-skeptischen Parteien aus zehn weiteren Mitgliedstaaten die neue Fraktion Patrioten für Europa. Die meisten von ihnen waren zuvor in der aufgelösten Fraktion Identität und Demokratie beheimatet, der bis zu den Wahlen auch die Alternative für Deutschland (AfD) angehörte. Um in den Genuss von Redezeit, Personal und finanziellen Mitteln zu kommen, hat auch die AfD erfolgreich an der Neugründung einer Fraktion gearbeitet, die „Europa der Souveränen Nationen“ getauft wurde.

Die Wahl der Vizepräsidentinnen und -präsidenten hat aber auch deutlich gemacht, wo genau die Brandmauer in Brüssel und Straßburg verläuft. Die von den nationalkonservativen Parteien Italiens und Polens angeführte Fraktion EKR ist im zweiten Wahlgang sogar mit zwei Vizepräsidentenposten, darunter Melonis Parteifreundin Antonella Sberna, zum Zuge gekommen. Auch Die Linke konnte sich wieder einen Vizepräsidentenposten sichern.

Auch bei der Besetzung der 20 parlamentarischen Ausschüsse und vier Unterausschüsse sind viele wichtige Positionen für die deutschen Abgeordneten abgefallen. Vor allem der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) und der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) sind für die deutsche Sozialversicherung relevant. Denn hier wird unter anderem über die Absenkung und Festlegung von Grenzwerten verschiedener chemischer Stoffe diskutiert, die für den Arbeitsschutz von Belang sind. Trotz vieler Veränderungen können wir hier an langjährige Kontakte anknüpfen. Prominente Abgeordnete wie Dennis Radtke (CDU), Gabriele Bischoff (SPD) und Katrin Langensiepen (Bündnis 90/Die Grünen) führen ihre Arbeit im EMPL weiter. In den ENVI kehren auch bekannte Größen zurück wie zum Beispiel Dr. Peter Liese (CDU), Tiemo Wölken (SPD) Andreas Glück (FDP) und Jutta Paulus (Bündnis 90/Die Grünen). Zwar hat niemand von ihnen den Ausschussvorsitz erhalten, Bischoff hat jedoch im S&D-Vorstand das Ressort Soziales zu verantworten, während Radtke, Liese und Wölken zu Koordinatoren im EMPL beziehungsweise ENVI gewählt wurden und im Namen ihrer Fraktion im Ausschuss agieren können. Damit haben sie alle einen gewissen Einfluss im jeweiligen Ausschuss.

Mit der Wiederwahl von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin hat die Mehrheit der Europaabgeordneten in ihrer ersten Sitzungswoche auch die Grundzüge der Europapolitik der kommenden fünf Jahre unterstützt. In ihrer Bewerbungsrede hat von der Leyen ihre Vision für ein stärkeres und wohlhabendes Europa vorgestellt. Weniger Berichtspflichten, weniger Bürokratie und mehr Vertrauen seien notwendig, aber auch die Umsetzung des europäischen Grünen Deals durch Investitionen in Infrastruktur und Industrie, insbesondere in energieintensive Sektoren, sei von enormer Bedeutung. Auch die Sicherheit und Verteidigung Europas soll unter von der Leyen gestärkt werden. Im sozialen Bereich gelte es, die Grundsätze der Europäischen Säule sozialer Rechte Realität werden zu lassen. Ein Aktionsplan, der unter anderem auf neue Herausforderungen in der Arbeitswelt wie künstliche Intelligenz (KI) und die „Always-on“-Kultur eingeht, soll dabei helfen.