Posttraumatische Belastungsstörung eines Rettungssanitäters als „Wie-Berufskrankheit“

Das Bundessozialgericht hat faktisch eine neue Berufskrankheit (BK) – die PTBS für Rettungssanitäter und -sanitäterinnen – eingeführt. Weder das Bundesministerium für Arbeit und Soziales noch sein Beratungsgremium, der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“, hatten bisher neue medizinische Erkenntnisse für die Einführung dieser BK festgestellt.

Ein Rettungssanitäter erlebte nach eigener Aussage in seinem Dienst eine Reihe von traumatisierenden Ereignissen. Gleichzeitig habe in seiner Dienststelle eine belastende Situation durch Personalknappheit geherrscht. Nach zwei Amokläufen, bei denen er als Helfer eingesetzt worden war, und nach zwei Suiziderlebnissen hätten sich bei ihm Symptome einer PTBS eingestellt, sagte der Rettungssanitäter. Im Juli 2016 legte er einen Reha-Entlassungsbericht vor, in dem unter anderem eine PTBS festgestellt wurde. Diese Erkrankung solle als „Wie-Berufskrankheit“ anerkannt werden, verlangte der Sanitäter gegenüber dem zuständigen Unfallversicherungsträger, der dies jedoch ablehnte. Es kam zu einer Klage – zunächst vor dem Sozialgericht (SG), dann vor dem Landessozialgericht (LSG) und schließlich vor dem Bundessozialgericht (BSG).

Die Klage des Sanitäters vor dem SG blieb erfolglos, ebenso die Berufung vor dem LSG. Dieses hatte in seinem Urteil neue und gesicherte medizinische Erkenntnisse verneint, die bei Rettungssanitätern und -sanitäterinnen ein deutlich erhöhtes Risiko bestätigten, eine PTBS zu entwickeln. Auch sei nicht ausreichend belegt, dass die wiederholte Konfrontation mit traumatischen Ereignissen anderer Personen generell geeignet sei, eine PTBS zu verursachen.

Das BSG holte zunächst Stellungnahmen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) und des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Berufskrankheiten“ (ÄSVB) sowie ein medizinisches Sachverständigengutachten ein. Dann hob es die Berufungsentscheidung auf und verwies den Rechtsstreit an das LSG zurück.

Die Entscheidung des BSG

Das BSG hat die grundsätzliche Anerkennungsfähigkeit einer PTBS als Wie-BK festgestellt, konnte aber nicht entscheiden, ob der Kläger die individuellen Voraussetzungen der Wie-BK erfüllt.

Schwerpunkt des Urteils war die Frage, ob die PTBS im Sinne von § 9 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII eine „nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen“ verursachte Erkrankung ist, der Rettungssanitäter und -sanitäterinnen „durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind“.

Das BSG meint, Rettungssanitäter und -sanitäterinnen hätten ein erhöhtes Risiko, mit traumatisierenden Ereignissen konfrontiert zu werden, wie bereits das LSG erkannt habe und wie durch das Sachverständigengutachten bestätigt werde. Sie seien „potentiell traumatisierenden Erfahrungen in Gestalt erfolgloser Rettungsmaßnahmen, der Bergung von Schwerverletzten oder Unfalltoten, des Auffindens von Suizidenten und insbesondere des Auffindens und Bergens von Kindern ausgesetzt“. Dazu kämen direkte und unverfälschte Kontakte als Ersthelfer oder Ersthelferin mit schwer verletzten, verstümmelten oder sterbenden Menschen.

In der Gruppe der Rettungssanitäter und -sanitäterinnen sei eine höhere Prävalenz, also ein höherer Anteil erkrankter Menschen im Vergleich mit der Normalbevölkerung, nicht erforderlich. Das Gefährdungspotenzial genüge. Wie sich aus der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung sowie der AWMF-Leitlinie „Posttraumatische Belastungsstörung“ ergebe, seien Ursache der PTBS „monokausale Einwirkungen von besonderer Qualität“. Kämen ohne ein geeignetes Trauma nur andere Traumafolgestörungen in Betracht, rechtfertige die positive Feststellung des Traumas bei Vorliegen der Symptomkriterien den Rückschluss auf einen monokausalen Ursachenzusammenhang im naturwissenschaftlich-medizinischen Sinn. Der Senat habe bereits in der Vergangenheit ausgeführt, dass dann, wenn „eine bestimmte Diagnose ein Ereignis einer bestimmten Schwere voraussetzt, von einem entsprechenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand auszugehen“ sei.

Obwohl die fünfte Fassung des DSM (DSM-5) seit 2013 in Deutschland gültig sei, habe der das BMAS beratende ÄSVB die PTBS bei Rettungssanitätern und -sanitäterinnen nicht in die Vorprüfung einbezogen. Der Verordnungsgeber habe sich bis zur letzten mündlichen Verhandlung weder mit dem sich aus den Diagnosesystemen ableitbaren Ursachenzusammenhang auseinandergesetzt noch eine Anerkennung oder Ablehnung der PTBS als (Listen-)BK bei Rettungssanitätern und -sanitäterinnen geprüft. Die referierten Erkenntnisse zum Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen einer Berufskrankheit seien deswegen „neu“ im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB VII.

Die Beweisanträge des beklagten Unfallversicherungsträgers, eine erneute Stellungnahme vom ÄSVB einzuholen, hat das BSG zurückgewiesen, „weil die Ausführungen des Sachverständigen zum aktuellen medizinischen Erkenntnisstand ebenso wenig entscheidungserheblich waren wie die von ihm zeitgleich erstellte Metaanalyse“.

Eine abschließende Entscheidung konnte das BSG gleichwohl nicht treffen. Es sei noch nicht geklärt, ob in der Person des Klägers auch die individuellen Voraussetzungen für die Feststellung einer PTBS als Wie-BK vorlägen.

Überraschende Argumente

Das Urteil ist in dreifacher Hinsicht bemerkenswert:

  • Das BSG hat trotz § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Beweis erhoben.
  • Es hat Klassifikationssystemen (ICD 10, DSM-5) Erkenntnisse über die Ätiologie (Ursachen für das Entstehen einer Erkrankung) der PTBS entnommen.
  • Es ist in die Rolle der Legislative geschlüpft und hat eine neue Wie-BK kreiert.

Revisionsverfahren beim BSG betreffen Rechtsfragen. Den Sachverhalt zu ermitteln, ist Aufgabe der Instanzgerichte. Indem § 163 SGG das BSG grundsätzlich an die tatsächlichen Feststellungen bindet, die im angefochtenen Urteil getroffen wurden, setzt die Vorschrift für das Revisionsverfahren einen geklärten Sachverhalt voraus. Falls Revisionsgerichte Gutachten für notwendig erachten, um entscheidungserhebliche Tatsachen festzustellen, verweisen sie den Rechtsstreit üblicherweise zurück an die Vorinstanz.

Weder das SG noch das LSG haben den medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zum Auftreten und den Ursachen von PTBS-Erkrankungen in der Berufsgruppe der Rettungssanitäter und -sanitäterinnen durch Sachverständigengutachten feststellen lassen. Statt den Rechtsstreit deswegen zurückzuverweisen, hat der Senat selbst ein Gutachten in Auftrag gegeben. Seine Beweiserhebung begründet das BSG lapidar damit, dass sogenannte „allgemeine (generelle) Tatsachen (Rechtstatsachen)“ zu klären waren, für die der Senat in ständiger Rechtsprechung Zuständigkeit beansprucht. Eine weitere Erklärung des höchst ungewöhnlichen Vorgehens enthält das Urteil nicht. Die Idee, abschließend zu entscheiden, kann es nicht sein. Denn die Schlusspointe des Urteils besteht darin, das selbst in Auftrag gegebene Gutachten für nicht entscheidungserheblich zu erklären und den Rechtsstreit aus anderen Gründen zurückzuverweisen. Unter welchen Bedingungen der Senat § 163 SGG zum Trotz selbst Beweise erhebt, um „Rechtstatsachen“ zu klären, ist der Entscheidung nicht zu entnehmen.

Den generellen Ursachenzusammenhang stützt der Senat auf die Klassifikationssysteme ICD 10/11 und DSM-5 sowie die AWMF-Leitlinie zur Therapie der PTBS[1]. Die S2k-Leitlinie „Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen“[2] zitiert er dagegen nicht. Das BSG räumt also der therapeutischen Sichtweise Vorrang gegenüber der gutachterlichen Sichtweise ein.

Diagnosen haben den Sinn, die richtige Therapie zu ermöglichen. Klassifikationssysteme verfolgen primär eine Sprachnormierung im Sinne begrifflicher Konventionen[3]. Die ICD soll die systematische Erfassung, Analyse, Interpretation und den Vergleich von Mortalitäts- und Morbiditätsdaten ermöglichen, die in verschiedenen Ländern oder Regionen und zu verschiedenen Zeiten erhoben wurden, und stellt für diesen Zweck eine gemeinsame Sprache (standardisierte Terminologien und terminologische Standards) zur Verfügung. Ähnliches gilt für das DSM. Diese terminologische Fokussierung scheint der Senat erkannt zu haben, da das Urteil konstatiert, die ICD sei ein weltweit anerkanntes System, mit dem medizinische Diagnosen einheitlich „benannt“ (!) werden.

Dass die Kategorien, die die Klassifikationssysteme erschaffen, als reale Krankheitseinheiten angesehen werden statt als psychopathologische Konventionen, ist eine schon länger bekannte Gefahr.[4] Weder die ICD noch das DSM können den Anspruch erheben, psychische Krankheiten zu „definieren“.[5] Der PTBS liegt ein deskriptives Konzept zugrunde, das keine Aussagen zur Ätiologie enthält.[6] Schlüsse von der Diagnose auf die Ursache sind daher stets problematisch.[7] Das DSM-5 enthält sogar einen ausdrücklichen Hinweis, dass das Manual nur mit Vorsicht im forensischen Kontext verwendet werden soll.[8] Jäger warnt davor, Klassifikationssysteme ohne profunde psychopathologische Kenntnisse zu verwenden.[9] Ob sich der Senat der Limitationen der Klassifikationssysteme und der Gefahr von Fehlinterpretationen bewusst war, lässt sein Urteil nicht erkennen. Medizinische Quellen, die den Wert von ICD oder DSM für ätiologische Fragestellungen belegen, benennt das Urteil nicht.

Fazit

Das BSG hat für die Berufsgruppe der Rettungssanitäter und -sanitäterinnen die Anerkennungsfähigkeit von Erkrankungen an PTBS nach § 9 Abs. 2 SGB VII grundsätzlich festgestellt und damit faktisch eine neue Berufskrankheit geschaffen. Sind die individuellen Voraussetzungen erfüllt, werden die Unfallversicherungsträger Anträge von Rettungssanitätern und -sanitäterinnen kaum mehr mit Aussicht auf Erfolg ablehnen können. Für Dreßing/Spellbrink/Hoell[10] ist die Entscheidung ein „Meilenstein“. Das BSG habe das Monopol des ÄSVB, zu definieren, welche Erkrankungen als Berufskrankheit anzuerkennen sind, infrage gestellt. Sozialpolitisch mag man das Urteil deswegen begrüßen.

Aus verfassungsrechtlicher Perspektive erscheint es bedenklich. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG) bekennt sich zum Prinzip der Gewaltenteilung. Art. 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Gesetzgebung ist Aufgabe der Legislative. § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ermächtigt allein die Bundesregierung, Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen. Es fragt sich, was das BSG legitimiert, Recht zu setzen, indem es (wenn auch nur faktisch) eine neue Berufskrankheit schafft und damit in Konkurrenz zur Bundesregierung tritt. Nicht minder irritiert, dass der Senat die medizinische (!) Erkenntnislage offenbar besser zu überblicken glaubt als der nach § 9 Abs. 1a Satz 2 SGB VII dafür eingerichtete ÄSVB.