COVID-19-Erkrankungen als Versicherungsfälle der BGW
Eine COVID-19-Erkrankung kann je nach Kontext der Infektion eine Berufskrankheit oder ein Arbeitsunfall sein. Die Unfallversicherung bietet in Fällen mit schweren oder lang andauernden Verläufen eine individuelle Betreuung durch das Reha-Management an. Ziel ist die Wiederherstellung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit mit allen geeigneten Mitteln.
Die COVID-Pandemie hat die gesetzliche Unfallversicherung und insbesondere die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) vor neue Herausforderungen gestellt, sowohl in der Prävention als auch in der Rehabilitation, auch über die Beendigung der Pandemie hinaus.
Unfallversicherungsrechtliche Voraussetzungen
Die Anerkennung einer COVID-19-Erkrankung als Berufskrankheit nach § 9 Sozialgesetzbuch (SGB) VII kommt nur für versicherte Personen in Betracht, die in einem der in der BK-Nr. 3101 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) genannten Tätigkeitsbereiche tätig sind. Das sind Tätigkeiten im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege, in Laboratorien oder Tätigkeiten, bei denen Beschäftigte in einem ähnlichen Maße einer Infektionsgefahr ausgesetzt sind. Neben einer Tätigkeit in einem der genannten Bereiche ist für eine Anerkennung erforderlich, dass die Infektion nachgewiesen ist und zu Krankheitssymptomen geführt hat. Ein positiver PCR-Test oder zumindest ein durch medizinisches Fachpersonal durchgeführter Antigen-Schnelltest reicht als Infektionsnachweis aus.[1]
Außerdem muss im Einzelfall die Verursachung der Infektion durch die versicherte Tätigkeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein. Dieser Nachweis ist erbracht, wenn ein für eine Ansteckung ausreichend intensiver Kontakt zu einer Infektionsquelle („Indexperson“), etwa einem infizierten Patienten oder einer Patientin oder einem infizierten Kollegen oder einer Kollegin, belegt ist. Zudem dürfen keine Umstände aus dem unversicherten Bereich wie etwa zeitgleiche Erkrankungsfälle von im gleichen Haushalt lebenden Familienangehörigen dem Schluss auf eine wahrscheinlich berufsbedingte Verursachung der Infektion entgegenstehen.[2]
Wenn ein entsprechender Kontakt zu einer Indexperson nicht nachgewiesen werden kann, ist zu prüfen, ob die versicherte Tätigkeit mit besonderen Infektionsgefahren einhergeht, die im Rahmen der BK-Nr. 3101 Beweiserleichterungen begründen. So können etwa eine hohe Anzahl infizierter Personen im Tätigkeitsumfeld der betroffenen Versicherten sowie Art und Häufigkeit von Kontakten zu möglichen Infektionsquellen während der für die Ansteckung relevanten Zeit eine berufsbedingte Infektion überwiegend wahrscheinlich machen, ohne dass eine konkrete Infektionsquelle nachgewiesen ist. Dabei ist auf die von den Versicherten konkret ausgeübten Tätigkeiten abzustellen. Als Beispiele für Tätigkeiten mit einer solchen besonderen Ansteckungsgefahr kommen zum Beispiel in Betracht:
- der unmittelbare Kontakt zu Patientinnen und Patienten bei deren ärztlicher oder pflegerischer Versorgung in Krankenhäusern, in denen an COVID-19 erkrankte Personen behandelt werden
- im Bereich der Wohlfahrtspflege die direkte Betreuung von Personen ohne Impfschutz oder von medizinisch schlecht versorgten hilfebedürftigen Menschen
In die Prüfung ist neben dem beruflich bedingten Risiko einer Infektion einzubeziehen, ob und welche außerberuflichen Infektionsrisiken im einzelnen Fall bestanden. Diese sind dem durch die versicherte Tätigkeit bedingten Risiko gegenüberzustellen und zu gewichten. Stehen den Gründen, die für eine berufsbedingte Infektion sprechen, keine außerberuflichen Risiken, die ins Gewicht fallen, gegenüber, so ist die berufliche Verursachung als überwiegend wahrscheinlich anzusehen.
Die bei der BGW versicherten Personen in den Branchen Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege werden von der BK-Nr. 3101 in hohem Maße erfasst. Bei Personen, die sich im beruflichen Umfeld infiziert haben, jedoch nicht in den von der BK-Nr. 3101 erfassten Tätigkeitsbereichen arbeiten, kann eine COVID-19-Erkrankung einen Arbeitsunfall nach § 8 SGB VII darstellen.
Fallaufkommen insgesamt und bei der BGW
Die BGW ist im Vergleich zu allen anderen Unfallversicherungsträgern mit Abstand am stärksten von Meldungen einer COVID-19-Erkrankung als Berufskrankheit betroffen. Insbesondere Beschäftigte in Gesundheitsberufen, in der Pflege und in der Kinderbetreuung haben ein höheres Risiko, sich bei der Arbeit zu infizieren, als Beschäftigte in anderen Branchen. Für rund 75 Prozent aller der gesetzlichen Unfallversicherung zugegangenen COVID-19-Meldungen ist die BGW zuständig. Vor der Pandemie erreichten die BGW jährlich durchschnittlich rund 12.000 Berufskrankheiten-Verdachtsanzeigen, wovon etwa 1.000 Meldungen auf die BK-Nr. 3101 (Infektionskrankheiten, zum Beispiel Tuberkulose, Virushepatitis B und C) entfielen. Im Jahr 2022 wurden bei der BGW über 227.000 meldepflichtige COVID-19-Erkrankungen registriert. Insgesamt wurden der BGW seit Pandemiebeginn 461.478 COVID-19-Erkrankungen mit Verdacht auf eine Berufskrankheit gemeldet (Stand: 30. Juni 2023), in Hochphasen der Pandemie mehr als 8.000 Fälle wöchentlich.
Den hohen Anteil der BGW am gesamten COVID-19-Meldegeschehen in der gesetzlichen Unfallversicherung belegt eine Übersicht der DGUV.[3] Danach wurden bei allen Unfallversicherungsträgern bis 30. Juni 2023 insgesamt 533.504 Verdachtsanzeigen auf eine Berufskrankheit und 76.903 Meldungen zu Arbeitsunfällen im Zusammenhang mit COVID-19 registriert. Auf die BGW entfielen davon 460.866 Verdachtsanzeigen auf eine Berufskrankheit und 612 Meldungen zu Arbeitsunfällen. Die Entscheidung, ob eine beruflich erworbene SARS-CoV-2-Infektion mit akuter COVID-19-Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt wird, erfolgt in den meisten Fällen vergleichsweise unkompliziert und schnell: Von den über 406.600 meldepflichtigen Anzeigen, die der BGW zugegangen sind (Stand: 30. Juni 2023), wurden bis zum gleichen Stichtag rund 385.500 entschieden, davon wurden rund 264.500 durch die BGW als berufsbedingt anerkannt. In zwei von drei Fällen konnte also die berufliche Verursachung bestätigt werden. Schwieriger ist dagegen, aus medizinischer und rechtlicher Sicht zu beurteilen, ob länger andauernde oder nach Abschluss der medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen verbliebene Symptome und gesundheitliche Einschränkungen im Vollbeweis gesichert sind und wesentlich ursächlich auf die akute COVID-19-Erkrankung beziehungsweise die anerkannte Berufskrankheit zurückzuführen sind und damit die Voraussetzungen für weitere Leistungen vorliegen.
Long COVID und Post-COVID
Das Robert Koch-Institut (RKI) erläutert zu den Langzeitfolgen[4]: „Im Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2-Infektion sind zahlreiche mögliche gesundheitliche Langzeitfolgen beobachtet worden. Hierzu zählt eine Vielfalt körperlicher, kognitiver und psychischer Symptome, welche die Funktionsfähigkeit im Alltag und Lebensqualität negativ beeinflussen. Die Beeinträchtigungen treten entweder bereits in der akuten Erkrankungsphase auf und bleiben längerfristig bestehen, oder sie treten im Verlauf von Wochen und Monaten nach der Infektion (wieder) auf. Dabei wird über sehr unterschiedliche Symptome berichtet, die allein oder auch in Kombination auftreten und von sehr unterschiedlicher Dauer sein können. Die zugrundeliegenden Mechanismen von Long COVID sind noch nicht ausreichend geklärt, wobei Erkenntnisse hierzu dank intensiver Forschung fortlaufend hinzukommen.“
Die AWMF S1-Leitlinie Long/ Post-COVID[5] definiert Long COVID als gesundheitliche Beschwerden, die jenseits der akuten Krankheitsphase einer SARS-CoV-2-Infektion von vier Wochen fortbestehen oder neu auftreten. Als Post-COVID-Syndrom werden Beschwerden bezeichnet, die mehr als zwölf Wochen nach Beginn der SARS-CoV-2-Infektion andauern.
Bei der weit überwiegenden Zahl von erkrankten Versicherten der BGW treten nur leichte Symptome auf. Die Zahl von Erkrankten mit schweren oder lang anhaltenden Symptomen ist deutlich geringer und hat sich im Verlauf der Pandemie in Abhängigkeit von den verschiedenen Virusvarianten und der Durchimpfung von Angehörigen der Gesundheitsberufe verändert. Betroffene, die mehrere Monate arbeitsunfähig sind und im Reha-Management der BGW persönlich betreut wurden oder noch werden, werden als schwer erkrankt kategorisiert. Zum Stand 30. Juni 2023 waren dies mit abnehmender Tendenz rund 3.900 Personen, also rund 1,5 Prozent der beruflich anerkannten Infektionsfälle. Die Zahl der Versicherten, die wegen einer COVID-19-Erkrankung stationär behandelt werden mussten, liegt bei rund 5.430 und macht einen Anteil von zwei Prozent der anerkannten Fälle aus.
Reha-Maßnahmen und Heilverfahren
„Reha vor Rente“ ist nach § 26 Abs. 3 SGB VII einer der Leistungsgrundsätze der gesetzlichen Unfallversicherung. Dies bedeutet, dass nach einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit im Vordergrund steht, die Gesundheit der Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen und die Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft zu sichern beziehungsweise wieder zu ermöglichen. Rentenleistungen sind in der Regel erst nach Wegfall des Verletztengeldes als Entgeltersatzleistung möglich, wenn also regelmäßig alle Möglichkeiten der Rehabilitation ausgeschöpft sind und wenn eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) verblieben ist.
In den Fällen mit schweren oder lang anhaltenden Symptomen sind nach einer oft sehr umfangreichen, interdisziplinären Diagnostik häufig mehrere medizinisch-rehabilitative Maßnahmen erforderlich: auf kardiologischem, pulmologischem, neurologischem, physikalisch-rehabilitativem und/oder psychologischem Fachgebiet. Die Rehabilitation wird individuell auf die Symptome und Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtet und findet interdisziplinär statt.[6] Die Erfahrungen zeigen, dass Rehabilitationsmaßnahmen auch bei langwierigen Krankheitsverläufen mit Post-COVID-Symptomatik Erfolge bewirken, die zur beruflichen Wiedereingliederung Betroffener führen.
Die BGW nutzt vor allem das mit den Berufsgenossenschaftlichen Kliniken entwickelte Post-COVID-Programm[7], das an allen Standorten der Akut- und Rehakliniken des Klinikverbundes angeboten wird. Es reicht von der Beratung und Diagnostik bis hin zur stationären Rehabilitation und ambulanten Nachbetreuung. Darüber hinaus arbeitet die BGW mit weiteren Netzwerkpartnern und regionalen Anbietern zusammen. Das Ziel des Heilverfahrens ist die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit und die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben, insbesondere auch der Versicherten mit lang andauernden Krankheitsfolgen.
Die Erfahrungen haben gezeigt, dass stufenweise Wiedereingliederungen beziehungsweise Belastungserprobungen am Arbeitsplatz häufig einen mehrmonatigen Zeitraum erfordern. Auch die Wiedereingliederung am Arbeitsplatz wird individuell gestaltet und vom Reha-Management begleitet. Während der Maßnahmen der Heilbehandlung und der medizinischen Rehabilitation erhalten die Versicherten als Entgeltersatzleistung Verletztengeld. Anders als im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung ist der Anspruch auf Zahlung von Verletztengeld wegen derselben Erkrankung nicht von vornherein auf einen Zeitraum von 78 Wochen begrenzt. Verletztengeld wird auch über 1,5 Jahre hinaus gezahlt, wenn sich Versicherte beispielsweise noch in einer Maßnahme der Rehabilitation befinden, an die sich eine berufliche Wiedereingliederung anschließt. Das Verletztengeld endet dann 78 Wochen nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit, jedoch nicht vor dem Ende einer stationären Behandlung, wenn mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen ist und auch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, die einen Anspruch auf Übergangsgeld auslösen, nicht zu erbringen sind (§ 46 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 SGB VII).
Begutachtung
Die Begutachtung ist bei einer COVID-19-Erkrankung in der Regel zur Beurteilung des Folgeschadens (Long/Post-COVID), also der haftungsausfüllenden Kausalität, erforderlich. Im Einzelfall kann es notwendig sein, bereits die SARS-CoV-2-Infektion beziehungsweise die haftungsbegründende Kausalität durch ein Gutachten zu klären, beispielweise wenn kein positiver Erregernachweis vorliegt. Zumeist aber können die akute COVID-19-Erkrankung und die haftungsbegründende Kausalität abschließend durch die Sachbearbeitung geprüft werden. Zeitpunkt für eine Begutachtung ist in der Regel der Abschluss von medizinischen Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen beziehungsweise der Wegfall des Verletztengeldes.
Da bei einem Post-COVID-Syndrom die Bandbreite der klinischen Symptome sehr groß ist, können verschiedene medizinische Fachgebiete betroffen sein. Daher ist häufig eine fachübergreifende, interdisziplinäre Begutachtung erforderlich. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen kommt insbesondere dem neurologisch-psychiatrischen und dem pneumologisch-internistischen Fachgebiet eine besondere Bedeutung zu.
Bislang fehlen für viele klinische Symptome noch pathophysiologische Erklärungen und Evidenzen aus klinischen Studien.[8] Dies trifft unter anderem für die Ausschlussdiagnose Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) zu, für die derzeit keine wissenschaftlich konsentierte Diagnosestellung vorhanden ist.[9] Das Post-COVID-Syndrom ist zudem vielfältig und oft nicht eindeutig von Vorerkrankungen abzugrenzen. Zuletzt sind auch die Ursachen des Post-COVID-Syndroms bislang wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt.[10]
Auf Initiative der DGUV wurde 2022 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich unter anderem aus Vertreterinnen und Vertretern der einschlägigen wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften und der hauptbetroffenen Unfallversicherungsträger zusammensetzt. Ziel dieser Arbeitsgruppe ist die Erstellung einer Begutachtungsempfehlung, die Gutachterinnen und Gutachtern eine für ihre Arbeit erforderliche Zusammenstellung des aktuellen Erkenntnisstands vermitteln soll. Darüber hinaus soll die Begutachtungsempfehlung Ausführungen über die unfallversicherungsrechtliche Einordnung der medizinischen Fragestellungen enthalten und Hinweise zur Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit geben.
Fazit
Auf die BGW entfallen im Vergleich zu allen anderen Unfallversicherungsträgern mit Abstand die meisten Berufskrankheiten-Verdachtsanzeigen bei COVID-19-Erkrankungen. Der deutlich überwiegende Anteil erkrankter Versicherter der BGW hat einen leichten Erkrankungsverlauf. Versicherte, die von einem schwereren oder länger andauernden Verlauf betroffen sind, werden durch das Reha-Management der BGW unterstützt. Es wird mit allen geeigneten Mitteln das Ziel verfolgt, die Gesundheit der Betroffenen wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft zu sichern. Mit dem Post-COVID-Programm der BG Kliniken hat sich mittlerweile eine leistungsfähige und wirksame Versorgungsstruktur für Diagnostik und Rehabilitation etabliert. Leider sind die genauen Ursachen für Long/Post-COVID bislang noch nicht vollumfänglich geklärt und pathophysiologische Erklärungen fehlen noch. Mit zunehmendem medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand werden die derzeit noch offenen Fragen zur Begutachtung von Langzeitfolgen hoffentlich zeitnah beantwortet werden können.