Relevanz des Ehrenamtes in der Sozialen Sicherung deutlich machen
Mit der Sozialwahl 2023 wurden einige Neuerungen eingeführt, trotzdem sank die Wahlbeteiligung. Wie können mehr Menschen für die Arbeit in der Selbstverwaltung gewonnen werden? Ein Interview mit den Vorstandsvorsitzenden der DGUV, Manfred Wirsch und Volker Enkerts.
Bei der Sozialwahl 2023 kam das erste Mal die im Jahr 2022 eingeführte gesetzliche Geschlechterquote zum Tragen. Für die gesetzliche Unfallversicherung ist sie eine Soll-Vorschrift, von der in begründeten Fällen abgewichen werden kann. Sind Sie zufrieden mit dem aktuellen Anteil von Frauen in den Selbstverwaltungsgremien der gesetzlichen Unfallversicherung? Welche Chancen bietet die Erhöhung des Anteils von Frauen in der Selbstverwaltung?
Wirsch: Ganz zufrieden bin ich mit dem Anteil von Frauen in den Gremien der gesetzlichen Unfallversicherung nicht. Vor allem in den gewerblichen Berufsgenossenschaften gibt es mit einigen Ausnahmen noch Nachholbedarf. Insbesondere in der BGHW erlebe ich, dass in der weiblich dominierten Berufswelt des Handels Kolleginnen bereit sind, Verantwortung in der Selbstverwaltung zu übernehmen und sich aus ihrer Perspektive einzubringen. So haben wir in unseren Diskussionsprozessen auch immer den Bezug zu ganz spezifischen Situationen, beispielsweise in Präventionsfragen. In industriell geprägten beruflichen Berufsgenossenschaften muss man den Frauenanteil vor dem Hintergrund männlich dominierter Belegschaften noch einmal etwas anders bewerten. In den öffentlichen Unfallversicherungsträgern haben wir erfreulicherweise ja bereits einen angemessenen Frauenanteil.
Enkerts: Ich bin sehr zufrieden mit dem Frauenanteil in der Selbstverwaltung der gesetzlichen Unfallversicherung. Auf Arbeitgeberseite konnte bei den Berufsgenossenschaften insgesamt der Frauenanteil mehr als verdoppelt werden. Gerade im gewerblichen Bereich sind wir auch zufrieden, dass es sich um eine Soll-Vorschrift und bei dem 40-Prozent-Anteil nicht um eine harte Quote handelt. Denn gerade in eher männer- oder frauendominierten Branchen sollte weiterhin in begründeten Fällen von der Geschlechterquote abgewichen werden können. Ich sehe in der Erhöhung des Frauenanteils die Chance, dass sich die Selbstverwaltungsgremien intensiver mit der spezifisch weiblichen Perspektive im Hinblick auf arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren befassen.
Ein Novum in der Sozialwahl 2023 war die Durchführung von Online-Wahlen als Modellversuch. Zum ersten Mal konnten Wählerinnen und Wähler ihre Stimme bei Krankenkassen auch online abgeben. Dies wurde genutzt. Dennoch ist die Wahlbeteiligung im Vergleich zur Sozialwahl 2017 um etwa sieben Prozent gesunken. Was sind nach Ihrer Einschätzung die Gründe hierfür?
Enkerts: Die Gründe sind vielfältig. So ist in Deutschland eine allgemein sinkende Wahlbeteiligung zu beobachten. Diese Wahlmüdigkeit hat sich vermutlich auch auf die Sozialwahlen ausgewirkt. Die Möglichkeit für Wählerinnen und Wähler, ihre Stimme online abzugeben, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Das allein reicht aber nicht aus, den Ursachen der sinkenden Wahlbeteiligung effektiv zu begegnen.
Wirsch: Da es in der gesetzlichen Unfallversicherung kein klassisches Personenverzeichnis gibt, ist eine Durchführung von Online-Wahlen bei uns nicht möglich. Und wir sind ja mit Friedenswahlen unter Berücksichtigung relevanter Branchen bisher auch ganz gut gefahren. Es bleibt natürlich eine Herausforderung, in den übrigen Zweigen der Sozialversicherung eine höhere Wahlbeteiligung zu erreichen. Dafür muss die Bedeutung der Selbstverwaltung in den Vordergrund gerückt werden. Daran müssen wir arbeiten und durch Öffentlichkeitsarbeit den Menschen deutlich machen, welche Vorteile die gesetzliche Unfallversicherung für Versicherte und Arbeitgebende bietet und wie man mitwirken kann. Doch ich muss auch feststellen, dass für die Stärkung der Selbstverwaltung staatliche Eingriffe in ehrenamtliche Kompetenzen nicht förderlich sind. Vielmehr sollte ihre Autonomie, die sie in vielen Bereichen hat, beibehalten und weiter gestärkt werden.
Wie kann man erreichen, dass sich mehr Menschen für die Selbstverwaltung in der Sozialen Sicherung interessieren?
Wirsch: Wir müssen immer weiter das „dicke Brett bohren“ und auf die unmittelbaren Einflussmöglichkeiten selbstverwalteter Sozialzweige hinweisen. Dazu gehört die Nutzung aller verfügbaren Medien, auch der modernen wie Social-Media-Kanäle. Die persönliche Ansprache der aktiven Selbstverwalter und Selbstverwalterinnen in ihren Betrieben, aber auch im privaten Umfeld, kann meines Erachtens durchaus ebenfalls intensiviert werden.
Enkerts: Wir müssen die Arbeit der Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter sowie die gesamtgesellschaftliche Relevanz der Sozialen Sicherung deutlicher herausstellen. Wenn wir erreichen wollen, dass sich vor allem jüngere Menschen für die aktive Mitarbeit in der Selbstverwaltung interessieren, müssen diese zunächst über das Prinzip der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung informiert werden. Hier spielen die Schulen und Bildungseinrichtungen eine wichtige Rolle. Wenn in den Lehrplänen der einzelnen Bundesländer steht, dass über das Prinzip der Selbstverwaltung in den allgemeinbildenden Schulen unterrichtet wird, ist das schon ein guter Anfang. Daneben gilt es, das Ehrenamt etwa mit Blick auf die Vereinbarkeit mit Beruf und Familie attraktiver zu gestalten. Auch hier hat der Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt, Sitzungen nun auch digital durchzuführen. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Herr Enkerts, Sie haben gerade die neue Möglichkeit erwähnt, Sitzungen in der Selbstverwaltung auch digital durchführen zu können. Sie wurde im Juli 2023 gesetzlich verankert. Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie in dieser neu geschaffenen Möglichkeit, auch jenseits epidemischer Lagen auf digitalem Wege zusammenzukommen und Entscheidungen treffen zu können?
Enkerts: Nach meiner Einschätzung kommen die meisten Mitglieder der Selbstverwaltung grundsätzlich lieber in Präsenz zusammen. Präsenzsitzungen haben den Vorteil, dass neben den Diskussionen in der Sitzung selbst ein intensiverer Austausch jenseits der eigentlichen Tagesordnung stattfinden kann. Gleichwohl sehen wir gerade auf Arbeitgeberseite, dass es Fälle geben kann, in denen vor allem bei eher kurzen Sitzungen der Aufwand für eine An- und Abreise als unverhältnismäßig zu bewerten wäre. Insbesondere vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit von Familie, Berufstätigkeit und Ehrenamt ist die Möglichkeit von virtuellen oder hybriden Sitzungen durchaus zeitgemäß. Nicht zuletzt reduzieren Videokonferenzen viele Dienstreisen und leisten durch diese Energieeinsparung einen Beitrag zum Klimaschutz.
Wirsch: Digitale und hybride Sitzungen sind Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite sind sie eine Erleichterung zur schnellen Beschlussfassung, andererseits auch eine Verdichtung des täglichen Geschäfts. Eine Präsenzsitzung ist besonders bei schwierigen Diskussionsprozessen absolut vorzuziehen. Hybride Sitzungen stehen am Ende meiner Beliebtheitsskala, da sie den stellvertretenden Mitgliedern in unseren Gremien die Mitwirkung erschweren.
Sie sind nicht nur Vorstandsvorsitzende der DGUV, sondern auch der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik, kurz: BGHW, beziehungsweise der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft, kurz: VBG. Welche Bedeutung hat Ihre Praxiserfahrung für diese Tätigkeit?
Wirsch: Ich will es mal so formulieren: Man weiß, wovon man redet. Das gilt vor allem für die fachliche Arbeit. Aber man hat auch den Blick aus der Sicht einer Berufsgenossenschaft in Richtung des Dachverbands und auch umgekehrt.
Enkerts: Durch meine Praxiserfahrung in der Personaldienstleistungsbranche kenne ich die Themen, die viele Mitgliedsunternehmen bewegen. Als Unternehmer setzte ich mich speziell für die Bezahlbarkeit der Unfallversicherungsbeiträge ein. Zudem ist wichtig, Regelungen und Vorschriften praxisnah zu gestalten und an den tatsächlichen Bedarfen der Mitgliedsunternehmen auszurichten. Auch hier kommt meine Erfahrung als Unternehmer zum Tragen.
Warum sind Sie in den Selbstverwaltungsgremien der DGUV aktiv?
Enkerts: Ich vertrete mit der VBG eine der großen Berufsgenossenschaften und damit auch mehr als 100 unterschiedliche Branchen. Dieses branchenübergreifende Denken bringe ich auch gern in die übergreifenden Themen der Unfallversicherung ein. Als Vorstandsvorsitzender der DGUV kann ich wichtige Herausforderungen mitgestalten und dazu beitragen, dass die gesetzliche Unfallversicherung auch in Zukunft zu den großen Errungenschaften unserer Sozialsysteme zählt.
Wirsch: Als Gewerkschaftssekretär bin ich von Berufs wegen mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Beschäftigten vertraut. In der gesetzlichen Unfallversicherung habe ich festgestellt, dass ich hier mit meinem Engagement dazu auch einen ordentlichen Anteil leisten kann.
Wo sehen Sie Potenzial, um die gesetzliche Unfallversicherung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung sichtbarer zu machen und zu stärken?
Wirsch: Im Betrieb. In der Politik. In Social Media.
Enkerts: Viele Menschen nehmen die gesetzliche Unfallversicherung erst wahr, wenn sie selbst betroffen sind. Da die Versicherten in der Unfallversicherung keine Beiträge zahlen, kommen sie oft erst durch einen Arbeitsunfall mit der zuständigen Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse in Kontakt. Potenzial sehe ich insbesondere im Bereich Prävention, um Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sowohl bei Versicherten als auch bei Arbeitgebenden stärker ins Bewusstsein zu heben.
Das Interview führte Dr. Anna Kavvadias.
Manfred Wirsch ist seit 2014 Vorstandsvorsitzender der DGUV. Er kommt von der Berufsgenossenschaft für Handel und Warenlogistik (BGHW), wo er ebenfalls das Amt des Vorstandsvorsitzenden bekleidet. Manfred Wirsch ist im Hauptberuf Bundesfachgruppenleiter Großhandel bei der Gewerkschaft ver.di. Des Weiteren ist er Präsident des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR).
Volker Enkerts ist seit 2017 Vorstandsvorsitzender der DGUV. Er kommt von der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG), deren Vorstandsvorsitzender er seit 2013 ist. Der Geschäftsführer eines Zeitarbeitsunternehmens ist außerdem Ehrenpräsident des Bundesarbeitgeberverbandes der Personaldienstleister (BAP).