Von der Leyens zweite Amtszeit – ein Start mit ambitionierten Zielen

Spannend ging es zu im vergangenen Jahr. Nicht nur auf nationaler und internationaler Ebene drehte sich das Politikkarussell, auch in Brüssel wurden die Karten neu gemischt. Nach packenden Wahlen, zähen Verhandlungen zu Ausschüssen im Europäischen Parlament und nervenaufreibenden Anhörungen der designierten Kommissarinnen und Kommissare kann das Team von Ursula von der Leyen sich nun endlich auf die Arbeit konzentrieren. Bei ihrer Antrittsrede und in den Auftragsbriefen an ihr neues Kabinett hatte von der Leyen ambitionierte Ziele gesetzt. Jetzt gilt es diese umzusetzen, denn die ersten 100 Tage ihrer zweiten Amtszeit laufen schon seit dem 1. Dezember 2024.
Angesichts der geopolitischen Lage war abzusehen, dass Verteidigung und Wettbewerbsfähigkeit einen wichtigen Stellenwert in den nächsten fünf Jahren auf der europäischen Agenda einnehmen werden. Die Erwartungen sind deswegen besonders hoch. Es wird vor allem darum gehen, die europäische Wirtschaft anzukurbeln und die EU als Standort für Unternehmen wieder attraktiv zu machen. Gleichzeitig gilt es, diese Ziele mit dem digitalen und grünen Wandel in Einklang zu bringen. Das wird eine entscheidende Priorität der Europäischen Kommission sein. Der neue Deal für eine saubere Industrie als Nachfolger des Grünen Deals der vergangenen Legislaturperiode soll dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
Und wie geht es mit der sozialen Dimension Europas weiter? Den sozialen Fragen wird in den politischen Leitlinien von der Leyens ebenfalls Aufmerksamkeit geschenkt, auch wenn sich die zentralen Themen „Beschäftigung und Soziales“ anfänglich in keinem Ressorttitel für die neuen Kommissarinnen und Kommissare wiederfanden. Trotzdem wird Roxana Mînzatu, die Exekutiv-Vizepräsidentin für Fachkräfte, Kompetenzen und Vorsorge, sich mit diesen beiden wichtigen Feldern auseinandersetzen. Dies hat sie im Vorfeld und während ihrer Anhörung im Europäischen Parlament deutlich gemacht. Die Hartnäckigkeit von Mînzatu und ihrer Fraktion zahlte sich aus, denn als Exekutiv-Vizepräsidentin für qualitativ hochwertige Arbeitsplätze und soziale Rechte, Bildung, Kompetenzen und Vorsorge (Quality Jobs and Social Rights, Education, Skills and Preparedness) sind nun auch alle Bereiche ihres Ressorts fest in ihrem Titel verankert.
Ihr Mandat stützt sich auf drei Säulen: Vorbereitung, hochwertige Arbeitsplätze und soziale Gerechtigkeit. Neben der Erstellung eines neuen Aktionsplans für die europäische Säule sozialer Rechte wird sie damit in den kommenden fünf Jahren die Einführung des Rechts auf Nichterreichbarkeit, die Verbesserung des europäischen Ansatzes für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz und die Modernisierung sowie Digitalisierung der Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme verantworten. Als Vizepräsidentin sind ihr vier Kommissarinnen und Kommissare unterstellt, die mit ihr zusammenarbeiten müssen. So müssen sich zum Beispiel bei Initiativen zur physischen Gesundheit der Kommissar für Gesundheit und der Kommissar für Generationengerechtigkeit, Jugend, Kultur und Sport mit ihr abstimmen.
Ähnlich verzweigt ist der Arbeitsbereich von Stéphane Séjourné, der als Exekutiv-Vizepräsident für Wohlstand und eine europäische Industriestrategie eine weitere Schlüsselrolle für die Belange der gesetzlichen Unfallversicherung einnimmt. Er wurde beauftragt, die oft verschobene Reform der REACH-Verordnung in Angriff zu nehmen und Klarheit für den Umgang mit per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS) zu schaffen. Zusammen mit der Umweltkommissarin wird er diesem Auftrag nachkommen. Außerdem soll er die Entwicklung systematischer Normen beschleunigen. Kritik musste die Belgierin Hadja Lahbib für den Zuschnitt ihres Ressorts einstecken. Durch ihre Doppelrolle als Kommissarin für Vorsorge und Krisenmanagement sowie für Gleichberechtigung fürchten einige, dass die Themen der ehemaligen Gleichstellungskommissarin unterrepräsentiert sind. Die Angst wirkt berechtigt, vor allem da ihr Auftragsbrief den Initiativen für Menschen mit Behinderung wenig Platz einräumt.
In diesem komplizierten Geflecht von Abhängigkeiten und sich überschneidenden Zuständigkeiten kann niemand zu viel Einfluss gewinnen. Denn durch die kluge Verteilung der Aufgaben auf mehrere Schultern können einzelne Kabinettsmitglieder ohne von der Leyen wenig ausrichten, und somit scheint es, dass sie in dieser Amtszeit die vollständige Kontrolle über die Kommission erlangt. Ob sich dies bewahrheiten wird, bleibt abzuwarten.