Arbeit 4.0 und Prävention: Studierende und Unfallversicherung arbeiten Hand in Hand
Veränderungen in der Arbeitswelt führen zu Herausforderungen für die Prävention. In einem Kooperationsprojekt der Unfallkasse Rheinland-Pfalz und der Universität Trier wurde eine Befragungsmethode entwickelt, um in Betrieben gesundheitsrelevante Auswirkungen veränderter Belastungen und Ressourcen darzustellen und daraus Anpassungen in den Präventionsleistungen abzuleiten.
„Wir nehmen die Herausforderungen der Digitalisierung an und begleiten die Betriebe, Bildungseinrichtungen und Versicherten durch den Wandel“ ist eine Position der gesetzlichen Unfallversicherung zur Prävention.[1] Die fortschreitende Digitalisierung und der Wandel der Arbeitswelt (Arbeit 4.0) führen zu veränderten Rahmenbedingungen und neuen Formen der Arbeitsgestaltung. So ist dieser Wandel auch in landesweiten und kommunalen Einrichtungen des öffentlichen Dienstes in Rheinland-Pfalz spürbar.
Die Unfallkasse Rheinland-Pfalz berät als Unfallversicherungsträgerin im Sinne ihres Präventionsauftrags ihre Mitglieder und Versicherten zu Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. In den Mitgliedsbetrieben werden bereits Neuerungen wie der verstärkte Einsatz von Homeoffice, die veränderte Nutzung von Räumlichkeiten, neue Technik und neue Formen der Führung und Zusammenarbeit umgesetzt. Die Unfallkasse Rheinland-Pfalz stellt sich diesen Veränderungen und möchte möglichst frühzeitig Lösungen und Beratungsansätze entwickeln, um ihren Mitgliedern geeignete und wirksame Produkte, Informationen und Beratungsleistungen zur Prävention anbieten zu können.
So ergaben sich folgende Fragestellungen:
- Wie wirkt sich der Wandel der Arbeitswelt im Betriebsalltag aus und welche Bedeutung haben die Veränderungen für die Sicherheit und Gesundheit der Versicherten?
- Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es zu den veränderten Belastungen, Ressourcen und gesundheitlichen Auswirkungen?
- Wo stehen die Mitgliedsbetriebe und bei welchen Herausforderungen benötigen sie Hilfen und Informationen von der Unfallkasse Rheinland-Pfalz?
- Bietet die Unfallkasse Rheinland-Pfalz geeignete und wirksame Präventionsleistungen, Beratungsansätze, Produkte und Informationen an?
Der zuständige Fachbereich „Gesundheit, Kultur und Arbeitsfähigkeit“ ging zur Beantwortung dieser Fragestellungen eine Kooperation mit der Abteilung Wirtschaftspsychologie der Universität Trier ein. Das gemeinsame Projekt „Arbeit 4.0 – Weiterentwicklung der Beratungskompetenz der Unfallkasse Rheinland-Pfalz für ihre Mitglieder“ wurde im Sommer 2022 im Rahmen der Lehrveranstaltung „Studentische Organisationsberatung“ des Masterstudiengangs Psychologie an der Universität Trier durchgeführt. Unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Ellwart entwickelte ein studentisches Projektteam zusammen mit der Unfallkasse Rheinland-Pfalz ein modellbasiertes Interviewkonzept und pilotierte dies in ausgewählten Mitgliedsbetrieben.
Im Folgenden werden der Aufbau und die Ergebnisse des Projektes umrissen. Die Methodik und Ergebnisse können für die Präventionsarbeit von Unfallversicherungsträgern oder anderen Einrichtungen sowie für Anschlussprojekte wertvoll sein.
Projektaufbau und Methodik
Im studentischen Team der Universität Trier arbeiteten Nele Dischhäuser, Fabian Majeske, Corinna Pförtner und Nicolas Schmidschneider unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Ellwart. Seitens der Unfallkasse Rheinland-Pfalz wurde das Projekt von dem damaligen Präventionsleiter Dr. Christoph Heidrich sowie Helin Dogan und Sabrina Mankel aus dem Fachbereich „Gesundheit, Kultur und Arbeitsfähigkeit“ unterstützt.
Nachdem in Auftragsklärungsgesprächen und einer Kick-off-Veranstaltung das gemeinsame Verständnis zu Intention und Fragestellungen des Projektes hergestellt worden war, wurde das Projekt in drei Phasen gegliedert:
- Wissenschaftliche Literaturrecherche und schriftliche Ausarbeitung: Es wurden Literaturrecherchen zur Thematik durchgeführt und Kurzexpertisen zu den projektrelevanten Fragen aus Sicht der Wissenschaft erstellt.
- Durchführung von Interviews mit Mitarbeitenden der Unfallkasse Rheinland-Pfalz: Es wurden halbstrukturierte Interviews mit der Präventionsleitung, den Aufsichtspersonen und weiteren Präventionsmitarbeitenden der Unfallkasse zu aktuellen und zukünftigen Präventionsthemen und Handlungsfeldern sowie Instrumenten und Maßnahmen durchgeführt.
- Durchführung von Interviews mit Mitgliedsbetrieben der Unfallkasse Rheinland-Pfalz: Es wurden halbstrukturierte Interviews mit je einem Landesbetrieb, einer Kreisverwaltung, einer Stadtverwaltung, einer Verbandsgemeindeverwaltung und einem Entsorgungsbetrieb durchgeführt. Befragt wurden Verantwortliche aus Personal und Organisation nach den konkreten Herausforderungen und Veränderungen ihrer Arbeitswelt, Präventionsbereichen und Beratungsbedarfen zum Thema Arbeit 4.0.
Ergebnisse
Zu den Ergebnissen des Projektes gehört eine halbstandardisierte Interviewmethode für den Einsatz in Mitgliedsbetrieben. In Schritt 1 sollten zunächst die konkreten Veränderungen beschrieben werden, die heute oder in den kommenden Jahren unter dem Stichwort „Arbeit 4.0“ im eigenen Betrieb eine Herausforderung darstellen (siehe gelber Bereich in Abbildung 1). Angelehnt an ganzheitliche Ansätze der Arbeitsanalyse wurden die Veränderungen entlang von sechs Arbeitsmerkmalen beschrieben: Arbeitsorganisation, Führung/Teamprozesse, Umgebung, Arbeitsaufgabe, Technik und Mensch.
So wurden im Projekt beispielsweise Veränderungen im Bereich der „Technik“ berichtet wie die Nutzung neuer Kommunikationstechnologien oder der Einsatz von KI-Systemen. Bei dem Merkmal „Mensch“ wurden Veränderungen von Bedürfnissen, Motiven und Fähigkeiten der Mitarbeitenden beschrieben. Im Bereich „Arbeitsorganisation“ standen Veränderungen der Strukturen und der Organisation von Arbeit im Mittelpunkt, beispielsweise die Abnahme hierarchischer Strukturen. „Führung/Teamprozesse“ betrafen die Veränderungen in der Führungsverantwortung/-aufgabe und der Zusammenarbeit im Team. Die „Umgebung“ der Arbeitsplätze verändert sich hinsichtlich räumlicher und zeitlicher Aspekte, zum Beispiel Arbeitszeitflexibilität. Schließlich wurden Veränderungen in den „Arbeitsaufgaben“ beschrieben, wie zunehmende Komplexität oder erhöhter Handlungsspielraum.
Die in Schritt 1 reflektierten betriebsspezifischen Veränderungen bildeten den Ausgangspunkt für die anschließende Reflexion der gesundheitsrelevanten Auswirkungen durch veränderte Belastungen und Ressourcen (blauer Bereich in Abbildung 1). Hierbei sollten sowohl positive als auch negative Veränderungen in Bezug auf die einzelne Person, das Team, die Führungskraft sowie die Organisation als Ganzes beschrieben werden. So kann eine Flexibilisierung von Arbeitszeit zu weniger Erholungszeiten führen, zugleich aber auch eine positive Ressource in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben darstellen.
In Schritt 3 folgten schließlich Fragen zu den konkreten Präventionsbedarfen an die Unfallkasse (grüner Bereich in Abbildung 1).
Nach der Durchführung der Interviews wurden vom studentischen Team betriebsübergreifende „Arbeitswelten“ identifiziert, die Veränderungen des Arbeitsplatzes sowie gesundheitsrelevante Auswirkungen in Form von Ressourcen und Belastungen zusammenfassend darstellen. In jeder Arbeitswelt wurden mögliche Präventionsansätze und Beratungsformen skizziert, die von den interviewten Mitgliedsbetrieben vorgeschlagen wurden.
Die Arbeitswelt „Fachkräftemangel“ beschreibt den Umstand, dass Stellen im Betrieb unbesetzt bleiben oder mit niedrig qualifiziertem Personal oder Quereinsteigern und Quereinsteigerinnen besetzt werden und es zu Personalengpässen kommt. Hierzu berichten die interviewten Personen von Überforderung, Ungerechtigkeitsempfinden sowie Unsicherheit und sehen einen allgemeinen Ansatz zur Prävention darin, die Attraktivität der Stellen zu erhöhen und die Prozesse zu verschlanken. Von der Unfallkasse wünschen sich die Mitgliedsbetriebe Schulungen für Führungskräfte zum Priorisieren und Delegieren von Aufgaben oder Schulungen zu Resilienz.
In der Arbeitswelt „Homeoffice“ geht es darum, dass immer mehr Menschen von zu Hause aus arbeiten, neue Technik organisiert und angewendet werden muss, Führungskräfte einen Kontrollverlust erleben und der kollegiale Austausch abnimmt. Die Interviewten berichten von Überforderung, Belastung, Vereinsamung, erwähnen jedoch gleichzeitig die Vorteile wie Vereinbarkeit von Beruf und Familie, fokussiertes Arbeiten oder erhöhte Autonomie. Als generellen Ansatz zur Prävention werden Schulungen zu neu eingesetzter Software oder digitale informelle Besprechungsformate erwähnt. Von der Unfallkasse wünschen sich die Mitgliedsbetriebe Informationen zu konkreten Umsetzungsmodellen.
In der Arbeitswelt „Veränderte Bedürfnisse und Erwartungen an die Arbeit“ werden Wünsche nach Flexibilität, Work-Life-Balance und einer veränderten Führung mit flacheren Hierarchien beschrieben. Als Belastungen werden dabei Komplikationen in der Arbeitsorganisation, Überlastung, unklare Position der Führungskraft im Team oder Konflikte benannt. Ebenso wie beim Fachkräftemangel wird auch hier die Attraktivität der Stellen als geeignete Maßnahme gesehen. Von der Unfallkasse werden auch hier Schulungen für Führungskräfte gewünscht, vor allem zur Priorisierung und zum Delegieren von Aufgaben.
Die Arbeitswelt „Arbeitsaufgabe“ umfasst die zunehmende Komplexität und Unsicherheit durch neue Aufgaben, schnellere Kommunikation durch E-Mails und Wechsel zwischen Aufgaben und die damit einhergehende schwierigere Organisation von Arbeit. Als Auswirkungen werden hier Unsicherheiten, Ängste, Überlastung, Druckempfinden und Überforderung genannt. Technische Lösungen zur besseren Organisation der Arbeit und Veränderung der Informationsflut, Ausgleichsangebote für Beschäftigte und eine Anspruchsreduktion der Personen selbst werden hier als präventive Möglichkeiten beschrieben.
„Datensicherheit und rechtliche Auflagen (Arbeitsschutz)“ wird die Arbeitswelt genannt, in der es um die Einhaltung rechtlicher Rahmenbedingungen, insbesondere der Datensicherheit im Digitalisierungsprozess, aber auch des Arbeitsschutzes geht. Als herausfordernd werden hier der schnelle Wandel rechtlicher Grundlagen und die hohen Hürden im öffentlichen Sektor beschrieben. Damit verbunden sind auch hier Unsicherheiten, Überlastung, Informationsflut oder das Gefühl der „Überwachung“. Umstrukturierungen oder die Schaffung neuer Stellen und der Kompetenzerwerb der Mitarbeitenden werden hier als allgemeine Ansätze zur Begegnung der Herausforderungen gesehen. Von der Unfallkasse werden Schulungen zu Aufgaben und Pflichten von Führungskräften gewünscht.
In der Arbeitswelt „Digitalisierung – Kommunikation“ geht es unter anderem um Schnelligkeit und hohe Informationsmengen, vermehrte Unterbrechungen und erhöhte Erreichbarkeit. Neben Überlastungen werden Konflikte und geringe soziale Interaktionen als Belastungen beschrieben. Konträr dazu werden gleichzeitig weniger Konflikte und ein erhöhter Schutz vor Anfeindungen durch digitale Kommunikation gesehen. Auch effektiveres, schnelleres Arbeiten mit weniger Störungen wird genannt. Digitaler informeller Austausch, automatische Abwesenheitsantworten und stärkere Selbstorganisation wie Selbst- und Zeitmanagement werden als mögliche präventive Ansätze betrachtet. Zusätzlich werden hier festgelegte Rahmenbedingungen über die Nutzung von digitalen Kommunikationsmedien, Technikschulungen und das Führen über Ziele aufgeführt.
Fazit
Das Vorgehensmodell im halbstandardisierten Interviewformat hilft den Mitarbeitenden der Prävention dabei, die komplexen Veränderungen der betriebsspezifischen Arbeitswelt zu beschreiben und Belastungen auf verschiedenen Ebenen zu betrachten. Die Präventionsbedarfe und Wünsche der Mitgliedsbetriebe wurden in der Unfallkasse Rheinland-Pfalz bereits aufgegriffen und haben zu neuen Angeboten geführt. So wurden beispielsweise umfangreiche Qualifizierungsreihen für Führungskräfte zur Förderung der Gesundheit ihrer Beschäftigten und ihrer eigenen Gesundheit unter dem Blickwinkel der Gestaltung guter Arbeitsbedingungen ausgebaut und etabliert. Der „Homeoffice-Guide“ der Unfallkasse Rheinland-Pfalz ist zu einem sehr wichtigen Medium mit Informationen, Tipps und Empfehlungen für Arbeitgeber, Arbeitgeberinnen, Verantwortliche und Führungskräfte geworden. Zur Stärkung von Selbstorganisationsfähigkeiten beinhaltet er zusätzlich viele Tipps und Empfehlungen für Beschäftigte zur digitalen Arbeit im Homeoffice.
Für das studentische Team bot die Kooperation die Möglichkeit, bereits im Studium wissenschaftliche Recherchen und Kurzexpertisen mit Erfahrungen im Betrieb zu verbinden. Auch für zukünftige Forschungsthemen der Abteilung Wirtschaftspsychologie setzt das Projekt Impulse. So sollen zukünftig die Themen „Identifikation dysfunktionaler Arbeitsprozesse“ und „Resilienz in soziotechnischen Systemen“ bearbeitet werden.
Neben dieser gewinnbringenden Kooperation zwischen Wissenschaft und gesetzlicher Unfallversicherung, die in Zukunft bei der Thematik weiter ausgebaut werden soll, sieht sich die Unfallkasse letztlich darin bestätigt, dass sichere und gesunde Arbeitsbedingungen in der heutigen und zukünftigen Arbeitswelt an Bedeutung gewinnen und weiterhin stark unterstützt werden müssen.