„Unfallversicherung muss sich gegenüber neuen Entwicklungen öffnen“

Wie verändern sich unsere Lebens- und Arbeitswelten? Welche Trends sind absehbar in der Gesellschaft? Welchen Einfluss haben technische Entwicklungen? Der Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, Erik Bodendieck, gibt einen Überblick und leitet Konsequenzen für zukünftige Entwicklungen ab.

Wenn wir das Gesundheitssystem von morgen betrachten, dann müssen wir über das Heute reden, denn sehr viele Entwicklungen haben begonnen oder sind bereits abgeschlossen, deren Auswirkungen in den nächsten Jahren zu erheblichen Veränderungen, sogar disruptiven Veränderungen im Gesundheitswesen führen werden. Eine weitere Frage ist, welche Konstanten uns dabei erhalten bleiben.

Wenn ich mich dem Thema nähere, möchte ich dies über folgende drei Hauptfelder tun:

  • Veränderungen in der Gesellschaft
  • Veränderungen in den Lebens- und Arbeitswelten
  • Veränderungen im Gesundheitswesen
Erik Bodendieck, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer | © SLAEK
Erik Bodendieck, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer ©SLAEK

Veränderungen in der Gesellschaft

Veränderte Lebens- und Umweltbedingungen, weniger schwere körperliche Tätigkeiten sowie der medizinisch-technische Fortschritt führen vor allem in den hoch entwickelten Industrienationen zu einer Gesellschaft des „langen Lebens“. Wir beobachten seit Längerem eine Veränderung der sogenannten Alterspyramide hin zur Form eines Laubbaumes mit Betonung der Krone. Insbesondere der deutlich abnehmende Teil der jüngeren Generationen gibt Anlass zu besonderer Besorgnis. Gleichzeitig gibt es mehr Menschen, die gesund alt werden und länger arbeitsfähig bleiben, zumindest für leichte körperliche oder pädagogische Tätigkeiten. Dies führt zwingend zu Veränderungen bei den Lebensbiografien. Den typischen Lebenslauf – Geburt, Kindheit, Schule, Ausbildung, Beruf, Rente – wird es so nicht mehr geben. Es bedarf deshalb vor allem im Bereich der Berufsausübung Veränderungen und Anpassungen an die körperlichen und mentalen Möglichkeiten des Einzelnen. Lebenslanges Lernen erfährt hier eine besondere Bedeutung.

Hinzu kommen Veränderungen im Sozialgefüge. Immer mehr Singlehaushalte in allen Lebensphasen führen auch zu besonderen Herausforderungen an die psychische Verfasstheit des Einzelnen. Im Alter kommt dann ein zunehmender Hilfebedarf dazu. Gleichfalls ist der Hilfebedarf von Menschen mit körperlichen und/oder auch geistigen Einschränkungen in allen Lebensphasen zu berücksichtigen.

In fast allen Bereichen erleben wir derzeit einen Fachkräftebedarf. Unsere heutige Gesellschaft scheint kaum mehr in der Lage zu sein, diesen Bedarf aus eigener Kraft zu decken. Dies erscheint von erheblicher Bedeutung, weil sich der demografische Wandel auf der einen Seite und neue Anforderungen an Arbeitszeit und -bedingungen auf der anderen deutlich verschärfend auswirken. Verstärkt wird der Fachkräftebedarf auch infolge einer Überbürokratisierung und eines Kontrollbedürfnisses in unserer heutigen Gesellschaft.

Migration und/oder Wanderungsbewegungen werden hier nur bedingt hilfreich sein. Versuche zur Anwerbung von Fachkräften für Deutschland waren in der Vergangenheit nicht von besonderem Erfolg geprägt. Es stellt sich immer wieder die Frage nach der schulischen und beruflichen Qualifikation von Menschen, welche beispielsweise auf der Flucht nach Deutschland kommen. Zusätzlich wirken sich innerdeutsche Probleme negativ aus. Zu nennen sind erhebliche bürokratische Hürden sowie ein gesellschaftliches Klima, das nicht überall von Aufnahme- und Integrationsbereitschaft geprägt ist. Den Menschen, die bereit sind, ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, gilt unsere Fürsorge, insbesondere in der gesetzlichen Unfallversicherung.

Extremistische Entwicklungen, egal aus welcher Richtung, helfen uns nicht, die Zukunftsaufgaben zu bewältigen. Wir stellen fest, dass unser Arbeitsmarkt, aber auch unsere Sozialsysteme auf Zuwanderung angewiesen sind. Dies kann und darf aber nicht um jeden Preis erfolgen.

Veränderungen in den Lebens- und Arbeitswelten

Bei allen gesellschaftlichen Debatten dürfen wir uns nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass wissenschaftlich nachgewiesen ein Klimawandel außer Frage steht. Es lässt sich sicher über die Frage „menschengemacht“ oder natürlicher Zyklus streiten. Dies hilft in der Betrachtung aber nicht weiter. Weiter südlich gelegene Länder kennen das Phänomen der Hitze bereits gut und haben ihr Leben und Arbeiten daran angepasst – zu nennen seien hier beispielsweise lange sommerliche Schulferien oder die berühmte „Siesta“. Hitze, lange Trockenphasen, fehlende Kälteperioden bergen aber besondere Gesundheitsrisiken in sich. Zum einen wird immer noch die Auswirkung von Hitze auf den menschlichen Körper unterschätzt. Zum anderen erhöht sich insbesondere die Gefahr für bisher als tropisch bezeichnete Infektionskrankheiten. Erinnern wir nur daran, dass mit einer zunehmenden Zahl an Dengue-Fieberfällen zu rechnen ist und auch die Malaria immer wieder in Deutschland ankommt. Fehlende typische Kälteperioden können ebenfalls zu einer besonderen Gefahr, zum Beispiel bei Berufen in den Baugewerken, führen. Morgendlicher Tau und auch Überfrierungen bergen erhöhte Unfallgefahren, wenn nicht grundsätzlich aufgrund des Winters Außenarbeiten eingestellt sind.

Immer mehr Menschen wollen in den urbanen Räumen wohnen und arbeiten. Neben einer erheblichen Verdichtung der Lebensbedingungen ist hier auch das Klima besonders zu betrachten. Häuserschluchten, Fabrikhallen und auch Bürotürme wirken sich auf Arbeitsbedingungen aus. Urbanisierung heißt auch Verdichtung des Verkehrsaufkommens, schnellere Abläufe und besondere Beanspruchung der Psyche durch unaufhaltsames Einströmen von Eindrücken. Dies könnte aus meiner Sicht ein erheblicher Grund auch für die Vereinzelung und den Verlust des nachhaltigen Gemeinschaftssinnes sein.

Die Technisierung unserer Lebens- und Arbeitswelt schreitet massiv voran. Vielfach werden bisher schwere, anspruchsvolle oder Routinearbeiten bereits heute von Maschinen übernommen. Das erscheint sinnvoll und entspricht dem menschlichen Bedürfnis nach Weiterentwicklung und Vereinfachung des Lebens. Allerdings greift Technik auch zunehmend auf Bereiche über, die bisher allein menschlicher Tätigkeit zugewiesen waren, wie beispielsweise „Pflegeroboter“ in der Pflege. Aber nicht nur in der Ausübung der Arbeit kennen wir bereits heute technische Hilfsmittel, sondern auch in der Rehabilitation. Ich erinnere hier an sogenannte „Exoskelette“ oder KI-gesteuerte Prothesen nach Amputation.

Die Coronapandemie hat ein Gefühl der schnellen Digitalisierung hervorgebracht, tatsächlich macht sich dies bereits seit Einführung des Smartphones in rasanter Art und Weise bemerkbar. Der Computer, das Lexikon, das Kommunikationsmittel, welches nicht nur das gesprochene Wort überträgt und in der Tasche steckt, hat bereits unser Leben disruptiv verändert. Ich empfehle jedem, einfach einmal seine tägliche Bildschirmzeit zu beobachten oder sich zu fragen, was von seinem „Schul- und Ausbildungswissen“ schnell und komplex ohne Hilfsmittel jederzeit abrufbar ist. Mithin stelle ich aber auch fest, dass es nicht etwa so ist, dass junge Menschen gegenüber Digitalisierung affiner seien als alte Menschen. Aus meiner Sicht hängt dies sehr viel von sozialen Kompetenzen und bewusstem Erleben ab. Neueste Entwicklungen wie Large Language Models (LLM) halten sofort Einzug in unser nicht nur berufliches Leben.

Letztlich führen diese Entwicklungen zusammengenommen zur Möglichkeit des „mobilen Arbeitens“. Dies kann sicher in vielerlei Hinsicht den heutigen Ansprüchen an Lebens- und Arbeitsbedingungen gerecht werden. Ich erwarte hier aber auch weitere rasante Entwicklungen. Stellen wir uns einmal vor, dass der Chirurg nicht mehr am Patienten steht, sondern von zu Hause aus einen Roboter bedient und überwacht, der für ihn operiert. Untersuchungen zeigen zum Teil eine höhere Produktivität durch mobiles Arbeiten. Diese Form der Arbeit stellt aber auch wieder besondere Anforderungen an die psychische und körperliche Verfasstheit des Einzelnen und sorgt für weniger Gruppendynamik.

Der Mensch ist aber auf Gemeinschaft angewiesen. Es bedurfte schon immer der Anderen, um das Überleben des Einzelnen zu sichern. Einerseits um die Ernährung sicherzustellen, andererseits um im Rahmen der Arbeitsteilung Wissen zu fokussieren und zu entwickeln. Gemeinschaft ist aber auch erforderlich, um besondere Belastungen zu bestehen. Letztlich kann man immer wieder feststellen, dass bei wegbrechender Gemeinschaft die Leistungsfähigkeit und Resilienz gegenüber verschiedenen Belastungen des Einzelnen sinken.

Menschen mit angeborenen oder erworbenen mentalen und/oder körperlichen Einschränkungen haben ein verbrieftes Recht auf Gleichbehandlung in unseren gesellschaftlichen Systemen. Natürlich ergeben sich daraus nochmals erhöhte Anforderungen an Lebens- und Arbeitsbedingungen bis hin zu besonderen Arbeitsschutzstandards. Aus meiner Sicht führt an einer Inklusion der Betroffenen aber nicht nur aus rein humanistischer Sicht kein Weg vorbei. Vielfach ergeben sich durch die Einschränkungen auch besondere Stärken. Das Potenzial und die besonderen Sichtweisen von Menschen mit Handicaps dürfen in unserer Gesellschaft nicht ungenutzt bleiben.

Veränderungen im Gesundheitswesen

Verschiedene Untersuchungen[1] zeigen, dass sich Wissen heute alle 73 Tage verdoppelt. Dies gilt offensichtlich auch für medizinisches Wissen. Dessen Halbwertszeit wird aber nach wie vor mit 45 Jahren angegeben, wobei große Themen, welche auch in Leitlinien beschrieben sind, mit fünf Jahren angegeben werden. Pro Jahr werden weltweit etwa 25.000 wissenschaftliche Studien in der Medizin vorgelegt.

Trotz dieser rasanten Wissensentwicklung bleiben bei regelmäßiger Fortbildung die Kompetenzen der Fachkräfte aktuell. Hinzu kommt die Erfahrung des Einzelnen. Evidenzbasierte Medizin nach David Sackett[2] vereint dabei die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen Evidenz aus klinischer Forschung und der Präferenz des Patienten. Es kommt besonders auf kommunikative Kompetenzen des Fachpersonals an, um den Patienten bestmöglich zu informieren und ihn damit in die Lage zu versetzen, für sich zu entscheiden.

Wie oben angedeutet, geht am Gesundheitswesen die Technisierung keinesfalls vorbei. Bereits seit Jahren sind OP-Roboter im Einsatz, allerdings nicht nur dies. Mithin sehen wir den Fortschritt im Bereich der medizinischen Technik. Es gibt unzählige Beispiele. Besonders interessant scheinen die Entwicklungen im Bereich des 3-D-Drucks oder der Prothesentechnik zu sein. Weitere Beispiele sind die Entwicklungen bei Implantaten wie Schrittmacher, Defibrillatoren, Pumpen und vieles mehr.

Ein besonderes Augenmerk gilt dem Monitoring der Patientinnen und Patienten im häuslichen Bereich bei Vorliegen chronischer Erkrankungen. Bewiesen ist bereits, dass dies nicht nur die Lebensqualität verbessert, sondern auch Lebensjahre schenken und Krankenhausaufenthalte reduzieren kann, sofern die Ergebnisse des Monitorings regelmäßig ausgewertet werden und gegebenenfalls zu Therapieänderungen führen.

Auch in der Prävention und Rehabilitation stehen verbesserte technische Möglichkeiten zur Verfügung. Bereits heute werden zum Beispiel VR-Brillen in der Physiotherapie eingesetzt.

Integraler Bestandteil der technischen Entwicklungen sind dabei die Digitalisierung und Auswertung der Ergebnisse, beispielsweise des Monitorings mittels künstlicher Intelligenz (KI). Aber nicht nur dies. Wie erwähnt, sehen wir eine rasante Wissensentwicklung. Mittels modernster LLM wird es beispielsweise möglich sein, Leitlinieninhalte schnell zu erfassen und zielgerichtet zu durchsuchen. Die Translation neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse wird sich dadurch erheblich beschleunigen lassen. Es stellt sich sogar die Frage, ob das Nichtanwenden von Digitalisierung und KI in der modernen Medizin in Zukunft als ärztlicher Kunstfehler gewertet werden kann.

Einordnung der gesetzlichen Unfallversicherung

Für die gesetzliche Unfallversicherung gilt: Leistungen werden „mit allen geeigneten Mitteln“ erbracht. Diesem Anspruch wird die gesetzliche Unfallversicherung nur gerecht, wenn sie sich den beschriebenen Entwicklungen öffnet. Sie kann dabei aufgrund ihrer besonderen Stellung in der Sozialversicherung und ihrer Aufgaben in der Prävention von arbeitsbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen Maßstäbe und Standards setzen. Mithin kann die gesetzliche Unfallversicherung auch im Bereich von Therapie und Rehabilitation nach Arbeitsunfällen und bei Berufskrankheiten aufgrund ihres besonderen Wissens und ihrer Spezialisierung wegweisend sein.

Die gesetzliche Unfallversicherung muss aus meiner Sicht Motor in der Entwicklung des Gesundheitswesens und in der Anwendung neuer Methoden sein.