Aktuelle Ergebnisse des Risikoobservatoriums der DGUV

Proaktive Prävention wird mit den stetigen Veränderungen und dem schnellen Wandel der Arbeits- und Bildungswelt immer wichtiger. Das Risikoobservatorium der DGUV leistet durch die branchenspezifische Analyse neuer und neu aufkommender Entwicklungen in der Arbeits- und Bildungswelt einen Beitrag zur frühzeitigen Identifikation von Präventionsschwerpunkten.

Risikoobservatorium der DGUV

Die Unfallversicherungsträger beauftragten das Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA) 2011 mit der Entwicklung und dem Aufbau eines Risikoobservatoriums. Ziel des Risikoobservatoriums ist es, für die Sicherheit und Gesundheit der Versicherten der gesetzlichen Unfallversicherung relevante Entwicklungen in der Arbeitswelt, in Hochschulen, Schulen und Kitas frühzeitig zu identifizieren. Die Unfallversicherungsträger erhalten so Anhaltspunkte für zielgerichtete, proaktive Präventionsmaßnahmen in der nahen Zukunft. 2012 startete das Risikoobservatorium mit der ersten Befragungsrunde (bis 2015). Mittlerweile sind die zweite Befragungsrunde (2017 bis 2019) und ihre Evaluation abgeschlossen.

Die zweite Befragungsrunde

Befragt wurden Aufsichtspersonen ergänzt um weitere Präventionsfachleute der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Befragung erfolgte zweistufig und branchenspezifisch. In der ersten Befragungsstufe bewerteten insgesamt 865 Präventionsfachleute, etwa 40 für jede Branche, relevante Entwicklungen. Dabei ging es um die Bedeutung jeder Entwicklung für die Sicherheit und Gesundheit der Versicherten auf einer Skala von 1 (gar nicht bedeutsam) bis 9 (sehr bedeutsam). Auf Basis statistischer Kennzahlen und Bewertungen wurden anschließend die bedeutsamsten Entwicklungen für jede Branche identifiziert. Diese Top-Entwicklungen gingen in die zweite Befragungsstufe ein, an der sich knapp 800 Präventionsfachleute beteiligten. Sie erstellten Rangreihen für die Top-Entwicklungen ihrer Branche und benannten Präventionsideen.

Die Befragung erfolgte zeitlich versetzt in drei Gruppen (Clustern) von Unfallversicherungsträgern: Cluster I umfasste alle Unfallkassen und die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Cluster II die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG), die Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft Post-Logistik Telekommunikation (BG Verkehr) und die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) und Cluster III die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN), die Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM), die Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI), die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) und die Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM). So konnten verwandte Branchen gemeinsam ausgewertet werden: Speditionen finden sich beispielsweise sowohl in den Branchen Gütertransport Straße (BG Verkehr) als auch Warenlogistik (BGHW); Kitapersonal kann bei den Unfallkassen oder der BGW versichert sein.

Eine abschließende Online-Befragung von Fachkräften für Arbeitssicherheit (Sifas) diente der Ergebnis-Evaluation. Die Evaluation prüfte exemplarisch für sechs Branchen, inwieweit Präventionsfachleute der gesetzlichen Unfallversicherung und Sifas die Relevanz von Entwicklungen in diesen Branchen vergleichbar einschätzen. Die Ergebnisse des Risikoobservatoriums wurden weitestgehend bestätigt. Die geringste Übereinstimmung in den sechs Branchen lag bei 77,5 Prozent, die höchste bei 92,3 Prozent.

Die Arbeitswelt erlebt einen ständigen, teils raschen Wandel. Das Risikoobservatorium hilft diesen Wandel branchenbezogen zu konkretisieren.

Ergebnisse

Erkenntnisse aus dem Risikoobservatorium ergeben sich zum einen aus den Rangreihen der Top-Entwicklungen, die Auskunft darüber geben, welche Themen für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten einer Branche in der nahen Zukunft eine besonders wichtige Rolle spielen. Solche Rankings liegen für 42 Branchen vor. Zum anderen entstanden für 37 Branchen auf Basis der Rankings und umfassender Literatur- und Internetrecherchen zusätzlich sogenannte Branchenbilder. Sie stellen die bedeutsamsten Entwicklungen der nahen Zukunft dar, beleuchten gezielt die für den Arbeitsschutz in der Branche relevanten Aspekte – oft auch in Form von Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Entwicklungen und damit verknüpften Risiken, aber auch Chancen – und bieten Ideen für Präventionsmöglichkeiten. Zu 13 der Branchen gibt es zusätzlich zweiseitige, grafisch aufbereitete Kurzfassungen.[1]

Um trotz branchenspezifischer Abfragen – die zu bewertenden Entwicklungen variierten von Branche zu Branche – zu einer Gesamtauswertung zu kommen, wurde gezählt, wie oft bestimmte Entwicklungen in der Top-Rangreihe der Branchen auftauchten. Dabei wurde sowohl innerhalb eines Clusters gezählt als auch über alle ausgewerteten Branchen hinweg. In Cluster I waren es insgesamt 13 Branchen, elf in Cluster II und 18 in Cluster III. Aus Darstellungsgründen ist die Gesamtauswertung auf die ersten 20 Ränge begrenzt, das heißt, die Auswertung zeigt die 20 Entwicklungen, die es zahlenmäßig über alle Branchen hinweg am häufigsten in die Gruppe der besonders präventionsrelevanten Themen geschafft haben. Abbildung 1 fasst das Ergebnis der Auszählung zusammen.

Abbildung 1: Anzahl der Nennungen einzelner Entwicklungen in den Top-Rangreihen der Branchen (clusterweise und branchenübergreifend)  | © IFA
Abbildung 1: Anzahl der Nennungen einzelner Entwicklungen in den Top-Rangreihen der Branchen (clusterweise und branchenübergreifend) ©IFA

Präventionsschwerpunkte

Am häufigsten unter die Top-Entwicklungen gelangten der Fachkräftemangel und der demografische Wandel (beide 33 Mal), gefolgt von Arbeitsverdichtung (31 Mal), Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems (27 Mal) sowie interkulturellen und sprachlichen Anforderungen (25 Mal). Diese „Top Five“ fanden sich in mindestens zwei Dritteln aller Branchen unter den Top-Entwicklungen. Sie haben eine weitreichende Relevanz für die Sicherheit und Gesundheit der Versicherten aller Branchen. Sie eignen sich damit theoretisch für gemeinsame Präventionsaktionen in der gesetzlichen Unfallversicherung, zum Beispiel als Kampagnenthemen oder Schwerpunkte im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA). Auch wenn sich die Entwicklungen in jeder Branche kontextbedingt anders äußern, bieten sie Möglichkeiten für verstärkten Austausch, Vernetzung und Zusammenarbeit.

Auch Kooperationen über Unfallversicherungsgrenzen hinaus können Lösungen liefern und erscheinen überall dort geboten, wo sich als arbeitsschutzrelevant bewertete Entwicklungen dem gesetzlichen Zugriff der Unfallversicherung entziehen, wie es beispielsweise beim Fachkräftemangel oder demografischen Wandel der Fall ist. Hier könnten zum Beispiel Kooperationen mit Branchenverbänden das Branchenimage stärken, dem Fachkräftemangel entgegenwirken und die Möglichkeiten altern(s)gerechter Arbeit verbessern.

Unter den Top-Entwicklungen über alle Branchen hinweg finden sich auch „alte Bekannte“ wie Lärm, Muskel-Skelett-Belastungen (MSB) und UV-Strahlung. Dass sie immer noch auf der To-do-Liste der Prävention stehen, kann unterschiedliche Gründe haben: Bestehende Präventionsangebote reichen nicht aus oder erreichen die Praxis nicht (zum Beispiel MSB). Neue Berufskrankheiten stellen die Prävention vor besondere Herausforderungen (zum Beispiel UV-Strahlung). Oder neue Belastungsaspekte bekannter Einwirkungen verlangen nach neuen Präventionslösungen (zum Beispiel Ultraschall).

Grundsätzlich und selbstverständlich prägt die Aufgabenstruktur der Cluster – öffentlicher Dienst, Dienstleistungssektor, produzierendes Gewerbe – die Art der relevanten Entwicklungen. Vor allem im Cluster I, das im Wesentlichen das Versichertenspektrum der Unfallkassen abbildet, wird deutlich, in welchem Umfang inzwischen grundsätzliche gesellschaftliche Phänomene wie der Wertewandel den Arbeitsschutz beeinflussen und fordern: Hier haben Faktoren wie fehlende finanzielle beziehungsweise gesellschaftliche Anerkennung, emotionale Anforderungen und körperliche Gewalt eine besonders starke Relevanz für die Sicherheit und Gesundheit der Versicherten im Vergleich zu den beiden anderen Clustern. Von insgesamt 13 Branchen in Cluster I kam in elf Branchen mindestens eine der drei oben genannten Faktoren unter die Top-Entwicklungen; in der Pflege, in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, bei der Polizei und in der öffentlichen Verwaltung waren es sogar alle drei.

Dabei zeigt sich besonders deutlich, wie wichtig es ist, psychische Belastungen in der Prävention zu berücksichtigen. Sie sind Folgeerscheinungen vieler Entwicklungen oder stehen mit ihnen in Wechselwirkung. Prävention muss ganzheitlich und interdisziplinär stattfinden. Für diese Belastungen bieten sich die unterschiedlichsten Handlungsebenen an: von Sensibilisierungsmaßnahmen für psychische Belastungen, Tipps zur Schichtplangestaltung und Schulungen zum Erwerb interkultureller Kompetenzen oder sprachlicher Deeskalationsstrategien über die Förderung betrieblicher Angebote einer psychologischen Ersten Hilfe oder Supervision/Mediation bis hin zur Beteiligung an Kampagnen Dritter, beispielsweise für mehr Respekt gegenüber Hilfs- und Rettungskräften oder zur gesellschaftlichen Bedeutung der Alten- und Behindertenpflege und -betreuung.

Was im öffentlichkeitsorientierten Cluster I der Wertewandel, ist im Cluster II (BGHW, BG Verkehr, VBG) der technologische Fortschritt in Form autonomer Fahrzeuge (inklusive Drohnen und innerbetrieblicher Logistik): Insbesondere in den Bereichen Personenbeförderung und Gütertransport Straße, Luftfahrt sowie Entsorgung, aber auch in der Warenlogistik spielen sie eine vergleichsweise wichtige Rolle. Präventionsansätze zielen im Wesentlichen auf IT-Sicherheit und -Zuverlässigkeit.

Allen voran der Fachkräftemangel, aber auch Lärm und thermische Expositionen haben in Cluster III, das Branchen in Industrie und im Handwerk sowie Bau vereint, eine besondere Bedeutung für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten. Alle drei Entwicklungen gemeinsam kamen in den Baubranchen (mit Ausnahme der Gebäudereinigung) und in der Fleischwirtschaft unter die Top-Entwicklungen. Fachkräftemangel und Lärm fielen in den Branchen Druck- und Papierverarbeitung, Elektrohandwerke, Textil und Mode, Roh- und Baustoffindustrie sowie Holzverarbeitung unter die Top-Entwicklungen, Fachkräftemangel und thermische Exposition in der Branche Herstellung von Backwaren.

Auch hier scheint in Sachen Prävention Althergebrachtes immer noch wichtig: Beratungen und konkrete Anreize, die den Einsatz bereits verfügbarer Präventionsangebote befördern, zum Beispiel lärmarme Maschinen, persönliche Schutzausrüstungen, Beschattungssysteme oder Lüftungsanlagen. Daneben nennen die befragten Präventionsfachleute auch Maßnahmen, die längerfristig wirken – zum Beispiel qualitative und quantitative Verbesserungen in der arbeitsmedizinischen Vorsorge – beziehungsweise die nur im Verbund mit anderen sozialpolitisch Verantwortlichen möglich sind, wie Kampagnen für eine bessere Eingliederung von ausländischen Fachkräften.

Die genannten Präventionsmöglichkeiten sind eine Auswahl aus vielen. Sie wurden von den befragten Aufsichtspersonen selbst formuliert. Interessant ist, dass darunter immer wieder Vorschläge sind, die weit über das hinausgehen, was das Siebte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) als gesetzlichen Auftrag für die Unfallversicherung definiert. Das macht deutlich: Die Herausforderungen für den Erhalt von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sind vielfältig und komplex geworden. Sie verlangen Kooperationen innerhalb und über die Welt der Unfallversicherung hinaus. Sie brauchen interdisziplinäre Betrachtungen und mehrdimensionale Lösungen, um den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Menschen in einer Arbeitswelt gerecht zu werden, die einen ständigen, teils raschen Wandel erlebt. Das Risikoobservatorium hilft, diesen Wandel branchenbezogen zu konkretisieren. Es hilft aber auch zu erkennen, von welchen Entwicklungen verschiedene Unfallversicherungsträger in gleicher Weise betroffen sind und wo Synergieeffekte durch gemeinsames Handeln genutzt werden können. Wo in der Prävention reicht „One fits all“ aus, wo braucht es spezifische oder tiefergehende Maßnahmen? – Fragen, die das Risikoobservatorium für die Unfallversicherungsträger beantworten will, um Präventionsressourcen zukünftig noch zielgerichteter einzusetzen.