Der Weg zur smarten Unfallversicherung

Erkennen von Unfall- und Schadensmustern, Vorhersagen des Unfallgeschehens, frühzeitige Schadensprognosen, automatisierte Schadensabwicklung und Leistungsabrechnung sowie passgenaue Maßnahmen für Unfallvermeidung und Prävention – das und vieles mehr ist nur möglich mithilfe der Analyse hochwertiger großer Datenmengen durch Algorithmen, hinter denen künstliche Intelligenz steht.

Was ist künstliche Intelligenz?

Künstliche Intelligenz (KI) kann überall helfen, wo auf Basis von Daten Entscheidungen getroffen werden müssen. Sie kann bestehende Abläufe stark vereinfachen und neue Produkt- und Geschäftsideen aufzeigen. KI kann durch Machine Learning (ML) komplizierte Muster in großen Datenmengen erkennen und eigenständig Prognosen treffen. Mit Natural Language Processing (NLP) kann sie Texte inhaltlich analysieren, neue Texte formulieren und natürliche Konversationen führen. Durch den Einsatz von Computer Vision ist KI fähig, Bilder und Videos zu analysieren und zu kreieren, was in Bereichen wie der medizinischen Bildanalyse und in Überwachungssystemen bereits große Anwendung findet. Durch Robotik können smarte Maschinen und Software bisher manuell durchgeführte Arbeiten autonom erledigen. Die Anwendungsfelder von KI sind vielfältig und nehmen stets weiter zu: selbstfahrende Autos, personalisiertes Lernen, das Kreieren von Kochrezepten, das Komponieren von Musik, die Entwicklung von Websites oder Logos, das Erstellen von Einkaufslisten durch smarte Kühlschränke und weitere Smarthome-Features.

Die Ansätze einer Definition von KI haben sich im Laufe der Zeit ständig weiterentwickelt. Allerdings ist bis heute keine allgemeingültige Definition für KI bekannt. Arthur L. Samuel war in den 1950er-Jahren ein Pionier im Bereich KI und ML und schuf mit „Checkers“ eines der ersten selbstlernenden Programme. Es lernte und optimierte seine Strategien durch Selbstspiel. Häufig wird Samuel zitiert, dass ML ein Feld der Studie sei, das Computern die Fähigkeit gibt, ohne explizite Programmierung zu lernen (übersetzt aus dem Englischen: „Machine Learning is the Field of study that gives computers the ability to learn without being explicitly programmed“).[1]

Während Samuel mit seiner Arbeit eine der grundlegendsten Definitionen im Bereich ML prägte, erweitert Axel Rittershaus (IT-Unternehmer, Berater und Executive Coach) dieses Verständnis durch die Betrachtung weiterer Teilgebiete der KI – wie NLP, Computer Vision, Robotik, ML – anhand der Erfüllung folgender fünf Kriterien[2]:

  • Es handelt sich um ein digitales System.
  • Das System nutzt sich verbessernde Algorithmen, die anfangs wie ein klassisches Computerprogramm zuerst vom Menschen geschrieben werden.
  • Das System lernt auf Basis von Daten.
  • Das System lernt die Bedeutung von Daten zu verstehen, um darauf aufbauend Vorhersagen zu treffen.
  • Vernetzte KI-Systeme können voneinander lernen.

Um KI sinnvoll und erfolgreich einzusetzen, ist ein grundlegendes Verständnis von KI nötig. Dazu gehören Kenntnisse der Möglichkeiten verschiedener KI-Technologien, der unterschiedlichen Funktionsweisen, der Grenzen und Risiken sowie der ethischen Implikationen. Die Chancen von KI sind häufig geläufig und wurden eingangs schon hervorgehoben. Vielmehr müssen aber auch die Risiken in den Blick genommen werden: Dazu gehören Fehlentscheidungen, Sicherheitslücken und Diskriminierung, die unter anderem durch unvollständige oder fehlerhafte Daten sowie ein unzureichendes Modeltraining und -testing entstehen können.
Sicherheitslücken führen unter Umständen zu Datendiebstahl, Systemausfällen oder physischen Schäden im Unternehmen. Diskriminierung kann zu Fehlentscheidungen führen, wenn zum Beispiel Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder anderer Merkmale benachteiligt werden.

Nur mit dem Wissen über Chancen, aber auch dem Verstehen der Risiken und Herausforderungen können wir die KI entsprechend navigieren, um ihre Potenziale auszuschöpfen und gleichzeitig ihre Schattenseiten zu minimieren.

Abbildung 1: Proband mit Ganzkörpermessanzug auf einem Stolper-, Rutsch- und Sturz-Parcours mit Überkopf-Sicherungssystem an der Decke | © DGUV
Abbildung 1: Proband mit Ganzkörpermessanzug auf einem Stolper-, Rutsch- und Sturz-Parcours mit Überkopf-Sicherungssystem an der Decke ©DGUV

KI in der gesetzlichen Unfallversicherung

Die fortschreitende Technologie der KI spielt auch in der gesetzlichen Unfallversicherung eine zunehmende Rolle. Bei den Unfallversicherungsträgern (UV-Trägern) und bei der DGUV sind bereits vereinzelt KI-Modelle in der Entwicklung. Aktuelle Vorhaben befassen sich beispielsweise mit KI-basierter Unfallprävention und KI-Services in der Heilverfahrenssteuerung. 

KI-basierte Unfallprävention 
Das übergeordnete Ziel der gesetzlichen Unfallversicherung ist es, Unfälle und Verletzungen in der Arbeitswelt von Anfang an zu vermeiden. Daher nehmen KI-gestützte Präventionsmaßnahmen immer mehr einen zentralen Stellenwert ein, um Risiken im Vorfeld zu identifizieren und zu reduzieren.

Stolper-, Rutsch- und Sturzunfälle (SRS-Unfälle) verursachen in vielen Branchen massive Arbeitsausfälle. Laut dem Statistik-Bericht der DGUV gab es im Jahr 2021 insgesamt 172.045 solcher Unfälle, von denen sieben tödlich endeten.[3] Im Jahr 2022 erhöhte sich die Zahl der tödlich Verunglückten auf zwölf, bei 165.420 Unfällen.[4]

Im DGUV-geförderten Projekt „ENTRAPon“[5] wird aktuell an einem Frühwarnsystem für SRS-Unfälle bei Unternehmen der Stahlerzeugung sowie bei der Post- und Paketzustellung geforscht. Durch maschinelles Lernen wird versucht, auf Grundlage einer umfangreichen Datenbasis – repräsentiert durch Bewegungsdaten aus Ganzkörpermessanzügen – Beinahesturzunfälle zu erkennen.[6] Sobald sich herausgestellt hat, dass diese Erkennung mit der umfangreichen Datenbasis möglich ist, wird untersucht, wie diese Datenbasis reduziert werden kann und dennoch zuverlässige Erkennungen erzielt. Darauf basierend soll schließlich ein praktikables Warnsystem für den beruflichen Alltag entwickelt werden, um die Zahl dieser SRS-Unfälle in den Bereichen zu reduzieren. 

Ein weiteres mögliches Anwendungsszenario ist ein KI-System, das den Aufsichtspersonen vorschlägt, welche Betriebe sie rechtzeitig aufsuchen sollten, um dort angemessene Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten einzuleiten. Eine solche KI-Lösung prognostiziert, bei welchen Betrieben es aufgrund von Abweichungen im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit zu schweren Unfällen kommen könnte.

Die Integration solcher KI-Systeme zur Unfallprävention in die betriebliche Praxis kann nicht nur Leben retten und Verletzungen verhindern, sondern bietet auch erhebliche wirtschaftliche Vorteile für Unternehmen und die Gesellschaft.

KI-Services in der Heilverfahrenssteuerung
Im Reha- und Leistungsbereich der Unfallversicherungsträger werden auf Grundlage von Daten aus elektronischen Dokumenten wie Durchgangsarztberichten, Krankenhausberichten oder Unfallanzeigen der verunfallten Person, je nach Art und Schwere der Verletzungen, geeignete Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen zur Verfügung gestellt. KI kann dabei unterstützen, diese Berichte schneller zu bearbeiten und auszuwerten. Dies reduziert die Reaktionszeit zwischen Unfall und Beginn der Heilverfahrenssteuerung.

Die Unfallversicherungsträger haben bereits KI-Modelle entwickelt, die der Sachbearbeitung beispielsweise aus den Texten der Durchgangsarztberichte Empfehlungen zur Unfallart, zum ICD-10-Code[7], zur Fallschwere oder zu anderen Hinweisen und Merkmalstypen mitgeben. Diese KI-Modelle werden zukünftig als KI-Services über das „Softwarehaus bei der DGUV“ zentral jedem Unfallversicherungsträger zur Verfügung gestellt (siehe Beitrag auf Seite 13).

Die Bedeutung eines UV-weiten KI-Modelltrainings
Um die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Empfehlungen solcher zentral zur Verfügung gestellten KI-Modelle für Unfallversicherungsträger mit anderen Branchen-Schwerpunkten zu gewährleisten, bedarf es eines UV-übergreifenden KI-Modelltrainings. Solch ein Training der KI-Modelle auf einer breiteren Palette von Daten und Szenarien verschiedener Unfallversicherungsträger ermöglicht es, die Diversität und Komplexität der Unfälle und Verletzungen in der UV-Welt darzustellen. Es führt somit zu einer besseren Generalisierungsfähigkeit sowie zu zuverlässigeren Empfehlungen der KI-Modelle für alle Unfallversicherungsträger.

Die Möglichkeit der zentralen Nutzung von KI-Services aus unterschiedlichen Fachbereichen, kombiniert mit dem Modelltraining trägerübergreifender Daten, hat das Potenzial, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten stark zu reduzieren sowie die Versorgungsqualität für Verunfallte signifikant zu erhöhen.

Künstliche Intelligenz im Arbeitsschutz | A+A Kongress 2023 | Themenübersicht
https://www.basi.de/wp-content/uploads/2023/07/Kongressthemenuebersicht_11_07_2023.pdf

Datenschutz und Qualität von KI in der Unfallversicherung

Der demografische Wandel und der zunehmende Bedarf an effizienter Verwaltung haben den Einsatz von KI-Anwendungen in der Arbeits- und Sozialverwaltung erforderlich gemacht. Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, sind praxisorientierte, behördenübergreifende und partizipative Leitlinien entstanden, die als Eckpfeiler und Leitplanken für die Entwicklung, Implementierung und den Betrieb von KI-Systemen dienen. Die „Selbstverpflichtenden Leitlinien für den KI-Einsatz in der behördlichen Praxis der Arbeits- und Sozialverwaltung“[8], an deren Erarbeitung die DGUV und verschiedene Unfallversicherungsträger intensiv beteiligt waren, betonen zentrale Werte wie Vertrauen, Datenschutz, Transparenz und Nachvollziehbarkeit und legen den Fokus auf ein menschenzentriertes, ethisches und sozialverträgliches Vorgehen.

Das Ziel der Leitlinien ist es, die effektive und zukunftsorientierte Nutzung von KI sicherzustellen, während gleichzeitig der gesetzeskonforme und wertebasierte Einsatz von KI gewährleistet wird. Um das Potenzial von KI im Sinne der Gesellschaft und einer modernen Verwaltung zu nutzen, enthalten die Leitlinien Checklisten und Empfehlungen. Diese helfen bei der menschenzentrierten Einführung von KI-Projekten, der Abschätzung von Folgen und Risiken, der Sicherstellung der Datenqualität, der Vermeidung von Bias und der Schaffung von Transparenz und Erklärbarkeit.

Da die Verwaltung besonders verantwortungsbewusst mit sensiblen Daten umgehen muss und Entscheidungen trifft, die unmittelbar die Bürgerinnen und Bürger betreffen, werden auch beispielhafte Folgenabschätzungen und Maßnahmen zum Umgang mit hoher Kritikalität behandelt. Die Leitlinien repräsentieren somit ein ausgewogenes und durchdachtes Konzept, das darauf abzielt, die Möglichkeiten der KI-Technologie zu nutzen, während gleichzeitig ethische Überlegungen und die Bedürfnisse der Gesellschaft berücksichtigt werden.

KI-Kompetenzzentrum der Unfallversicherung

Das „Kompetenzzentrum Künstliche Intelligenz und Big Data“ (KKI) am Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA)[9] wurde im Jahr 2020 initiiert und unterstützt die Unfallversicherungsträger bei der Planung und Durchführung konkreter KI-Vorhaben. Es bündelt die fachlichen Kompetenzen des IFA zu den Themenfeldern KI und Big Data und bildet so eine zentrale Anlaufstelle für alle Organisationseinheiten der DGUV, Unfallkassen und Berufsgenossenschaften sowie Vertretende aus Politik, Forschung und Gesellschaft.

Einige der vielfältigen Angebote des KKI umfassen zum Beispiel die Beratung zur Relevanz und Realisierbarkeit von Vorhaben. Damit trägt das Kompetenzzentrum dazu bei, innovative Projekte zu identifizieren und deren Umsetzung zu bewerten. Weiterhin hilft das KKI bei der Identifikation neuer Themen und Forschungsziele und bietet Unterstützung bei der Betreuung von KI-(Teil-)Projekten und Abschlussarbeiten. Die Planung der Projektgestaltung und die fachliche Begleitung im Projektverlauf werden ebenso angeboten, um sicherzustellen, dass die Vorhaben erfolgreich umgesetzt werden.

Die Dienstleistungen des KKI erstrecken sich auch auf Bereiche wie Beratung, Stellungnahmen und Beantwortung (politischer) Anfragen sowie das Kommentieren von Verordnungsentwürfen, beispielsweise als Unterstützung der DGUV in der EU-Vertretung der Deutschen Sozialversicherung (DSV) in Brüssel.

Nicht zuletzt trägt das KKI zur wissenschaftlichen Gemeinschaft bei, zum Beispiel durch Konferenzbeiträge, Veröffentlichungen und die Organisation von Fachkonferenzen. Mit seinem breiten Spektrum an Dienstleistungen fördert es in den komplexen Gebieten von KI und Big Data die Innovation, Forschung und Anwendung dieser zukunftsweisenden Technologien in der Unfallversicherung.

Fazit

Die fortschreitende Integration von KI in der gesetzlichen Unfallversicherung bietet neue Möglichkeiten – von präzisen Unfallvorhersagen bis hin zur automatisierten Schadensabwicklung. Während KI erhebliche Chancen bietet, müssen auch die Risiken, etwa in Bezug auf Datenschutz, Ethik und IT-Sicherheit, sorgfältig berücksichtigt werden. Es ist entscheidend, diese Technologien verantwortungsbewusst einzusetzen, um sowohl die Effizienz als auch die Integrität der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewährleisten.