Hinterbliebene können anhängige Anfechtungs- und Feststellungsverfahren fortführen
Ein allein auf Feststellung des Versicherungsfalls gerichtetes Klageverfahren kann nach dem Tod einer versicherten Person durch deren Sonderrechtsnachfolgende und Erbende im Hinblick auf mögliche Ansprüche des oder der Versicherten zu Lebzeiten weitergeführt werden.
Bundessozialgericht, Urteil vom 16.03.2022 – B 2 U 17/19 R
Der mittlerweile verstorbene Versicherte war in der Zeit von 1981 bis 2015 unter anderem bei einer Werft mit Maler- und Sandstrahlarbeiten im Schiffsbau sowie als Facharbeiter für Oberflächentechnik beschäftigt. Im Juni 2015 erstattete eine Ärztin nach der Verdachtsdiagnose eines malignen epitheloiden Mesothelioms Anzeige wegen einer Berufskrankheit nach Nummer 4105 (im Folgenden: BK-Nr. 4105), weil der Versicherte während seiner Tätigkeiten als Maler und Lackierer Asbest ausgesetzt gewesen sei. Der beklagte Unfallversicherungsträger stellte nach Abschluss der Ermittlungen bei den Arbeitgebern im September 2015 fest, dass keine BK-Nr. 4105 vorliege; Ansprüche auf Leistungen bestünden nicht, da sich eine Asbestbelastung nicht im Vollbeweis sichern ließe. Nach Klageerhebung im Jahr 2016 verstarb der Versicherte infolge eines tumortoxischen Herz-Kreislauf-Versagens bei Pleuramesotheliom. Die von der Witwe des Versicherten als Sonderrechtsnachfolgerin fortgeführte Klage wies das Sozialgericht (SG) ab, weil nicht nachweisbar gewesen sei, dass der Versicherte tatsächlich astbestexponiert gewesen sei. Demgegenüber wies das Landessozialgericht (LSG) die Berufung wegen Unzulässigkeit der Klage zurück, weil die Witwe weder als Sonderrechtsnachfolgerin im Sinne des § 56 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) noch als Gesamtrechtsnachfolgerin nach § 58 SGB I in Verbindung mit § 1922 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) die erforderliche Klagebefugnis habe. Sollte sie Sonderrechtsnachfolgerin gewesen sein, scheitere die Rechtsnachfolge an der Anhängigkeit eines Verwaltungsverfahrens über laufende Geldleistungen, da nur die Anerkennung der Berufskrankheit noch Gegenstand des Verwaltungsverfahrens gewesen sei; und als Erbin und Gesamtrechtsnachfolgerin könne sie ein Zugunstenverfahren gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) hinsichtlich der bestandskräftig abgelehnten Leistungsansprüche nicht mehr geltend machen, sodass eine Rechtsverletzung durch die Ablehnung der Berufskrankheit nicht drohe.
Das Bundessozialgericht (BSG) verwies in der gegen das Urteil eingelegten Revision die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück. Der Unfallversicherungsträger habe Leistungen in seinem Ausgangsbescheid über die Ablehnung der Anerkennung der Berufskrankheit nicht gleichzeitig endgültig abgelehnt, weshalb sie auch nicht nach § 59 Satz 2 SGB I erloschen seien. Zwar seien mit der Ablehnung der BK-Nr. 4105 ausdrücklich auch "Ansprüche auf Leistungen" verneint und ergänzend ausgeführt worden, dies gelte auch für Leistungen und Maßnahmen, die geeignet seien, dem Entstehen einer Berufskrankheit entgegenzuwirken. Mit der pauschalen Leistungsablehnung seien aber ersichtlich nur allgemein die Folgerungen beschrieben worden, die sich aus der Nichtanerkennung einer Berufskrankheit ergäben. Eine Entscheidung über einzelne konkrete Leistungsansprüche war damit nicht verbunden. Stattdessen handelt es sich bei den Ausführungen in dem Ablehnungsbescheid um einen bloßen Textbaustein ohne Regelungsgehalt, der als "Formtext" von den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung wortgleich verwendet werde und keine abschließende Regelung über konkrete Leistungen enthalte. Zudem verhalte sich ein Träger widersprüchlich, wenn er in dieser Weise die allgemeine Leistungsvoraussetzung "Versicherungsfall" gleichsam "vor die Klammer" ziehe, um auf dieser Basis erst später über konkrete Leistungsfälle und -ansprüche zu entscheiden, dann aber die ablehnende Entscheidung gleichzeitig als (endgültige) Entscheidung über die zunächst zurückgestellten Leistungsansprüche auslegen wolle. Im Ausgang der Urteilsbegründung verweist der Senat – nach längeren Ausführungen zu dem besonderen Gebot der Sozialrechtsoptimierung durch das Sozialverwaltungsverfahrensrecht – auf Folgendes: Würde man in dem Bescheid die pauschale Leistungsablehnung aller in Betracht kommenden Leistungsansprüche verstehen, so würde in der Folge eine (unbestimmte) Vielzahl leistungsablehnender Verwaltungsakte bestandskräftig, wenn diese nicht durch Widerspruch und danach mit einer Vielzahl dann erforderlich werdender kombinierter Anfechtungs- und Leistungsklagen angefochten würden.
Der Senat hat damit die Frage eines noch möglichen Zugunstenverfahrens durch die Hinterbliebenen einer versicherten Person nicht nur offenlassen können, sondern hier mit der pauschalen Ablehnung im Verwaltungsverfahren noch keine abschließende Entscheidung im Rahmen des noch anhängigen Streits um die Anerkennung der Berufskrankheit und daraus gegebenenfalls abzuleitender Leistungsansprüche gesehen. Damit sind die Rechte der Rechtsnachfolger (Sonderrechtsnachfolger wie Gesamtrechtsnachfolger nach § 56 oder § 58 SGB I) gestärkt worden und sie können ein noch anhängiges Anfechtungs- und Feststellungsverfahren im Hinblick auf mögliche Ansprüche der versicherten Person zu Lebzeiten weiterführen. Über weitergehende Rechtsschutzmöglichkeiten ist damit noch nicht das letzte Wort gesprochen.
Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.