Hören und Nachdenken

Eine Fahrdienstleiterin für die Deutsche Bahn, die aufgrund einer Weisung ihres Arbeitgebers ihren Dienst nicht ohne Ersatzbatterien für ihr Hörgerät antreten darf und ihren Arbeitsweg zwecks Kaufs von Ersatzbatterien beim Gehörakustiker unterbricht, steht dabei nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

§ Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.02.2022 – L 3 U 148/20 (Revision eingelegt – B 2 U 8/22 R –)

Aufgrund verminderten Hörvermögens trug die Klägerin im Dienst als Fahrdienstleiterin der Deutschen Bahn (DB) ein Hörgerät. Durch eine arbeitsvertragliche Vereinbarung war sie zu jederzeitiger Verfügbarkeit von Ersatzbatterien während ihres Dienstes verpflichtet. Als sie am 13. August 2019 vor Dienstbeginn in Abweichung des unmittelbaren Weges Ersatzbatterien kaufen wollte (sie hatte keine mehr), stürzte sie und verletzte sich. Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg verneinte einen Arbeitsunfall. Ein Unfallversicherungsschutz gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 5 Sozialgesetzbuch (SGB) VII (unter anderem Instandhalten eines Arbeitsgerätes) scheide aus, weil das Hörgerät der Klägerin kein Arbeitsgerät sei. Der nötige „nahezu ausschließliche Gebrauch“ für dienstliche Zwecke liege nicht vor, weil die Klägerin das Hörgerät auch privat trage beziehungsweise tragen könne. Zudem obliege die Beschaffung von Ersatzbatterien der Privatsphäre der Klägerin. Daran könne auch die arbeitsvertragliche Verpflichtung nichts ändern. Ein Unternehmer könne den Unfallversicherungsschutz nicht durch arbeitsvertragliche Nebenabreden ausweiten. Das Ganze sei als nicht versicherte Vorbereitungshandlung zu sehen. Der Ausnahmetatbestand eines besonders engen sachlichen, örtlichen und zeitlichen Zusammenhangs, der die Vorbereitungshandlung selbst als versicherte Tätigkeit erscheinen lasse, liege nicht vor.

Es stellt sich hier eine ganze Fülle von Rechtsfragen, bei denen aus verschiedenen Blickrichtungen immer die Nähe (oder Ferne) der Hörminderung der Klägerin zu ihrem Tätigkeitsbereich eine zentrale Rolle spielt. Hier zeigt die Argumentation des LSG Berlin-Brandenburg „Auslassungen“.

Wir erfahren zwar etwas über die (private) Hörminderung der Klägerin samt Tragegewohnheiten – kein einziges Wort hat das LSG Berlin-Brandenburg jedoch über die konkrete Arbeit der Klägerin als Fahrdienstleiterin der DB verloren. Wenn wir diesen Blick einmal wagen, handelt es sich dabei um das computergestützte Schienen-/Gleismanagement ein- und ausfahrender Züge in Bahnhöfen und Stellwerken. Zur Arbeit der Klägerin gehört die Kommunikation mit Lokführerinnen und Lokführern sowie Leitstellen – eine Tätigkeit verbunden mit der Verantwortung für Leben und Gesundheit von Menschen, die Konzentration und funktionierende Sinnesorgane fordert. Von hieraus gesehen ist die arbeitsvertragliche Verpflichtung, bei einer Hörminderung ein Hörgerät zu tragen und Ersatzbatterien zur Verfügung zu haben, keine fernliegende Erwägung, mit der die gesetzliche Unfallversicherung „über den Tisch gezogen“ werden soll, sondern ein nachvollziehbarer Aspekt, der unmittelbar auf den konkreten Tätigkeitsbereich bezogen ist. Wie kann man im Bereich einer Vorbereitungshandlung über einen besonders engen Zusammenhang mit der eigentlichen versicherten Tätigkeit nachdenken, ohne diese eigentlich versicherte Tätigkeit im Blick zu haben?

Zudem thematisiert das LSG Berlin-Brandenburg mit keinem Wort, inwieweit die vorliegende Behinderung der Klägerin im Nachdenken über einen Unfallversicherungsschutz eine Rolle gespielt hat – kein Wort zu sozialrechtlichen, inklusiven Hilfestellungen bei einer Behinderung.

In diesem Beitrag geht es nicht um eine Ergebniskorrektur. Es geht darum, die Diskussion breiter aufzusetzen, intensiver – auch inklusiver – nachzudenken. Die Entscheidung steht zudem in Kontrast zu einem Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 21.10.2021 – L 1 U 779/21. Hier wird ein Unfallversicherungsschutz bei der jährlichen Wartung eines Fahrrads (JobRad), das ein Unternehmer seinen Beschäftigten zur betrieblichen und privaten Nutzung überlassen hatte, bejaht. Die Beschäftigten waren arbeitsvertraglich unter anderem zu einer jährlichen Wartung verpflichtet. Dabei war dem LSG Baden-Württemberg nach eigenen Worten „bewusst, dass mit dieser Einordnung der Unfallversicherungsschutz eines Beschäftigten auf Grund einer vom Arbeitgeber ausgehenden vertraglichen Gestaltung über die eigentlichen Betriebstätigkeit hinaus ausgeweitet wird“ (juris, Rn. 48) – ein Aspekt, den das LSG Berlin-Brandenburg gerade ablehnt. Es wird also spannend, wie sich das Bundessozialgericht (BSG) in der Revision hier positioniert.

Noch ein Aspekt am Rande: Der Kauf einer Fahrkarte für eine Dienstreise am nächsten Tag wird derzeit als versicherte Tätigkeit angesehen und unter Unfallversicherungsschutz gestellt (vgl. etwa Keller, in Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch [SGB] VII: Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, Stand II/2020, K § 8 Rz 85a).