Wehren erlaubt

Es besteht ein auch im Rechtsstaatsprinzip begründetes Bedürfnis, den Sozialversicherungsträgern ungeachtet ihrer fehlenden eigenen Grundrechtsfähigkeit die Möglichkeit einzuräumen, im Interesse der Gesamtheit ihrer Mitglieder eine gerichtliche Prüfung gesetzlicher Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Sozialversicherung herbeizuführen.

§ Bundessozialgericht, Urteil vom 18.05.2021 – B 1 A 2/20 R – juris

Im Zuge des Präventionsgesetzes vom 17. Juli 2015 übertrug der Gesetzgeber der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gemäß § 20a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) Aufgaben der konzeptionellen Prävention und Gesundheitsförderung in Lebenswelten als Querschnittsaufgabe im Rahmen eines gesetzlichen Auftragsverhältnisses. Gleichzeitig wurde der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) dazu verpflichtet, diese Aktivitäten der BZgA in Höhe von mindestens 0,45 Euro pro versicherter Person pauschal zu vergüten. Am 2. Dezember 2015 verweigerte der Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes die Freigabe dieser Gelder (rund 30 Millionen Euro) mittels eines Sperrvermerks. Nach erfolgloser aufsichtsrechtlicher Beanstandung durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) verfügte das BMG die Aufhebung des Sperrvermerks durch einen Ersatzvornahmebescheid vom 6. Januar 2016. Die dagegen erhobene Klage des GKV-Spitzenverbandes hatte letztlich beim Bundessozialgericht (BSG) Erfolg.

Das BSG sah keine Rechtsgrundlage für die Ersatzvornahme des BMG und brandmarkte die Beauftragung und Vergütung der BZgA in § 20a Abs. 3 und 4 SGB V als verfassungswidrig. Darüber hinaus machte es Ausführungen zur „Wehrhaftigkeit“ von Sozialversicherungsträgern gegenüber kompetenzwidrigen Übergriffen aufsichtsrechtlicher Beanstandungen. Das BSG führte aus, dass Sozialversicherungsträger zwar als öffentlich-rechtliche Körperschaften (mittelbar) Teil des Staates und damit nicht grundrechtsfähig sind; dies im Gegensatz etwa zu Hochschulen. Allerdings sei den „Sozialversicherungsträgern mit der gesetzlichen Zuerkennung des Körperschaftsstatus und der Zuweisung der Selbstverwaltung (…) einfachrechtlich eine rechtlich geschützte Kompetenzsphäre zugewiesen, die verfassungsrechtlich durch Art. 87 Abs. 2 GG gebilligt und anerkannt wird“ (Rn. 77). Daraus wiederum ergebe sich „die grundsätzliche Beschränkung der Aufsicht über die Sozialversicherungsträger auf eine Rechtsaufsicht und der Grundsatz der maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht“ (Rn. 77); bei Verstößen hiergegen können sich die Sozialversicherungsträger gerichtlich zur Wehr setzen; auch gegenüber dem Gesetzgeber, und zwar aufgrund einer eigenen Prüfungs- und Nichtanwendungskompetenz. Letzteres sei dann notwendig, wenn die Mitglieder der Sozialversicherung (in aller Regel die Bürger und Bürgerinnen) keine eigenständige Klagemöglichkeit gegenüber solchen Übergriffen haben. Hier bestehe „ein auch im Rechtsstaatsprinzip begründetes Bedürfnis, den Sozialversicherungsträgern ungeachtet ihrer fehlenden eigenen Grundrechtsfähigkeit die Möglichkeit einzuräumen, im Interesse der Gesamtheit ihrer Mitglieder eine gerichtliche Prüfung gesetzlicher Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Sozialversicherung herbeizuführen“ (Rn. 79).

Diese Wehrhaftigkeit für Sozialversicherungsträger ist selten so klar in der höchstrichterlichen Rechtsprechung beschrieben worden. Dies hat auch unmittelbaren Bezug zur gesetzlichen Unfallversicherung. Hier ein Beispiel: Am 19. März 2018 forderte der Bundesrechnungshof (BRH) die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) auf, eine Vielzahl sozialmedizinischer Begutachtungen in nicht anonymisierter Form zu Prüfzwecken vorzulegen. Nach Weigerung und Klage der VBG hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) letztendlich durch Entscheidung vom 12. Mai 2021 (6 C 12.19; juris) dem BRH recht gegeben. Hiergegen hat die VBG Urteilsverfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben und in der diesbezüglichen Begründung – neben der generellen Verneinung eines Prüfrechts des BRH überhaupt – im Bereich des Datenschutzes im Interesse ihrer Versicherten genau auf die Aspekte abgestellt, die der Erste Senat des BSG hier aufgeführt hat. Damit ist nun auch das Bundesverfassungsgericht am Zug, Stellung zu nehmen zur Wehrhaftigkeit von Sozialversicherungsträgern gegen mögliche staatliche Kompetenzübergriffe. Das wiederum könnte Signalwirkung haben, eine sogenannte „Einmischungsaufsicht“, die den Rahmen einer maßvollen Rechtsaufsicht verlässt, gar nicht erst entstehen zu lassen. Zunächst aber heißt es: Wehren erlaubt.