Der Blick über den Tellerrand – die Lotsenfunktion der Unfallversicherungsträger

Die Sozialleistungsträger engagieren sich, die Gesundheit der Beschäftigten zu erhalten, wiederherzustellen und zu fördern. Um die gebündelte Kompetenz der Sozialleistungsträger ausschöpfen zu können, müssen Betriebe erfolgreich gelotst werden. Diese Aufgabe übernimmt die gesetzliche Unfallversicherung.

Lotsen – nach innen und außen

Überwachen und Beraten – mit dem Ziel, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren mit allen geeigneten Mitteln zu verhindern – das sind die Kernaufgaben der Aufsichtspersonen der gesetzlichen Unfallversicherung.[1] Sie sowie weitere Präventionsfachkräfte der Unfallversicherungsträger sind erste Ansprechpersonen der Betriebe in allen Fragen rund um Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Sie beraten im Sinne der Prävention und bilden bei Bedarf die Schnittstelle zu Leistungen der Rehabilitation und Entschädigung innerhalb ihres Unfallversicherungsträgers. Sie nehmen hier also eine interne Lotsenfunktion wahr (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Die Lotsenfunktion der Unfallversicherungsträger  | © Eigene Darstellung
Abbildung 1: Die Lotsenfunktion der Unfallversicherungsträger ©Eigene Darstellung

Nicht selten kommt es bei der Beratung der Betriebe zur Identifikation von betrieblichen Problemstellungen, deren Bewältigung über das Leistungsportfolio der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen hinausgeht. Das erfordert das Lotsen hin zu externen Ansprechstellen, um dem Anspruch, „erste Ansprechperson“ zu sein, gerecht zu werden. Um auch hier dem Betrieb entsprechend weiterhelfen zu können, ist es notwendig, den gesetzlichen Auftrag und das Leistungsangebot anderer Sozialleistungsträger, wie beispielsweise der gesetzlichen Kranken- oder Rentenversicherung, sowie deren Zugangswege zu kennen.

Lotsen lohnt sich

Sich das Wissen über die entsprechenden Leistungen anderer Abteilungen des eigenen Hauses (interne Lotsenfunktion), anderer Unfallversicherungsträger oder auch der anderen Sozialleistungsträger (externe Lotsenfunktion) anzueignen und in der Lage zu sein, die Schnittstellen und Übergabepunkte zu erkennen, braucht selbstverständlich Zeit und ein gewisses Engagement vonseiten der Aufsichtsperson und der Präventionsfachkraft der Unfallversicherungsträger. Darüber hinaus benötigt es eine Führung, die dieses Lernen fördert und Raum dafür gibt. Wichtig ist jedoch: Es geht insbesondere bei der externen Lotsenfunktion nicht darum, die Einzelheiten der Leistungsportfolios der anderen Sozialleistungsträgern zu kennen, sondern sich zunächst der Grenzen der Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung bewusst zu sein und damit einordnen zu können, bei welchen Problemstellungen andere Sozialleistungsträger die richtigen Ansprechstellen sind. Dazu sind grundlegende Kenntnisse über die wichtigsten Aufgaben und Angebote der anderen Sozialleistungsträger notwendig, jedoch kein Detailwissen erforderlich. Langfristig gesehen profitieren sowohl Betriebe und Bildungseinrichtungen als auch die gesetzliche Unfallversicherung von dieser proaktiven Ausübung der Lotsenfunktion.

Die Betriebe haben den Vorteil, dass sie eine umfassende Beratung zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit erhalten und ihnen der Zugang zu den Leistungen des gesamten Sozialversicherungssystems ermöglicht wird. Betriebe haben eine Ansprechperson, das heißt eine Aufsichtsperson oder eine Präventionsfachkraft, die ihnen aufzeigen kann, welche Unterstützungsangebote bei ihren jeweiligen Problemen infrage kommen könnten, und dabei hilft, die richtige Ansprechstelle zu finden. Der Betrieb und die Beschäftigten erfahren somit eine umfassende Versorgung und erhalten Zugang zu den Expertinnen und Experten des Sozialversicherungssystems, die im jeweiligen Fall am besten unterstützen können.

Für die gesetzliche Unfallversicherung bedeutet die Ausübung der Lotsenfunktion, ihrem Anspruch als erste Ansprechpartnerin zu allen Fragen der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit gerecht zu werden. Aufsichtspersonen werden nicht nur in ihrer überwachenden Funktion, sondern als beratende Unterstützende wahrgenommen und schaffen somit über die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung hinaus einen Mehrwert für Betriebe und Bildungseinrichtungen. Das steigert das Image der gesetzlichen Unfallversicherung und erhöht das Vertrauen in sie. Auch Leistungen anderer Sozialleistungsträger, die durch Aufsichtspersonen angeregt oder gegebenenfalls vermittelt wurden, werden mit der gesetzlichen Unfallversicherung und ihrer Beratungskompetenz in Verbindung gebracht, sodass die Betriebe Leistungen wie aus einer Hand erhalten.

Den Fuß in der Tür

Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, warum die gesetzliche Unfallversicherung unter den Sozialversicherungsträgern eine entscheidende Rolle einnimmt, um den Zugang zu anderen Leistungserbringern im Sozialversicherungssystem herzustellen.

Im Gegensatz zum Beratungspersonal der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung verfügen Aufsichtspersonen der gesetzlichen Unfallversicherung über etwas ganz Entscheidendes: einen hoheitlichen Auftrag und das Recht, jederzeit einen Betrieb aufzusuchen und diesen prüfen zu dürfen. Bei jeder Prüfung der Einhaltung der arbeitsschutzrechtlichen Vorgaben haben Aufsichtspersonen die Chance, zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ganzheitlich beraten zu können und auch Themen in den Betrieb zu bringen, die über die gesetzliche Pflicht des Unternehmens hinausgehen, aber zum Wohl der Beschäftigten entscheidend beitragen, wie beispielsweise die betriebliche Gesundheitsförderung (BGF).

Die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung haben nicht nur ein Interesse, mit der gesetzlichen Unfallversicherung zu kooperieren, sondern auch die im Präventionsgesetz festgeschriebene Pflicht dazu — und das sollte genutzt werden. Auch andere Sozialleistungsträger können bei ihren betrieblichen Beratungen eine Lotsenfunktion einnehmen und verweisen dann zum Beispiel bei Fragen zum Arbeitsschutz an die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen oder deren Handlungshilfen und weitere Präventionsleistungen. Diese Wechselwirkung birgt für alle Sozialleistungsträger Vorteile und sichert eine umfassende Versorgung der Betriebe.

Die richtige Ansprechperson finden

Um bei konkreten Fragen oder Bedarfen an die richtige Ansprechperson oder die entsprechende Ansprechstelle zu verweisen, gibt es verschiedene Wege (siehe Abbildung 1). 

Besteht bereits der Kontakt zu einer konkreten Ansprechperson, kann an diese verwiesen werden. Wenn eine Aufsichtsperson beispielsweise bei einer Betriebsbesichtigung erfährt, dass mehrere Beschäftigte des Betriebes unter ersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden, ist es hier sinnvoll, auf die medizinischen Leistungen zur Prävention der gesetzlichen Rentenversicherung zu verweisen. Ist die regional zuständige Beraterin aus dem Firmenservice der Deutschen Rentenversicherung (DRV) bekannt, kann die Kontaktaufnahme direkt persönlich erfolgen.

Sofern die jeweiligen Ansprechpersonen der anderen Sozialleistungsträger nicht bekannt sind, kann der Betrieb an zentrale Ansprechstellen verwiesen werden (siehe Abbildung 2). Während bei größeren Betrieben häufig schon Kooperationen unter anderem im Hinblick auf die betriebliche Gesundheitsförderung mit einer Krankenkasse bestehen, ist es besonders für kleine und mittelständische Unternehmen, die noch nicht mit einer Krankenkasse zusammengearbeitet haben, empfehlenswert, eine kostenlose Erstberatung bei der BGF-Koordinierungsstelle der gesetzlichen Krankenversicherung einzuholen. Für die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, unter anderem medizinische Leistungen der Prävention sowie Unterstützung beim betrieblichen Eingliederungsmanagement, ist der Firmenservice die erste Ansprechstelle. Wenn es um das Wohl schwerbehinderter oder ihnen gleichgestellter Menschen geht, ist die Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH) die erste Anlaufstelle. Unterstützung durch die Bundesagentur für Arbeit, beispielsweise bei Nachwuchsproblemen oder Fachkräftemangel, kann durch den Arbeitgeberservice eingeholt werden.

Abbildung 2: Ansprechstellen der Sozialleistungsträger | © Eigene Darstellung
Abbildung 2: Ansprechstellen der Sozialleistungsträger ©Eigene Darstellung

Regionale Vernetzung fördert die Lotsenfunktion

Eine Lotsenfunktion nehmen Aufsichtspersonen auch dann ein, wenn sie in regionalen Netzwerken mit anderen Sozialleistungsträgern aktiv werden. Dies können zum einen Netzwerke sein, in denen sich Beratende untereinander vernetzen und die Leistungen der anderen Sozialleistungsträger besser kennenlernen wollen. Zum anderen gibt es Netzwerke wie „Betriebsnachbarschaften“, in denen mehrere Betriebe von verschiedenen Institutionen gemeinsam beraten und unterstützt werden. Oft sind hier neben den Sozialleistungsträgern auch Arbeitgebervertretungen, Handwerkskammern oder Wirtschaftsförderungsgesellschaften beteiligt.

Beteiligen sich Unfallversicherungsträger in solchen Netzwerken, geht es nicht nur darum, die Leistungen des eigenen Unfallversicherungsträgers darzustellen, sondern stellvertretend auch für die anderen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen zu sprechen und bei Bedarf, das heißt bei branchenspezifischen Spezialfragen, an diese zu vermitteln.

Durch die Beteiligung in Netzwerken besteht nicht nur die Chance, mehr über die Leistungen der anderen Sozialleistungsträger zu erfahren, sondern auch den direkten Kontakt zu den regionalen Ansprechpersonen von zum Beispiel Kranken- oder Rentenversicherung herzustellen.

Profitiert werden kann bereits jetzt von der Arbeit der gesetzlichen Krankenversicherung, die in den vergangenen Jahren zahlreiche Gesundheitsnetzwerke[2] initiiert hat.

Auch die Landesverbände der DGUV können Auskunft zu regionalen Netzwerken geben oder bei der Suche nach einer passenden Kooperation unterstützen.

Strukturen schaffen und Unterstützungsangebote liefern

Für die erfolgreiche, nachhaltige und ressourcenschonende Ausübung der Lotsenfunktion braucht es offene Strukturen und das Engagement aller Beteiligten. Zu beachten ist, dass nicht nur Aufsichtspersonen, sondern auch Präventionsberaterinnen und -berater, Reha-Managerinnen- und -Manager der Unfallversicherungsträger, Betriebs- sowie Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner, aber auch Fachkräfte für Arbeitssicherheit eine Lotsenfunktion innerhalb des Sozialversicherungssystems ausüben und bei entsprechenden Fragestellungen und Qualifizierungsmaßnahmen sowie beim Aufbau von Netzwerken mitgedacht werden sollten.

Um Aufsichtspersonen und weitere Präventionsfachkräfte in ihrer Lotsenfunktion zu unterstützen, sind wirksame Qualifizierungsmaßnahmen erforderlich. Seit 2021 werden wesentliche Kenntnisse zu den Leistungen der anderen Sozialleistungsträger und zu den entsprechenden Ansprechstellen im Rahmen des Lernfelds 8 „Gesundheit bei der Arbeit“ in der Ausbildung zur Aufsichtsperson vermittelt. Darüber hinaus sind von der DGUV auch entsprechende Qualifizierungsmodule für bereits in der Praxis tätige Aufsichtspersonen und weitere Präventionsfachkräfte geplant.

Einen Überblick über die Unterstützungsleistungen im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention der einzelnen Sozialleistungsträger bietet auch die Handlungshilfe „Landkarte der Unterstützenden“[3], die der Fachbereich „Gesundheit im Betrieb“ der DGUV im Jahr 2020 veröffentlicht hat. Aktuell ist als Ergebnis eines Kooperationsprojekts des Fachbereiches „Organisation von Sicherheit und Gesundheit“ der DGUV ein Leitfaden zur Kooperation[4], insbesondere im Hinblick auf die Beurteilung der Arbeitsbedingungen, veröffentlicht worden. Beide Broschüren fassen wesentliche Aspekte zur erfolgreichen Lotsentätigkeit kompakt zusammen und bieten damit wichtige Orientierungshilfen für die Praxis.

Um die Lotsenfunktion langfristig zu stärken, sind vor allem das Sammeln von Erfahrungen und der persönliche Austausch untereinander notwendig – nicht nur mit anderen Sozialleistungsträgern, sondern auch innerhalb der eigenen Reihen der Unfallversicherung. In einem DGUV Fachgespräch „Lotse im Betrieb – auch das noch?!“ im Februar 2022 konnten sich Aufsichtspersonen und weitere Präventionsfachkräfte zur Lotsenfunktion austauschen und von erfahrenen Lotsinnen und Lotsen aus der Praxis lernen. Im Nachgang zu diesem Fachgespräch wurden weitere Erfahrungsaustausche von der DGUV gewünscht. Ein virtueller Austausch findet bereits jetzt im Präventionsforum+ statt. Dort wurde unter dem Namen „MiO – Miteinander Orientierung finden“ eine neue Gruppe gegründet, die Aufsichtspersonen und weitere Präventionsfachkräfte zu einem Austausch zu den Themen Lotsenfunktion, Kooperation mit anderen Sozialleistungsträgern und regionale Netzwerke einlädt.

Im Rahmen der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) wird aktuell ein Internetauftritt zur Kooperation der Sozialleistungsträger erarbeitet, der den Nutzen von Kooperationen darstellt und Präventionsfachkräfte sowie Beratende in der betrieblichen Gesundheitsförderung  und dem betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) in ihrer Lotsenfunktion unterstützen soll. Der Auftritt wird ab Frühjahr 2022 über die iga-Website[5] verfügbar sein. Die angeführten Unterstützungsangebote sollen dazu beitragen, die Aufsichtspersonen und weitere Präventionsfachkräfte in ihrer Lotsenfunktion handlungsfähig zu machen und damit die Position der gesetzlichen Unfallversicherung als erste Ansprechpartnerin rund um Fragen zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit nachhaltig stärken. Dies kommt den Betrieben und Bildungseinrichtungen und somit den Beschäftigten zugute.