Mit Individualprävention die Gesundheit verbessern

Mit der zum 1. Januar 2021 in Kraft getretenen Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts wurde auch die Individualprävention der gesetzlichen Unfallversicherung gestärkt. Ziel dieser Maßnahmen ist es, der Gefahr der Entstehung, dem Wiederaufleben oder der Verschlimmerung einer Berufskrankheit entgegenzuwirken. 

Der grundsätzliche Präventionsauftrag der gesetzlichen Unfallversicherung wird in § 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) definiert: Sie soll mit allen geeigneten Mitteln Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren verhüten. Neben diesem allgemeinen Präventionsauftrag besteht mit § 3 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) darüber hinaus auch ein konkreter Auftrag, der Gefahr einer drohenden Entstehung einer neuen Berufskrankheit oder der Verschlimmerung oder einem Aufleben einer bereits anerkannten Berufskrankheit mit allen geeigneten Mitteln entgegenzuwirken. Ist die Gefahr nicht zu beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die versicherten Personen die gefährdende Tätigkeit unterlassen.

Dieser Ansatz wurde durch die zum 1. Januar 2021 mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des SGB IV (7. SGB IV-ÄndG) in Kraft getretene Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts zusätzlich gestärkt. Neben dem unverändert fortbestehenden Auftrag aus § 3 BKV wurde im Zuge des Wegfalls des Unterlassungszwangs mit dem neu gefassten § 9 Abs. 4 SGB VII eine zusätzliche gesetzliche Regelung geschaffen, die die Bedeutung der Individualprävention (IP) stärkt. Hintergrund dafür waren unter anderem die Aktivitäten der gesetzlichen Unfallversicherung insbesondere bei den arbeitsbedingten Hauterkrankungen. Das dort eingeführte Hautarztverfahren mit den sich anschließenden vielfältigen ambulanten und stationären medizinischen, edukativen sowie verschiedenen verhältnis- und verhaltenspräventiven Maßnahmen hat vielen hauterkrankten versicherten Personen eine Weiterarbeit ermöglicht.[1]

Begriffsdefinition

Die allgemeine oder primäre Prävention von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten im Sinne von § 1 SGB VII ist in Deutschland derart geregelt, dass die gesetzliche Unfallversicherung die Rahmenbedingungen schafft und für deren Einhaltung sorgt. Für die Durchführung der jeweiligen Präventionsmaßnahmen selbst sind die Unternehmen verantwortlich und tragen auch die Kosten dieser Maßnahmen selbst (§ 3 Abs. 3 Arbeitsschutzgesetz – ArbSchG). Individualpräventive Maßnahmen werden dagegen von den Unfallversicherungsträgern erbracht und auch finanziert.[2] Vor diesem Hintergrund wurde eine Differenzierung zwischen primären Präventionsmaßnahmen und individualpräventiven Maßnahmen bei Berufskrankheiten erforderlich. Dazu haben die Ausschüsse Prävention und Berufskrankheiten der Geschäftsführerkonferenz (GFK) der DGUV folgende Beschlüsse gefasst.

  1. "lndividualpräventive Maßnahmen im Sinne des gesetzlichen Auftrags der Unfallversicherung sind jene Präventionsmaßnahmen, die darauf zielen, dass einem individuellen gesundheitlichen Risiko am Arbeitsplatz in geeigneter Weise begegnet werden soll.

    Zum einen handelt es sich dabei um Maßnahmen, die im Zusammenhang mit einer Berufskrankheit stehen. Hierzu zählen Angebote für versicherte Personen mit einem durch individuelle Umstände erhöhten einschlägigen Erkrankungsrisiko. Insbesondere werden individuelle Maßnahmen umfasst, die dem Schutz derjenigen dienen, bei denen sich das berufliche Gesundheitsrisiko bereits ansatzweise verwirklicht hat und die schon erste Symptome einer beruflich bedingten Erkrankung zeigen. Maßnahmen der Individualprävention haben das Ziel, den versicherten Personen in geeigneter Weise eine Fortsetzung ihrer bisherigen Tätigkeiten am Arbeitsplatz zu ermöglichen, ohne dass diese zu einer weiteren Verschlimmerung des Gesundheitsschadens führt.

    Zum anderen gehören dazu arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren in Folge einer Erkrankung im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB VII, für die aufgrund eines individuell erhöhten Gesundheitsrisikos ein sinnvoller Ansatz für individuelle Maßnahmen der Verhaltens- oder Verhältnisprävention gesehen wird. Kollektive Maßnahmen, die es bereits gibt, sollen für betroffene Versicherte eine Spezifizierung erfahren.
     
  2. Die konkreten Maßnahmen müssen objektiv geeignet sein, die individuelle Gefahr einer versicherten Person zu reduzieren, dass durch eine konkrete Gefahrenlage/Gefährdung am Arbeitsplatz, die beruflich beeinflusste Krankheit unterhalten oder verschlimmert wird bzw. wiederauflebt. Damit verbunden sind der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit und die nachhaltige Wiedereingliederung von betroffenen Versicherten in die Arbeitswelt. Zu den Maßnahmen gehören neben allen Möglichkeiten, die das Ausmaß der Einwirkung am Arbeitsplatz reduzieren, auch Maßnahmen, die zu einem besseren Verständnis der Krankheit und der ihr zugrundeliegenden Mechanismen sowie dem Umgang mit Gefährdungen führen. Außerdem können dazu medizinische Angebote gehören, die den Gesundheitszustand der Versicherten dauerhaft verbessern.
     
  3. Lässt sich die konkrete Gefahr der Verschlechterung oder des Wiederauflebens einer Berufskrankheit in Einzelfällen nicht mit anderen Maßnahmen der Individualprävention beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit nicht mehr fortsetzen. Im Rahmen der Entscheidungsfindung werden die Versicherten von den Unfallversicherungsträgern umfassend über die gesundheitlichen Folgen einer Fortsetzung der gefährdenden Tätigkeit, die möglichen Auswirkungen einer Tätigkeitsaufgabe und über den Umfang der zu erbringenden Sozialleistungen, beraten."[3]

Die bisher von den Unfallversicherungsträgern angebotenen Maßnahmen der Individualprävention beziehen sich auf Erkrankungen, zu denen in der Berufskrankheitenliste definierte Berufskrankheiten vorliegen, z. B. Bandscheibenerkrankungen, Lärmschwerhörigkeit, Gonarthrose oder Hauterkrankungen.

Darüber hinaus wäre auch ein erweitertes Angebot denkbar hinsichtlich arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren, die (noch) nicht als Berufskrankheit anerkannt sind. Hierzu zählen auch Erkrankungen, bei denen neuere medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse Hinweise auf berufliche Ursachen liefern. Insgesamt muss es sich hierbei um spezifische und schwerwiegende Erkrankungen handeln – Individualpräventionsmaßnahmen bei allgemeinen arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren sind ausgeschlossen.

Beispiele für bestehende Angebote der Individualprävention

Kniegelenk- und Rückenbeschwerden

Für Personen in erhöht kniebelastenden Berufen und mit chronischen oder rezidivierenden Kniegelenksbeschwerden hat die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) vor einigen Jahren das Kniekolleg ins Leben gerufen. Mit diesem Angebot soll regelmäßiges körperliches Training den biopsychosozialen Gesundheitszustand der Beschäftigten verbessern und so einen Beitrag zur Sicherung der Nachhaltigkeit leisten.[4] Das Angebot gliedert sich in insgesamt fünf Phasen, bei denen sich ambulant beziehungsweise teilstationär durchgeführte Rehaphasen mit Phasen des wohnortnahen Trainings in Fitnessstudios abwechseln.

Die Maßnahmen wurden wissenschaftlich evaluiert und zeigen erfreuliche Ergebnisse. So bewirkt insbesondere die multimodale Therapie in der Initialphase signifikant positive Effekte. Beispielsweise kann durch das spezifische Training die Muskelkraft erhöht, Schmerzen reduziert und die Gangsymmetrie verbessert werden. Über einen Zeitraum von 24 Monaten betrachtet, führt die Teilnahme am Kniekolleg insgesamt zu einer Minderung der Funktionseinschränkungen in Alltag und Beruf und trägt somit zu einer höheren Lebensqualität der Versicherten bei. Als am Erfolg beteiligte Aspekte sind dabei unter anderem die Organisationsform der Bewegungstherapie sowie die Nachhaltigkeit des Programmes zu nennen.

Pflegekräften mit einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule wird durch das Rückenkolleg der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)[5] die Fortsetzung ihrer Tätigkeit ermöglicht. Auch dieses Angebot hat bereits in mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen seine Wirksamkeit bewiesen.[6]

Atemwegserkrankungen

„Allergisches Asthma ist eine chronische Atemwegserkrankung. Damit muss Individualprävention nachhaltig sein. Bei Beschäftigten mit isoliertem Bäckerschnupfen gilt es vorrangig, die typische, spätere Entwicklung eines Asthmas zu verhindern“, beschreibt Dr. Roger Kühn von der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) das Ziel des Bäcker-Präventionsprogramms. Dieses Präventionsprogramm für Beschäftigte im Backgewerbe wurde 1994 als Routineverfahren der Individualprävention eingeführt. Grundlage dafür ist ein strukturiertes, interdisziplinäres und modulares Vorgehen bei der konkreten Analyse der Gefährdungssituation sowie der nachfolgenden individualisierten Auswahl verhaltens- und verhältnispräventiver Ansätze. Vielen Beschäftigten konnte damit der Arbeitsplatz erhalten werden.[7] Da im Bäckerhandwerk immer nur eine Gefahrminimierung und keine Gefahrbeseitigung möglich ist, bildet die individuelle Abwägung der Versicherten die Grundlage des Vorgehens. Fällt die Entscheidung zugunsten des Verbleibs im Beruf aus, können innerhalb des Präventionsprogrammes vielfältige Maßnahmen ergriffen werden. Neben der ärztlichen Diagnostik und Therapie steht die Allergenminimierung im Betrieb. Hier kann beispielsweise auf die Verwendung von staubarmem hydrothermisch behandeltem Mehl hingewirkt werden. Eine zusätzliche Allergenvermeidung im privaten Bereich ist ebenfalls förderlich, da häufig eine Polysensibilisierung vorliegt. Zentrale Rolle bei allen Maßnahmen spielt die Mitwirkung der Versicherten, da es für eine erfolgreiche Individualprävention letztendlich auf ihr Verhalten ankommt. Um dies zu unterstützen, werden im Rahmen des Präventionsprogrammes interdisziplinäre Schulungen und Seminare mit technischen, medizinischen und psychologischen Inhalten angeboten.

Beispiele für künftige Angebote der Individualprävention

Die demografische Entwicklung der Gesellschaft und der damit einhergehende Anstieg des Renteneintrittsalters erfordern Maßnahmen zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit. Trotz primärpräventiver Angebote sind berufsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen maßgeblich für das Arbeitsunfähigkeits- und Berufskrankheitengeschehen. Individualpräventiven Programmen zur Verringerung von Muskel-Skelett-Beschwerden kommt daher eine wachsende Bedeutung zu. [8] Derzeitige Forschungsaktivitäten an der Universität zu Lübeck und am Institut für Arbeitsschutz der DGUV (IFA) nehmen diese Entwicklungen zum Anlass, Empfehlungen zur Erweiterung und Harmonisierung von IP-Programmen zu erarbeiten. Der Erkenntnisstand zu bereits existierenden sekundärpräventiven Maßnahmen soll dabei als Basis für die Entwicklung weiterer Programme genutzt werden. Zusätzlich werden die neuen beruflich bedingten Erkrankungen „Coxarthrose“ und „Rotatorenmanschettenläsion“ in den Blick genommen und Inhalte für entsprechende Pilot-IP-Programme entwickelt.

Bedeutung von Individualprävention für die Praxis

Die stärkere Betonung der Präventionsaufgaben über § 3 BKV hinaus wird zur Intensivierung der bestehenden und zu weiteren Aktivitäten der Unfallversicherungsträger führen.[9] Die bereits bestehenden Programme der Unfallversicherungsträger zur Individualprävention gilt es zu intensivieren und auf weitere für eine Prävention geeignete Krankheitsbilder zu übertragen. Daneben werden Überlegungen angestellt, ob und gegebenenfalls wie künftig zusätzliche Angebote wie zum Beispiel die Nutzung naturheilkundlicher Ansätze und Verfahren zur Salutogenese oder die Verwendung digitaler Medien wie Gesundheits-Apps als individualpräventive Maßnahmen einzubinden sind. Daneben ist auch die Einbindung betriebsärztlicher Expertise in die Implementierung und Umsetzung individualpräventiver Maßnahmen an den Arbeitsplätzen ein lohnenswerter Denkansatz. Bei all diesen Überlegungen wird die Beteiligung der Versicherten einen großen Stellenwert einnehmen. Sie haben ein Wunsch- und Wahlrecht in Bezug auf wirksame Maßnahmen. Die Selbstbestimmung der Versicherten ist wesentlich für den angestrebten Gesamterfolg und wirkt sich förderlich auf ihre Motivation aus.