Neue Impulse für eine interdisziplinäre Beratung der Betriebe
Der Wandel der Arbeitswelt führte bereits in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Bedarf an neuen Themen der Betriebsberatungen, die nach der DGUV Vorschrift 2 durchgeführt werden. Die Neufassung der Vorschrift greift diesen neuen Beratungsbedarf auf und schafft den rechtlichen Rahmen dafür, dass die passenden Berufsgruppen ebenfalls legal Betriebsberatungen durchführen können.
Seit dem Erlass des Arbeitssicherheitsgesetzes (ASiG) vor über 50 Jahren hat sich die Arbeitswelt stark verändert. Standen in dieser Zeit noch mechanische und elektrische Gefährdungen, Lärm, Brand- und Explosionsgefahren sowie schwere physische Arbeit im Fokus der Beratungen der Betriebe, spielen heute Themen wie die Organisation von Sicherheit und Gesundheit, die Vernetzung von Arbeitssystemen und die psychischen Belastungen eine zunehmend wichtigere Rolle.
Das ASiG wurde in den letzten 50 Jahren nie inhaltlich an den Wandel der Arbeitswelt angepasst: Es sieht bis heute ausschließlich eine sicherheitstechnische und arbeitsmedizinische Beratung der Betriebe vor.
Die DGUV Vorschrift 2, die das ASiG konkretisiert, nahm bereits in den früheren Fassungen die oben genannten „neuen Themen“ auf und wies sie einer der beiden Professionen zu, die die Betreuung nach ASiG durchführen dürfen. Das sind aktuell für die sicherheitstechnische Betreuung ausschließlich Personen mit Ingenieur-, Techniker- und Meisterqualifikation sowie für die arbeitsmedizinische Betreuung die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte.
Die „neuen Themen“ sind zwar Bestandteil deren Qualifizierung nach DGUV Vorschrift 2 – eine kurze Behandlung im Rahmen einer Zusatzausbildung ersetzt aber nicht ein Studium.
Fachleute mit einem zwar inhaltlich für die Beratung passenden, aber nicht der DGUV Vorschrift 2 entsprechenden Studium konnten hingegen bisher nicht legal an der Beratung der Betriebe teilnehmen – auch wenn in der Praxis insbesondere über den Weg der „meisterähnlichen Tätigkeiten“ der bestehende Rahmen oft kreativ erweitert wurde. Dadurch ausgeschlossen blieben geeignete Berufsgruppen – etwa mit einem fachlichen Schwerpunkt der Betrachtung der Arbeitssysteme und der Arbeitsorganisation (Arbeitswissenschaften, Arbeitshygiene), mit dem Schwerpunkt der psychischen Belastungen (Arbeits- und Organisationspsychologie) und naturwissenschaftlich/technische Studiengänge, die nicht zum Titel „Ingenieur oder Ingenieurin“ führen.
Dieses Dilemma war auch ein wichtiges Thema in der Projektgruppe, die die Neufassung der DGUV Vorschrift 2 bearbeitete. Erste Ideen, neben der sicherheitstechnischen und betriebsärztlichen Betreuung eine weitere Säule der Betreuung durch weitere Professionen zu schaffen, war im Rahmen des ASiG nicht möglich. Gleichzeitig bestand in der Projektgruppe aber auch ein breiter Konsens darüber, dass das Spektrum der gesetzlich an der Beratung von Unternehmen beteiligten Berufsgruppen erweitert werden muss, um den Anforderungen der heutigen Arbeitswelt fachlich gerecht zu werden.
Öffnung für die Beratung durch weitere Professionen
Die nun gefundene Regelung wurde durch den Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit e. V. (VDSI) als fachliche und politische Vertretung der Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Sifa) in die Diskussion eingebracht und von der überwiegenden Mehrheit der an der Überarbeitung der Vorschrift beteiligten Institutionen befürwortet. Der neue Absatz 7 des § 4 der DGUV Vorschrift 2 sieht vor, dass „Personen mit einem Studienabschluss in Physik, Chemie, Biologie, Humanmedizin, Ergonomie, Arbeits- und Organisationspsychologie, Arbeitshygiene oder Arbeitswissenschaft“ die Anforderungen an eine Fachkraft für Arbeitssicherheit als gleichwertig qualifizierte Personen erfüllen, sofern sie die üblichen Voraussetzungen (Studienabschluss, praktische Tätigkeit im Beruf, Teilnahme an Qualifizierung) durchlaufen haben. Sie können damit als Sifa Betriebe beraten und werden auch die üblichen Qualifizierungen der Lernfelder 1 bis 5 beziehungsweise 6 durchlaufen.
Soll die betreffende Sifa anstelle einer Sicherheitsingenieurin oder eines Sicherheitsingenieurs eingesetzt werden, muss die zuständige Landesbehörde für Arbeitsschutz zustimmen. Bei Sicherheitstechnikerinnen und -technikern oder Sicherheitsmeisterinnen und -meistern besteht diese Pflicht nicht.
Befürchtungen einiger Personen, eine Sifa mit einer Grundqualifikation im medizinischen, arbeitspsychologischen beziehungsweise -hygienischen oder ergonomischen Bereich wäre mit technischen Fragen überfordert, wurden in der internen Diskussion entkräftet. Zum einen gibt es eine vergleichbare fachliche Vielfalt bereits seit mehr als 30 Jahren bei Aufsichtspersonen (und damit nicht nur beratend, sondern sogar überwachend), ohne dass es hier zu Problemen gekommen wäre.
Zum anderen ist es bereits heute das Selbstverständnis der Sifa-Qualifizierung, dass alle teilnehmenden Personen – unabhängig von ihrer Grundqualifikation – zum gleichen Abschluss und zur gleichen Einsatzfähigkeit geführt werden. Auch von einer Sifa mit einem Ingenieurstudium wird erwartet, dass sie zumindest eine allgemeine Beratung zu organisatorischen Fragen oder zu psychischen Belastungen durchführen kann, auch wenn diese Themen nicht im Studium behandelt wurden. Umgekehrt wird auch von einer Sifa mit einer der „neuen“ Professionen eine Einarbeitung in technische Fragen erwartet.
Die DGUV Regel 100-002 stellt zudem klar, dass die Ausgangsqualifikation der Fachkräfte für Arbeitssicherheit eine angemessene Berücksichtigung insbesondere der typischen Gefährdungen des zu betreuenden Betriebs erwarten lassen muss. Somit werden sich Betriebe mit dem Schwerpunkt technische Probleme eher an eine Sifa mit technischem Hintergrund, Betriebe mit dem Schwerpunkt psychische Belastungen hingegen an eine Sifa mit arbeitspsychologischem Hintergrund wenden.
Am interessantesten ist die neue Regelung sicherlich für größere innerbetriebliche sowie für überbetriebliche sicherheitstechnische Dienste. Hier besteht nun die Chance, ein interdisziplinäres Team zu formen, das zu allen in den Betrieben vorkommenden Belastungs- und Gefährdungsarten eine fachlich fundierte Beratung anbieten kann. Dies ist gerade bei überbetrieblichen Diensten wichtig, die parallel unterschiedliche Betriebe mit ihren speziellen Beratungsschwerpunkten betreuen. Es ist jetzt möglich, zum Beispiel ein Stahlwerk primär durch eine Sifa mit technischer Grundqualifikation zu betreuen und Beratungsleistungen zu psychischen Belastungen durch eine eigene Sifa mit psychologischer Grundqualifizierung anlassbezogen zu ergänzen. Bei der Betreuung zum Beispiel eines Sozialamtes wäre die Rollenverteilung dann umgekehrt.
Qualifizierung inner- und außerhalb der Universitäten
Ingenieure und Ingenieurinnen der Sicherheitstechnik können bereits heute studienbegleitend die Qualifikation zur Sifa erwerben, da Teile des Studiums auf die Sifa-Ausbildung angerechnet werden können und diese sich somit verkürzt. Die Schaffung dieser Synergien zwischen der universitären Ausbildung und der Qualifizierung zur Sifa gemäß § 4 Abs. 6 der DGUV Vorschrift 2 wäre auch für andere einschlägige Studiengänge möglich. Vorschläge dazu, wie zum Beispiel der Entwurf einer Fachpsychologie-Weiterbildung „Arbeit: Sicherheit und Gesundheit“ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), gibt es bereits. Sie müssen nun an die neue DGUV Vorschrift 2 angepasst und umgesetzt werden. Damit würde gerade für die Absolventinnen und Absolventen der anwendungsorientierten Studiengänge, die das Thema „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ zum Schwerpunkt haben, ein attraktiver Stellenmarkt geschaffen, in dem Inhalte des Studiums ressourcensparend eingesetzt werden können.
Dies bedeutet für die Universitäten aber auch, dass sie ihre Studieninhalte regelmäßig an die sich ständig ändernde Rechtslage anpassen müssen und beispielsweise die kommenden Regeln zur psychischen Belastung bei der Arbeit, zur Gefährdungsbeurteilung oder zur Unterweisung in ihr Curriculum integrieren müssen.
Anpassungsbedarf gibt es auch beim Curriculum der Sifa-Qualifizierung durch das Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG) und die Unfallversicherungsträger. Kommen die Absolventinnen und Absolventen nun nicht mehr ausschließlich aus technischen Studiengängen, so müssen gerade diese Themen an die neue Vielfalt der Studienabschlüsse angepasst werden. Dass dies ohne Probleme möglich ist, zeigt die gemeinsame Ausbildung zur Aufsichtsperson der DGUV.
Änderung auch bei der betriebsspezifischen Betreuung
Eine weitere Änderung in diesem Kontext gab es in der Anlage 2, die die Betreuung von Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten regelt. Hier wurde ein Passus eingefügt, dass betriebsspezifische Beratungen zu speziellen Fachthemen, etwa zur Durchführung einer Beschäftigtenbefragung zur Einbeziehung der psychischen Belastungen in die Gefährdungsbeurteilung, auch von Personen mit entsprechender Fachkompetenz erbracht werden können, die nicht über eine Qualifikation als Betriebsärztin oder Betriebsarzt oder als Fachkraft für Arbeitssicherheit verfügen. Diese sind hier aber zu informieren und der Personal- oder Betriebsrat ist zu beteiligen.
Fazit
Die Aufnahme weiterer geeigneter Berufsgruppen in die Beratung der Betriebe zur Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ist sicher einer der Pluspunkte der überarbeiteten DGUV Vorschrift 2. Sie ermöglicht die planbare Arbeit in interdisziplinären Teams – insbesondere in großen innerbetrieblichen und generell in überbetrieblichen Diensten. Dies wird die Qualität der Beratung erhöhen.
Die geschaffene Freiheit kann auch genutzt werden, um die Folgen für die Aus- und Weiterbildung sowie für den Arbeitsmarkt der Betriebsberatungen noch besser einschätzen zu können. Dann könnte auch das ASiG in einer ersten Revision nach über 50 Jahren stärker als bisher an fachliche Anforderungen einer geänderten Arbeitswelt angepasst werden.