Werteentwicklung als Navigator in einer kompetenzorientierten Qualifizierung
Werte werden in der Arbeitswelt zunehmend zum Navigator für Sicherheit und Gesundheit. Ein Überblick über die Erkenntnisse und Möglichkeiten zur Integration der Werteentwicklung in die Präventionsleistung Qualifizierung.
In vielen gesellschaftlichen Bereichen wird dem Thema Werte und Haltung derzeit Beachtung geschenkt. Dass der Erfolg einer gelingenden Qualifizierung für Sicherheit und Gesundheit im Wesentlichen auf einem gemeinsam verhandelten Wertesystem der beteiligten Akteurinnen und Akteure beruht, ist den meisten nur selten explizit bewusst. Wertereflexion und -entwicklung bei der Planung und Entwicklung von Qualifizierungsportfolios zu nutzen, macht Qualifizierung wertvoll für Unfallversicherungsträger, Lernende und versicherte Unternehmen. Zu dieser Erkenntnis gelangte die Unterarbeitsgruppe Grundlagen der Erwachsenenbildung des Ausschusses Aus- und Weiterbildung der DGUV (AAW)[1] bei der Auseinandersetzung mit der Fragestellung, wie die Entwicklung von Werten und Haltung für die Durchsetzung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit in Qualifizierungsmaßnahmen gefördert werden kann.
Wie New Work die Arbeits- und Lernkultur herausfordert
Der Begriff New Work[2] ist im öffentlichen Sprachgebrauch immer häufiger anzutreffen. Der rasante Wandel der Arbeitswelt ist am Fortschritt der Digitalisierung und ihren Auswirkungen auf die Art zu kommunizieren und zu arbeiten erkennbar. Neue Technologien, Vernetzung von Menschen und Maschinen, die Entwicklung künstlicher Intelligenz und Innovationen stellen die uns heute noch bekannte Arbeitswelt auf den Kopf. New Work ist weniger ein Schlagwort. Dahinter verbirgt sich vielmehr die Philosophie, Leben und Arbeitskultur so zu gestalten, dass Arbeit auch künftig als sinnstiftend und persönlichkeitsfördernd erlebt wird. Arbeiten in einer vernetzten Welt bedeutet, dass neben der Mensch-Maschine-Schnittstelle die Mensch-IT-Schnittstelle für Wertschöpfungsprozesse und die Mensch-Mensch-Schnittstelle für Kooperationsprozesse an Bedeutsamkeit gewinnen. Bildungsplanende, Lernende und Lernbegleitende werden mit diesen Entwicklungen umgehen müssen. Im Bereich Sicherheit und Gesundheit ist in den letzten Jahren vermehrt der Fokus auf die psychomentale Gesundheit gerichtet worden. Ein "Weiter so" wird zu wenig sein. Wurden die Menschen in einer Industriegesellschaft vorwiegend mit ihren physischen Grenzen konfrontiert, werden sie im 21. Jahrhundert und in der Zukunft mehr und mehr mit ihren psychischen Grenzen konfrontiert sein.[3] Umbruchphasen bedeuten Verdrängung bekannter Routinen und das Infragestellen einer gewohnten Arbeits-, Organisations- und Lernkultur.
Entgegen eigenen Überzeugungen, Werten und Gefühlen arbeiten zu sollen, ist ein bedeutsamer Risikofaktor für Gesundheit und Betriebsergebnis.[4] Sinnstiftung, Bedeutsamkeit und Handlungswirksamkeit sind Indikatoren für gesunde Arbeit. Welchen Beitrag gelebte Unternehmenswerte für die Gesundheit Beschäftigter leisten, zeigt der Monitor Psychische Gesundheit 2019: Fairness, Gemeinschaftssinn und Kollegialität sind entscheidend für das psychische Wohlbefinden.[5]
Agile Lernsysteme gewinnen an Bedeutung
Qualifizierungsangebote müssen Schritt halten mit dem Tempo der Veränderung, damit Menschen an diesem Prozess partizipieren und gesund bleiben können. Agile Arbeitssysteme[6] werden in einer Welt der Wissensarbeit und Digitalisierung zunehmen. Berufliche Bildung und damit auch Qualifizierung für Sicherheit und Gesundheit befinden sich bereits jetzt im Spektrum der analogen und digitalen Angebote. Agile Lernsysteme gewinnen immer mehr an Bedeutung. Formelles und fremdgesteuertes Lernen, wie wir es in frontalen Lernsettings kennen, wird schon jetzt zunehmend durch informelles und selbst organisiertes Lernen ergänzt. Lernen an realen Herausforderungen wird zunehmend durch soziale Netzwerke auch im Arbeitskontext ermöglicht und geprägt. Digitale Kompetenz ist für vernetzte Zusammenarbeit ebenso Voraussetzung wie Sozialkompetenz und Selbstkompetenz. Die Lernwelt wird daher mehr denn je auf kollaborierendes Lernen setzen und Erfahrungen aus der Arbeitswelt übernehmen.
Entgegen eigenen Überzeugungen, Werten und Gefühlen arbeiten zu sollen, ist ein bedeutsamer Risikofaktor für Gesundheit und Betriebsergebnis. Sinnstiftung, Bedeutsamkeit und Handlungswirksamkeit sind Indikatoren für gesunde Arbeit.
Lernen in der Arbeitswelt findet schon heute zunehmend in den Arbeitsprozessen selbst statt. Neue Arbeitsformen, neue Technologien und neue Formen der Zusammenarbeit werden dazu führen, dass sich dieser Ansatz mehr und mehr durchsetzen wird. Haben die berufliche Bildung und die Qualifizierung für Sicherheit und Gesundheit die Zeichen der Zeit verpasst? Mit Bezug auf Luyendijk, Michel und Worthan kritisiert Badura, dass unser Bildungssystem Fachmenschen ohne Sozialkompetenz hervorbringe, eine Kooperationsgesellschaft jedoch besonderen Bedarf an zwischenmenschlichen Fähigkeiten, Gemeinsinn und Gerechtigkeit habe. Das Einhalten von Regeln und Gesetzestreue allein reichten weder für den Zusammenhalt ganzer Gesellschaften noch zur Steuerung einzelner Unternehmen aus.[7]
Analog zur agilen Arbeitswelt wird sich agiles Lernen etablieren
Agile Arbeitsformen[8] scheinen das Erfolgsrezept für Innovation, Kundenzufriedenheit und erfolgreiche Unternehmen mit zufriedenen Beschäftigten zu sein. Analog zur agilen Arbeitswelt wird sich agiles Lernen etablieren.[9] Was können Menschen, die für Qualifizierungsportfolios, Konzepte und Formate verantwortlich und als Lernbegleitende aktiv sind, aus diesem Ansatz für ihre Tätigkeit schlussfolgern?
- Nicht nur die Arbeitswelt, auch die Lernwelt wird einer hohen Dynamik unterliegen.
- Längerfristige Planbarkeit scheint immer schwieriger zu werden. Die Strategieentwicklung für eine zeitgemäße Qualifizierung lässt sich unter den schnell verändernden Rahmenbedingungen mit dem Navigieren eines Fahrzeugs bei schlechter Sicht vergleichen.
- Wertesysteme bilden eine wichtige Orientierung für ein Zurechtfinden in dynamischen Arbeits- und Lernsystemen.
- Werteentwicklung erfolgt im Rahmen eines emotional-motivationalen Prozesses. Damit sie gelingt, braucht es Entwicklungsarrangements, die ein systematisches Erfahrungslernen ermöglichen.
Neue Kompetenzen sind gefragt
Was macht eine Qualifizierung aus, die den Anforderungen an die dargestellten Herausforderungen gerecht wird, die den Menschen in ihren sich immer mehr verbindenden Lebenswelten nutzt, die ihren Bedürfnissen und denen der Unternehmen entspricht? Mehr noch: Wenn wir Baduras Risikoeinschätzung zum Arbeiten entgegen eigener Wertesysteme auf Lernen übertragen, lässt sich schlussfolgern, dass Werteorientierung und Werteentwicklung wesentlich für zeitgemäße und auch gesundheitsförderliche Bildungsprozesse sind. Die Anforderungen an Planende, Entwickelnde, Lernende und Lernbegleitende werden sich grundlegend und mit wachsender Geschwindigkeit verändern.[10] Erste Erfahrungen konnten Bildungsträger pandemiebedingt 2020/21 sammeln, als kurzfristig Bildungsangebote von Präsenz auf Onlineformate umgestellt werden sollten und man feststellte, dass dazu mehr gehört, als ein Präsenzformat in ein Onlineformat zu transformieren. Lernroutinen und -handlungen, die über Jahrzehnte praktiziert werden, funktionieren zunehmend weniger. Neue Kompetenzen der Lehrenden und Lernenden beziehungsweise deren Kompetenzerweiterung sind gefragt.
Qualifizierung eröffnet Dialogräume für Wertereflexion
Mit dem Anliegen, neue Arbeitsformen gesundheitsgerecht zu gestalten, rückt für die Qualifizierung die Beschäftigung mit dem Thema Werte und Haltung in den Fokus. Ein gemeinsames Wertesystem auszuhandeln reicht nicht aus. Es mit Leben zu erfüllen, bedeutet zunächst die Schaffung eines gemeinsamen Verständnisses dessen, was mit Werten gemeint ist. Warum – das zeigt eine Assoziationsübung zum Gesundheitsbegriff sehr deutlich. Die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Gesundheit[11] ist weithin bekannt. Die vielfältigen Assoziationen unterschiedlicher Personen zum Begriff zeigen die Individualität der Erfahrungswelten und die Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse und Wertehierarchie bei den Befragten.
Soll für Personen, Teams und Organisationen die Entwicklung eines gemeinsamen Wertesystems zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit gelingen, sind Dialogräume erforderlich, die die Wertereflexion, das Erkennen von Gemeinsamkeiten und das Aushandeln eines gemeinsamen Wertekanons ermöglichen. Die Präventionsleistung Qualifizierung ist dafür prädestiniert, Dialogräume zu schaffen.
Wissen führt nicht zwangsläufig zu Verhaltensänderungen
Bei Themen zur Verantwortung für Sicherheit und Gesundheit geht es um gesellschaftliche Werte, die im staatlichen und autonomen Recht verankert sind. Mitunter werden sie noch über Wissensziele an Führungskräfte und andere Beteiligte der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes im Betrieb vermittelt. Dabei entsteht bei dieser Zielgruppe nicht selten der Eindruck, zusätzliche Aufgaben übernehmen zu müssen, was als Last empfunden wird. Verstärkt wird dieses Empfinden durch die sprachlichen Mittel aus dem Gesetzestext, die bei Frontalvermittlung als Verstärker wirken; so der ständig wiederkehrende Gebrauch der Imperativform oder des Verbots. Beispiele sind: § 4 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG): "Der Arbeitgeber hat bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes von folgenden allgemeinen Grundsätzen auszugehen […]"; § 3 Abs. 3 ArbSchG: "Kosten für Maßnahmen nach diesem Gesetz darf der Arbeitgeber nicht den Beschäftigten auferlegen"; § 4 Nr. 2 ArbSchG: "Gefahren sind an ihrer Quelle zu bekämpfen."[12] Wissen über das Regelwerk führt nicht zwangsläufig zu Verhaltensänderungen oder zu gesundheitsgerechtem Führungsverhalten und lebendiger, wertebasierter Organisationsentwicklung.
Gemeinsame Werte entstehen im Diskurs
Wenn Qualifizierung ermöglicht, dass Führungskräfte Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Wertesystem für Personalführung und Prozessmanagement und den zugrunde liegenden Werten im Regelwerk erkennen, wird die Durchsetzung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz im eigenen Bereich weniger als Last erlebt.
Soll für Personen, Teams und Organisationen die Entwicklung eines gemeinsamen Wertesystems zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit gelingen, sind Dialogräume erfoderlich, die die Wertereflexion, das Erkennen von Gemeinsamkeiten und das Aushandeln eines gemeinsamen Wertekanons ermöglichen.
Das Bewusstsein über die Übereinstimmung zwischen dem Anliegen, rechtskonform zu handeln, und gemeinsamen Werten entsteht im Diskurs. Erwünschte Werte, erlebte Werte, gemeinsam ausgehandelte Ziele und Maßnahmen sowie deren Priorisierung können Gegenstand dieses Diskurses zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Akteurinnen und Akteuren für Sicherheit und Gesundheit und vor allem gemeinsam mit den Beschäftigten sein. Die Reflexion, Entwicklung und Erweiterung von gemeinsamen Wertesystemen sind zudem Voraussetzungen für die Neuordnung von Denkpfaden und damit für die Verhaltensänderung und Erweiterung des Handlungsrepertoires. Werteentwicklung ist in der modernen Arbeitswelt keine Einbahnstraße. Sie ist das Resultat zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse.
Lernen als selbst organisierte Werte- und Kompetenzentwicklung
Das Verständnis von Lernen entwickelt sich weiter. Mit den Worten von Sauter et al.: "Agiles Lernen ist identisch mit der selbstorganisierten Werte- und Kompetenzentwicklung im Prozess der Arbeit und im Netz."[13] Folgende Prinzipien gewinnen an Bedeutung und sind Wegweiser für eine moderne Qualifizierung für Sicherheit und Gesundheit:[14]
A Alternierende (sich abwechselnde) Phasen von Lernen, Anwenden und Anpassen prägen die Kompetenzentwicklung.
G Gemeinsame Werte, Kompetenzziele und Kollaboration im Team bilden die Grundlage für die Zusammenarbeit von Akteurinnen und Akteuren in den Bildungsträgern gleichermaßen wie zwischen Lernenden und Lernbegleitenden.
I Iteratives Reflektieren (regelmäßige Reflexionsschleifen) des gemeinsamen Wertesystems und Abgleichen der Kompetenzziele kennzeichnen die Interaktionen in der Qualifizierung.
L Lernprojekte aus realen Arbeitsprozessen mit direkter Anwendungsorientierung bilden die Grundlagen für Lern- und Entwicklungsarrangements.
Der kompetenzorientierte Qualifizierungsansatz für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit orientiert sich bereits an einigen dieser Prinzipien.
Werteentwicklung ist ein Erkenntnisprozess
Die Unterarbeitsgruppe Grundlagen der Erwachsenenbildung des AAW hat sich im Rahmen eines interaktiven Austauschprozesses dem Wertebegriff genähert. Neben vielen anderen Erkenntnissen reifte auch die, dass die Art der Herangehensweise an diese Thematik fundamental die Auseinandersetzung mit und die Entwicklung von Werten bei Teilnehmenden an Qualifizierungsmaßnahmen im Kontext Prävention ebenso fördern kann.
Was macht den Begriff Werte aus? Sich zunächst auf einen gemeinsamen Begriff zu einigen, war nicht nur der Einstieg in einen gemeinsamen Austausch in der Unterarbeitsgruppe, sondern in erster Linie in einen Erkenntnisprozess. Für die Beteiligten waren folgende Aspekte zum Wertebegriff im weiteren Prozess handlungsleitend:
- Werte sind Konstrukte, die sich auf der Grundlage von reflektierten Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit Normen sowohl auf der individuellen als auch organisationalen Ebene entwickeln.
- Werte entstehen durch kognitive Verarbeitungsprozesse von Erfahrungen, Emotionen, Motiven und Bedürfnissen.
- Werte sind Resultat eines inneren und äußeren Aushandlungsprozesses.
- Werte sind dynamisch, sie verändern sich im Laufe der Zeit.
- Werte werden stark von allgemein gesellschaftlich anerkannten Normen beeinflusst.
Werteentwicklung erfolgt individuell und nicht von außen
Sauter et al. beschreiben Werte als "Ordner, die die individuell-psychische und die sozial kooperative menschliche Selbstorganisation des Handelns bestimmen oder zumindest stark beeinflussen. Erst Werte ermöglichen ein Handeln unter Unsicherheit. Sie überbrücken oder ersetzen fehlendes Wissen, schließen die Lücke zwischen Wissen einerseits und dem Handeln andererseits".[15] Sie sind demnach individuelle Anker und zugleich eine Art Navigator für das Handeln von Menschen und Organisationen. Zudem bilden in einer agilen Entwicklungskultur "Wissens- und Qualifikationsziele (Curricula) nur noch eine – notwendige! – Voraussetzung: Individuelle Werte- und Kompetenzziele bestimmten die personalisierten Lernprozesse".[16]
Werte sind komplex, miteinander vernetzt und bilden Wertesysteme. Werteentwicklung ist daher ein individueller Prozess, für den zeitgemäße Qualifizierungsangebote Entwicklungsräume eröffnen können. Die Annahme, dass Werte im Rahmen von Bildungsmaßnahmen von außen vermittelt und durch Teilnehmende übernommen werden, ist eine Fehlannahme und offenbart eine Haltung, die Werte wie Autonomie und persönliches Wachstum in ihrem Wertesystem wenig priorisiert. Zudem verliert sie die Fähigkeit zur Selbstaktualisierung und Selbstregulation aus dem Blick. Haltung basiert auf einem Wertesystem und vermittelt Einstellungen, die aus dem Handeln beobachtbar und interpretierbar sind. Daher ist eine weitere Erkenntnis der Unterarbeitsgruppe: Werte sind schwer erfassbar und schwer messbar. Sie sind implizite, äußerlich nicht sichtbare Konstrukte. Sie lassen sich aus dem Beobachten von Handlungen ableiten und unterliegen damit einer subjektiven Interpretation der beobachtenden Person.
Werteentwicklung gelingt durch Austausch
Die Entwicklung von Wertesystemen unterliegt individuellen, organisationalen und gesellschaftlichen Einflüssen. Unfallversicherungsträger bewegen sich mit ihren Präventionsleistungen zwischen gesetzlichem Auftrag und den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten, die sich in unterschiedlichen Systemebenen wiederfinden.
Wenn Qualifizierung ermöglicht, dass Führungskräfte Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Wertesystem für Personalführung und Prozessmanagement und den zugrunde liegenden Werten im Regelwerk erkennen, wird die Durchsetzung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz im eigenen Bereich weniger als Last erlebt.
Der systemische Blick im eigenen Haus und die Vernetzung mit weiteren Beteiligten im Bereich der Prävention sind Voraussetzungen für die Entwicklung und Aktualisierung des eigenen Wertesystems und für eine zeitgemäße Qualifizierung im Rahmen von zukunftsorientierter Prävention – so eine weitere Erkenntnis der Unterarbeitsgruppe Grundlagen der Erwachsenenbildung. Durch ihre systematische und strukturierte Auseinandersetzung mit dem Wertebegriff haben die Prozessbeteiligten erfahren, dass mithilfe eines Wertetools[17] individuelle und Wertesysteme von Teams und Organisationen abgebildet und verglichen werden können. Erste Maßnahmen zur Entwicklung gemeinsamer Wertevorstellungen und deren Umsetzung in der Praxis können abgeleitet werden – und das nicht nur auf einer Theorieebene, sondern ganz praktisch zur Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Die daraus folgende Erkenntnis der Arbeitsgruppe war: Werte werden durch Austausch, Werteabgleich und Interaktion auf Augenhöhe lebendig. Lernbegleitende im Sinne eines kompetenzorientierten Bildungsverständnisses fördern Interaktion und kommen diesem Anspruch sehr nah. Um diese Rolle ausfüllen zu können, bedarf es einer förderlichen Kultur beim jeweiligen Träger. Zusammenarbeit auf Augenhöhe heißt, Werte und ihre Systemzusammenhänge sowie ihre Vernetzung zu erkennen, zu benennen, zu hinterfragen und Wertesysteme weiterzuentwickeln. In diesem Aushandlungsprozess entstehen gemeinsame Prinzipien der Kooperation.
Werteentwicklung fördert das Wirgefühl für die Sache
Die Integration der Wertereflexion als stetiger interaktiver Prozess bei der Entwicklung und der Durchführung von zukunftsorientierten Lernangeboten beim Qualifizierungsanbieter selbst ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für das Gelingen der Präventionsleistung Qualifizierung – so eine weitere wesentliche Erkenntnis der Unterarbeitsgruppe aus dem interaktiven Lernprozess zum Thema Werte. Werteentwicklung braucht Interaktion, Zeit, Kontinuität, Kommunikation auf Augenhöhe und Prozessdenken. In den drei kurzen Workshopsequenzen zur Annäherung an das Thema Haltung und Werte in der Qualifizierung wurde für die Beteiligten erlebbar, dass moderierter und strukturierter gemeinsamer Austausch nicht nur zum Nachdenken anregt und zu einem gemeinsamen Verständnis zum Thema führt, sondern ein Wirgefühl für die Sache fördert. Die Beteiligten erlebten die kurzen Workshops als anregend, ideengebend und inspirierend. Die Erkenntnisse aus dem Interaktionsprozess unter Anwendung des Wertetools öffneten für die Teilnehmenden den Weg für Handlungsoptionen in den eigenen Verantwortungsbereichen.
Wertereflexion macht Qualifizierungsträger authentisch
Wenn Qualifizierung als wertvoll, bedeutungsvoll, sinnhaft und bereichernd für die eigene Praxis empfunden wird, sind Teilnehmende motiviert für einen Transfer in ihre Praxis. Darüber herrscht Einigkeit unter Lernbegleitenden und Teilnehmenden. Was sind Erfolgsfaktoren gelingender Bildung für Sicherheit und Gesundheit in der sich verändernden Arbeitswelt? Erwachsenengerechte Didaktik, durchdachte Methodik, Zielgruppen- und Praxisorientierung, "form follows function", didaktische Reduktion, Evaluation und kontinuierliche Weiterentwicklung – ganz klar JA. Der Weg dorthin "passiert" auf die eine oder andere Weise.
Dass die Entwicklung von Qualifizierungsportfolios und -formaten auf Wertesystemen beruht, wissen Akteurinnen und Akteure im Bildungsbereich. Seltener jedoch wird bewusst reflektiert, welche Werte die Basis für die Angebote bilden und welches Menschenbild hinter diesen Werten steckt. Wenn wir von Teilnehmenden an Qualifizierungsmaßnahmen erwarten, dass sie ihr Wertesystem und ihre Haltung zum Thema Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit reflektieren und weiterentwickeln, müssen wir als Bildungsträger bei uns selbst beginnen, unser Wertesystem, unsere Haltung und unser Menschenbild zu reflektieren, sonst sind wir nicht authentisch.
Werte- und Rollenbetrachtung als Entwicklungshelfer
Für die Reflexion der eigenen Haltung und Wertesysteme als Konzeptentwickelnde und Lernbegleitende lohnt es sich, im ersten Schritt zu klären, wo sich der Träger und die Beteiligten im pädagogischen Werte- und Entwicklungsquadrat nach Schulz von Thun[18] verorten würden.
Nach dem traditionellen Rollenbild, das Lehrende in frontalen Lernsettings zeigt und das Lernende aufgrund ihrer Lernbiografie verinnerlicht haben, sind Lernprozesse stark durch Reglementierung und Eingreifen in den Lernprozess gekennzeichnet. Autorität ist dabei ein bestimmender Wert für das Zusammenspiel zwischen Lehrenden und Lernenden. Unter den Einflüssen einer immer agiler werdenden Arbeits- und Lernwelt sind Lernbegleitende gefordert, individuellen Lernwegen ihrer Teilnehmenden noch stärker Beachtung zu schenken als in den Leitlinien zur kompetenzorientierten Bildung für Sicherheit und Gesundheit formuliert.
Die Entwicklung von Wertesystemen unterliegt individuellen, organisationalen und gesellschaftlichen Einflüssen. Unfallversicherungsträger bewegen sich mit ihren Präventionsleistungen zwischen gesetzlichem Auftrag und den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten, die sich in unterschiedlichen Systemebenen wiederfinden.
Agiles Lernen setzt anstelle von Reglementierung die Strukturierung und anstelle von Direktivität die Selbstorganisation. Das setzt ein Menschenbild gegenüber Teilnehmenden voraus, das auf den Werten Autonomie (bei Entscheidungen über Lernwege), Freiheit (bei der Wahl des Angebots oder Formats), Freude (an Weiterentwicklung), Zutrauen (in die eigenen Fähigkeiten und Entscheidungskompetenzen), Gemeinschaftsgefühl (partnerschaftliche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden), Gleichstellung (Agieren auf Augenhöhe), Transparenz und Offenheit (für wertschätzendes Feedback und neue Erfahrungen) sowie Fairness (im Umgang miteinander) beruht. Das Modell des pädagogischen Werte- und Entwicklungsquadrats verdeutlicht, dass eine Wertebetrachtung Entwicklungsrichtungen aufzeigen und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle führen kann. Damit wird eine strukturierte Wertereflexion zum Entwicklungshelfer für ein zeitgemäßes Bildungsverständnis.
Qualifizierung ist WERT-VOLL, wenn Wertereflexion "passiert"
Zukunftsorientierte Qualifizierungsangebote zu entwickeln, bedeutet für Bildungsanbieter zunächst zu analysieren, in welche Richtung des pädagogischen Werte- und Entwicklungsquadrats ihre Wertvorstellungen tendieren und wie weit sie sich den Werten einer zeitgemäßen Bildung schon genähert haben. Die Standortbestimmung, eine anschließende Reflexion ihres Wertesystems und die Entwicklung gemeinsamer Ziele und Maßnahmen aller an Qualifizierung Beteiligter sind die Navigatoren für ein zeitgemäßes Qualifizierungsportfolio. Neben dem Einbau von Reflexionsphasen zum Lerngeschehen bietet das Wertetool diverse Einsatzmöglichkeiten, um das Wertethema in Fachthemen zu integrieren. Das Thema Werte und Haltung muss in einem Qualifizierungsportfolio nicht explizit aufgeführt sein. Qualifizierung zu Sicherheit und Gesundheit ist dann wertvoll, wenn die Integration der Entwicklung von Haltung und Werten im Rahmen der Fachthemen für die Teilnehmenden einfach nur passiert. Werteentwicklung als Navigator in einer komplexen, sich schnell verändernden Arbeitswelt zu erkennen, zu verstehen und zu nutzen, bedeutet für Teilnehmende nicht zuletzt, an gesundheitsförderlichen Lernprozessen teilzunehmen.
Qualifizierung kann somit auf mehreren Ebenen sehr WERT-VOLL sein!
Kurzzusammenfassung des Wertetools
- Anliegen (einen Grundwert) mit "wkw-Frage" formulieren, zum Beispiel: Wie können wir erreichen, dass Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit gelingen?
- Indikatoren ermitteln und Indikatoren-Cluster bilden
- den zugrunde liegenden Wert pro Cluster benennen und mit jeweils fünf Grundaussagen spezifizieren
- mittels Punktzahlvergabe von eins bis zehn Ausprägungsgrad pro Aussage bei Werten ermitteln und Durchschnitt pro Wert bilden
- Wertesystem und Werteausprägung in einem Netzdiagramm visualisieren
- Schlussfolgerungen ziehen und Maßnahmen ableiten
- Erfolgskontrolle festlegen
- Feedback zum Prozess einholen
Literatur:
Arbeitsgruppe Aus- und Weiterbildung, Unterarbeitsgruppe Grundlagen der Erwachsenenbildung (Flyer): KompetenzBildung für Sicherheit und Gesundheitsschutz (KoSiG). Unser Bildungsverständnis. Berlin, DGUV, 2013
Badura, B. et al.: Arbeit und Gesundheit im 21. Jahrhundert. Mitarbeiterbindung durch Kulturentwicklung. Berlin, Springer Gabler, 2017
Beck, K. et al.: Manifest für agile Softwareentwicklung, unter: Manifest für Agile Softwareentwicklung (agilemanifesto.org), 2001 (abgerufen am 14.06.2021)
Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz: Arbeitsschutzgesetz. Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit. Berlin, Juris, 1996/2020
Initiative Neue Qualität der Arbeit: Monitor Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt. Aktuelle Erkenntnisse zu betrieblichen und individuellen Einflussfaktoren nach Einschätzung der Beschäftigten. Berlin, BAuA, 2019
Sauter, R. et al.: Agile Werte- und Kompetenzentwicklung. Wege in eine neue Arbeitswelt. Berlin, Springer Gabler, 2018
Schulz von Thun, F.: Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differentielle Psychologie der Kommunikation. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Sonderausgabe September 2008
Weltgesundheitsorganisation (WHO): WHO-Satzung, unter: couv arabe.indd (who.int), 1946 (abgerufen am 14.06.2021)