Zurück zu Präsenz oder zukünftig doch nur online?
Vor drei Jahren suchte die DGUV-Projektgruppe „Zukunftsorientierte Qualifizierungsformate“ nach Orientierung im Dschungel der Qualifizierungsmöglichkeiten. Ausgehend von den Erfahrungen während der Corona-Pandemie werden die Projektergebnisse kritisch reflektiert und erweitert.
Vom Dschungel in die Wüste?
Vor gar nicht langer Zeit setzte sich die Projektgruppe „Zukunftsorientierte Qualifizierungsformate“ intensiv mit der Frage auseinander, wie zukünftiges Lernen im Allgemeinen und vor allem in der Welt der Unfallversicherungsträger aussehen könnte. Die rasanten technischen Entwicklungen der vergangenen 15 Jahre haben eine unendliche Vielfalt von neuen, digitalen Lernmöglichkeiten hervorgebracht. Fragen kamen auf: „Braucht es Präsenzseminare überhaupt noch?“, „Ist Bildung zukünftig nur noch digital?“ und wenn ja: „Welches E-Learning-Angebot ist das beste?“ Im Zuge der Ausarbeitung waren die Mitglieder der Projektgruppe jedoch schnell überzeugt: Es gibt nicht das eine zukunftsfähige Format! Viel zu divers erschienen die Zielgruppen, Lernziele und Themen der verschiedenen Unfallversicherungsträger. Die Hypothese der Projektgruppe war eindeutig: Vielfältige Präsenzformate werden bestehen bleiben. Digitale Lernformate werden sich zukünftig immer stärker mit ihnen verknüpfen und das vorhandene Portfolio erweitern: Der Dschungel der Formate wird weiterwachsen.[1]
Dann kam die Corona-Pandemie. Auf einmal schien es nur noch ein einziges krisenfestes Format zu geben: synchrone Onlinequalifizierungen. Diese wurden mithilfe von Videokonferenztechnik in kurzer Zeit entwickelt und umgesetzt. Zentrale Auswahlkriterien für geeignete Tools waren weniger methodisch-didaktische Überlegungen als vielmehr datenschutzrechtliche Aspekte und kurzfristige Verfügbarkeit. Sorgfalt bei der Auswahl von Qualifizierungsformaten, den Teilnehmenden Zeit geben, damit sie ihre Kompetenzen (weiter-)entwickeln können, und eine durchdachte Kombination unterschiedlicher Formate, all diese Empfehlungen rückten in den Hintergrund.
So ist mehr als ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie von einem vielfältigen, üppigen Dschungel der Formate nicht mehr viel übrig. Einzig das genannte Format der synchronen Online-Qualifizierung scheint beständig zuzunehmen. Auch Zielgruppen, die vor einem Jahr kaum für diese E-Learning-Programme in Betracht gezogen wurden, nehmen die Angebote wahr und überraschen mit positivem Feedback. Hat sich die Projektgruppe geirrt? Muss die Projektgruppe vor diesem neuen Hintergrund ihre Empfehlungen für die Auswahl von Formaten, die als Ergebnis vor zwei Jahren in dieser Zeitschrift veröffentlicht wurden, neu bewerten und vielleicht sogar ersetzen?[2]
Anhand von aktuellen Erfahrungen verschiedener Unfallversicherungsträger mit Onlineformaten während der Pandemie werden im Folgenden ausgewählte Empfehlungen reflektiert.
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt
„Noch dominiert in der Welt der Unfallversicherungsträger das Qualifizierungsformat ‚Präsenzseminar‘“, schrieb Barbara Brauchle vor zwei Jahren.[3] Die Corona-Pandemie, die diese damals sehr treffende Feststellung auf den Kopf stellte, illustriert eindrücklich eine grundlegende Gesetzmäßigkeit zu Veränderungen in Organisationen:
U x V x E > B
Unzufriedenheit x Vision x Erste Schritte > Beharrungsvermögen
Übertragen auf die Qualifizierungssituation der Unfallversicherungsträger in der Pandemie bedeutet diese Formel: Es braucht Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation beziehungsweise Leidensdruck (kein Präsenzformat möglich), eine Vision davon, was möglich wäre (Onlineformate), und konkrete erste Schritte hin zu der Vision (Anschaffung von Videokonferenztechnologie, didaktische Konzeption von Onlineseminaren ...). Fehlt nur einer dieser Aspekte oder ist nicht ausreichend vorhanden, ist das Beharrungsvermögen einer Organisation größer als ihr Veränderungswillen. Sind aber alle drei Aspekte gegeben, werden mutige Schritte und tiefgreifender Wandel möglich.[4] Genau dies konnten wir in den vergangenen Monaten erleben.
Formate sind kein Selbstzweck
Damit Qualifizierung von Erwachsenen gelingt, dürfen Formate kein „Selbstzweck“ sein. Vielmehr muss sich die Formatwahl an den Lernzielen, Lerninhalten und der Zielgruppe mit ihren Bedürfnissen und Bedarfen orientieren: Dieser Dreiklang bildet die Grundlage für die geeignete Formatwahl.
Durch die „Vormachtstellung“ der Präsenzseminare wurde dieses Format bei Berufsgenossenschaften und Unfallkassen in der Praxis häufig auch als „das beste Format“ angesehen. Die Umstellung von Präsenzseminaren auf Onlineformate schien die Annahme zu bestätigen. Denn die Vorteile von Präsenz lassen sich nicht einfach eins zu eins auf Onlineformate übertragen. Das betrifft zum Beispiel den direkten Austausch mit allen Sinnen in Plenumsdiskussionen oder die Nutzung gruppendynamischer Prozesse. Zudem ermöglicht das Erleben kognitiver Dissonanz Lernprozesse. Präsenzformate erleichtern es den Teilnehmenden, diese auszuhalten und konstruktiv zu nutzen. Schnell und gut verfügbare Ausweich- und Ablenkungsmöglichkeiten stellen dabei in Onlineformaten eine Herausforderung dar.
Gleichzeitig wurden die Chancen, die Onlineformate bieten, in den vergangenen Monaten sichtbar: Die Einschränkung auf visuelle und auditive Sinne kann sehr konzentriertes und fokussiertes Lernen fördern. Informationen können schnell und niedrigschwellig an ausgewählte Zielgruppen kommuniziert werden. Zudem erlauben technische Tools neue methodische und interaktive Herangehensweisen.
Onlinequalifizierungsformate ermöglichen insgesamt neue Lernarrangements: Online-Workshop-Reihen, die Reflexion des Praxistransfers nach einem Präsenzseminar, die Vorbereitung von diesen mithilfe von Onlineveranstaltungen und viele weitere.
Für die weitere Ausrichtung der Qualifizierungsformate heißt das: Statt zu versuchen, die Vorteile eines Formats in ein anderes zu kopieren, ist es zwingend notwendig, die Chancen jedes einzelnen Formats in der Tiefe zu verstehen und mit dessen Stärken gezielt zu arbeiten. In iterativen Schleifen im Entwicklungsprozess können inhaltliche Ziele, Charakteristiken der Zielgruppen und die jeweiligen Stärken eines Formats in ein stimmiges Konzept gebracht werden.
Der Kombination von Formaten gehört die Zukunft
Wenn die Stärken und Chancen jedes Formats gezielt eingesetzt werden, ergibt sich ein großer Nutzen daraus, verschiedene Formate miteinander zu kombinieren, um möglichst ganzheitliche Lernprozesse zu ermöglichen. Schon jetzt zeichnen sich bei den Unfallversicherungsträgern erfolgversprechende Kombinationen ab: zum Beispiel die Ergänzung einer synchronen Qualifizierung mit Elementen zum selbst organisierten Lernen (SOL) als Vor- oder Nachbereitung.
Mit den möglichen Kombinationen steigen auch die Erwartungen der Zielgruppen. Wer zum Beispiel ein Präsenzformat besucht, Zeit und Reisekosten investiert, möchte die Stärken dieses Formats bewusst erleben.
Mit der Pandemie ist ein Anfang gemacht: Was vorher nur schleppend und mit großen Vorbehalten behaftet voranging, hat Fahrt aufgenommen. Weitere, vielfältige Formate und Kombinationsmöglichkeiten warten darauf, entdeckt zu werden.
Viele Wege führen nach Rom statt „one size fits all“
Mit einem Qualifizierungsformat kann eine Zielgruppe mit bestimmten Lernpräferenzen und Lerngewohnheiten erreicht werden. Mehrere Zugangswege zu einem Thema erhöhen die Chance, unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen.
Aufwendige asynchrone Qualifizierungsformate für selbst organsiertes Lernen sind etablierte Onlineformate bei einigen Unfallversicherungsträgern (zum Beispiel web-based Trainings). Die Erfahrungen während der Pandemie zeigen außerdem: Mit Live-Onlineformaten können zusätzlich Personen erreicht werden, für die Präsenzangebote – zum Beispiel aus familiären Gründen – nicht infrage kommen, die aber dennoch an Qualifizierungen mit direktem Kontakt und persönlichem Austausch interessiert sind.
Es gibt nicht das zukunftsfähige Format, nur passende Formate
Die Empfehlungen aus dem Projekt „Zukunftsorientierte Qualifizierungsformate“ haben sich auch durch die Erfahrungen in der Corona-Pandemie bestätigt und können mit weiteren Erkenntnissen untermauert werden. Die Pandemie hat offengelegt, wie komplex die Gestaltung qualitativ hochwertiger Onlinelernangebote ist und welche, vor allem infrastrukturellen, Lücken die Unfallversicherungsträger in diesem Bereich noch zu bewältigen haben. Sie hat darüber hinaus auch die nötige „Unzufriedenheit“ (siehe oben) mit sich gebracht, um diesen Defiziten deutlich schneller und effizienter entgegenzutreten, als es unter normalen Bedingungen der Fall gewesen wäre.
Mangels Alternativen waren Qualifizierende im vergangenen Jahr zudem mutig genug, online mit Zielgruppen zu interagieren, denen sie zuvor kein solches Angebot gemacht hätten. Dadurch konnten sie neue, wertvolle Erfahrungen gewinnen. Im Hinblick auf die Etablierung von digitalen Lernmöglichkeiten hat die Pandemie den Effekt eines Katalysators, der die Entwicklung von Onlineangeboten mehrere Jahre nach vorn katapultiert hat. Nun gilt es, diese sich im Aufbau befindlichen Strukturen weiterzuentwickeln. Die neu gewonnenen Kenntnisse im digitalen Lernen müssen wertschöpfend mit bewährten Präsenzangeboten verknüpft werden.
Wichtig ist vor allem ein Aspekt: Mittel- und langfristig kann – richtig eingesetzt – fast jedes Format und jede Mischform passend und zukunftsfähig sein. Dies meint, dass die innewohnenden Stärken eines Formats bewusst eingesetzt werden, sodass dieses in Verbindung mit einem konkreten Ziel, einer bestimmten Zielgruppe und den gegebenen Rahmenbedingungen eine tragfähige und adäquate Lösung darstellt. Wird dies berücksichtigt, kann es ein pauschales „Zurück zu Präsenz“ oder „Zukünftig nur noch online“ nicht geben. Vielmehr wird sich ein breites Angebot unterschiedlichster Formate für die Zielgruppen etablieren. Wir sehen schon heute, dass der Dschungel der Formate auch nach der Pandemie wieder wachsen wird – üppiger als vorher. Für Orientierungssuchende im Dschungel empfehlen wir weiterhin die Handlungshilfen aus dem Projekt „Zukunftsorientierte Qualifizierungsformate“.[5]