Die VISION ZERO-Erfolgsgeschichte – gemeinsam Handeln für das Leben
Mit der im Jahr 2017 in Singapur im Rahmen des Weltkongresses für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ins Leben gerufenen Initiative Vision Zero und den zugehörigen „7 Goldenen Regeln“ hat die IVSS begonnen, eine Erfolgsstory zu schreiben, die vor allem auf Führungskultur, menschengerechte Arbeit, sozialen Dialog und Nachhaltigkeit in der Unternehmenskultur setzt.
Für viele Menschen ist der Blick in die Tageszeitung oder auf das Smartphone mit einer Flut von Krisen verbunden. Der menschengemachte Klimawandel hat mit der Art und Weise zu tun, wie wir leben oder leben wollen und wie wir arbeiten. Es gibt Krieg und Gewalt ganz in der Nähe unseres europäischen Hauses. Inflation und wirtschaftliche Probleme stellen uns vor Herausforderungen. Der Hunger auf der Welt scheint unbesiegbar. All dies führt zu dramatischen Flucht- und Migrationsbewegungen. Noch dazu haben wir es mit weltweiten Gesundheitsproblemen und Pandemien zu tun. Auch die globalen Arbeitsbedingungen müssen uns interessieren, denn aufgrund der globalen Lieferketten können wir nicht länger ignorieren, unter welchen Rahmenbedingungen das hergestellt wird, was wir hierzulande möglichst billig einkaufen wollen.
Die Vision Zero-Story
Ist es da nicht wohltuend, wenn zur Abwechslung auch einmal über eine Erfolgsgeschichte gesprochen werden kann? Die Strategie Vision Zero ist zweifellos eine positive Schlagzeile wert. Das, was 2017 beim Weltkongress für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit in Singapur noch als kleines Kampagnenpflänzchen durch die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) präsentiert wurde, ist erwachsen geworden. Als globale Präventionsstrategie gedeiht die Vision Zero heute besser denn je. Wer hätte in unserer schnelllebigen Zeit, in der sich die Kampagnenslogans doch im Normalfall die Klinke in die Hand geben, an eine solche Lebensdauer gedacht? Wer hätte gedacht, dass die „7 Goldenen Regeln“[1] von Vision Zero zum Allgemeingut werden könnten und überall auf der Welt verstanden werden? Wer hätte gedacht, dass so viele Institutionen an den Vision Zero-Werkzeugen mitarbeiten und Vision Zero für nationale Strategien und Sektorstrategien genutzt wird? Und wer hätte gedacht, dass mehr als 15.000 Partner weltweit ihren guten Namen für Vision Zero hergeben und sich dazu bekennen?
Vision Zero – der Weg zur Präventionskultur
Vision Zero war zunächst ausschließlich auf den Bereich der Prävention bei der Arbeit ausgerichtet. Inzwischen zeigt sich, dass Vision Zero noch wirksamer ist, wenn auch weitere Handlungsfelder, wie zum Beispiel der betriebliche Umweltschutz, die Verkehrssicherheit oder auch der Gesundheitsschutz (Public Health) einbezogen werden. Es geht darum, das traditionelle „Silodenken“ zu verlassen und alle Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten mit einer einheitlichen einfachen Sprache zu erreichen, denn körperliche Unversehrtheit ist schließlich unteilbar: ONE VISION ZERO. Die zentrale Botschaft von Vision Zero lautet: Unfälle, Verletzungen und arbeitsbedingte Erkrankungen haben Ursachen – deshalb kann jeder Unfall und jede Erkrankung verhindert werden, wenn rechtzeitig geeignete Maßnahmen ergriffen werden.
Vision Zero übersetzt die Gesetzbücher, Normen und Vorschriften der Welt in ein einfaches, verständliches Handlungskonzept und ist weltweit kompatibel mit den nationalen Regeln. Vision Zero verkörpert das Grundrecht der Menschen auf körperliche Unversehrtheit. Jeder und jede hat das Recht, nach der Arbeit gesund und unverletzt nach Hause zurückkehren zu können. Unfälle und Erkrankungen passieren nicht unvorhersehbar – sie haben Ursachen. Wenn diese rechtzeitig erkannt werden, kann deshalb jeder Unfall und jede Erkrankung verhindert werden. Vision Zero steht auf drei Säulen: Sicherheit – Gesundheit – Wohlbefinden.
Praxisnahe Werkzeuge für den betrieblichen Einsatz
Die allermeisten unsicheren oder gesundheitsgefährlichen Situationen kann man erkennen, wenn man nicht wegschaut – und dies ist die vorrangige Verantwortung der Unternehmensleitung und aller Führungskräfte. Deshalb steht „Leadership“ an erster Stelle der „7 Goldenen Regeln“.
Die inzwischen in mehreren Sprachen verfügbaren Vision Zero-Werkzeuge des gesamten Instrumentariums sind aus der Tabelle ersichtlich:
Nachdem also die Basisarbeit geleistet und die Werkzeugkiste bereits gut gefüllt ist, kommt es in der nächsten Phase der Vision Zero-Initiative nunmehr darauf an, die nachhaltige Anwendung der Strategie weltweit zu unterstützen. Hierzu wurden fünf vorrangige Handlungsfelder identifiziert, die im Vordergrund stehen sollen.
Zukunftsfeld 1: Einführung von Vision Zero im Betrieb
Hierzu liegen bereits umfangreiche Erfahrungen vor, bei denen sich gezeigt hat, dass grundsätzlich jedes Unternehmen seinen eigenen Weg gehen muss, weil die Startvoraussetzungen so unterschiedlich sind wie die Anforderungen an einen kulturgetriebenen Präventionsansatz. Ein Schema F, das manche erwarten, existiert deshalb nicht. Dafür lohnt sich der etwas höhere Aufwand aber, weil dieser zu einer nachhaltigen Implementierung führt. Etwas „Eigenes“ zählt am Ende doch mehr. Der oft befürchtete Effekt, bei der Einführung von Vision Zero müsse alles neu gedacht werden, ist allerdings grundlos. Vielmehr sollte Vision Zero als neues Dach betrachtet werden, unter dem alles Erhaltenswerte gut integriert werden kann. Für diejenigen Unternehmen, die dennoch externe Unterstützung nachfragen, steht ein Zwölf-Punkte-Einführungsprozess bereit, der Orientierung bietet.
Zukunftsfeld 2: Vision Zero auf Länderebene
Das zweite Handlungsfeld geht davon aus, dass Betroffene grundsätzlich zu Akteurinnen und Akteuren werden müssen, wenn Nachhaltigkeit und Akzeptanz erwünscht sind. Deshalb ist es zielführend, lokale oder sektorale Partner für die Einführung des Vision Zero-Ansatzes auf der nationalen Ebene oder auch auf der Ebene von Industriesektoren zu finden. Ein Akteur beziehungsweise eine Akteurin sollte die Initiative ergreifen, ohne für sich ein exklusives Recht an Vision Zero zu beanspruchen. Vielmehr sollten möglichst alle Stakeholder ihren Platz in dieser Initiative finden können. Eine offene Kooperationskultur sorgt für gegenseitige Akzeptanz und macht alle Beteiligten von Konsumierenden zu Handelnden. Davon haben letztlich alle etwas.
Es gibt bereits einige gute Beispiele aus verschiedenen Ländern, die die Vision Zero-Strategie zur nationalen Strategie machen. Kennzeichen erfolgreicher Strategien sind Aussagen zu den folgenden Fragen:
- Worum geht es im Kern der Initiative?
- Worauf soll sich die Strategie beziehen – Prävention bei der Arbeit oder ein weiter gefasster Ansatz?
- Wer übernimmt die Führung – wer ist beteiligt – wie sind die Rollen verteilt?
- Welche möglichst konkreten Ziele sollen erreicht werden?
- Welcher Zeithorizont wird festgelegt?
- Welche konkreten Maßnahmen und Aktivitäten sind geplant, um die Ziele zu erreichen?
- Welche Strukturen zur Implementierung stehen zur Verfügung oder müssen aufgebaut werden?
- Wie erfolgen das Marketing und die Kommunikation?
- Auf welche Weise wird der Erfolg gemessen und wie wird gegebenenfalls nachgesteuert?
Eine ausgesprochen positive Entwicklung unterstützt den Ansatz, nationale Strategien zu erarbeiten: In ihrem neuen strategischen Rahmenkonzept für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit für den Zeitraum von 2021 bis 2027 fordert die Europäische Kommission alle Mitgliedstaaten nachdrücklich dazu auf, den Vision Zero-Ansatz in ihren nationalen Konzepten zu berücksichtigen. Die Empfehlung kann daher nur lauten, nationale Präventionsstrategien entlang den globalen Lieferketten auf der Basis von Vision Zero zu erarbeiten, um durch eine bessere Anschlussfähigkeit auch bessere Marktzugänge zu erhalten.
Zukunftsfeld 3: Silodenken mit Vision Zero überwinden
Wir kennen es alle: Am besten, wir prüfen erst einmal, wer zuständig ist. Wir denken und agieren in Silos. Und natürlich sind die Anforderungen, Maßnahmen und Lösungsansätze dann auch komplett verschieden, je nachdem, in welcher der sogenannten „Lebenswelten“ man sich gerade bewegt. Ist das ein Erfolg versprechender Weg, wenn man im Kern doch dasselbe will: das Grundrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit gewährleisten? Müssten wir nicht viel besser mit einer Sprache reden, wenn wir unsere Mitmenschen erreichen und überzeugen wollen? Hängen die Dinge nicht miteinander zusammen?
Das Fazit muss lauten: Ja, wir müssen zusammenbringen, was zusammengehört. Der Mensch kann sich nicht partiell sicher und gesund verhalten und an anderer Stelle spielt das keine Rolle. Deshalb müssen auch Arbeitsschützerinnen und Arbeitsschützer ganzheitlich denken:
Leben und Gesundheit bei der Arbeit schützen.
- Prävention bei allgemeinen Gesundheitsrisiken einbeziehen.
- Prävention in der Freizeit gehört dazu.
- Eine Präventionskultur muss auch den Finanz- und Wirtschaftssektor umfassen.
- Warum beginnen wir erst am Arbeitsplatz, über Sicherheit und Verantwortung zu reden?
- Wo bleibt der Schul- und Bildungssektor?
Zukunftsfeld 4: Vision Zero als Sache der CEOs und Leitung
Man kann es nicht oft genug wiederholen: Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden bei der Arbeit ist nicht primär die Sache der Arbeitsschutzfachleute – es ist Sache der Führung. Alle im Arbeitsschutz Tätigen müssen deshalb die Sprache der Unternehmensverantwortlichen erlernen. Die Konzepte müssen nicht beliebig komplex sein, sondern sich durch Klarheit und einfache Sprache jeder Person erschließen. Nur dann macht man es zu seinem eigenen Anliegen. Die Argumente liegen schon lange auf dem Tisch:
- Für manche ist die Rechtssicherheit wichtig.
- Weniger Unfälle und Krankheit bedeuten weniger Ausfallzeit und geringere Kosten.
- Sie bedeuten aber auch bessere Qualität sowie motivierte und kreative Beschäftigte.
- Ein gutes Image aufzubauen dauert Jahre – zerstören kann man es in einer Sekunde.
- Attraktive Unternehmen finden Fachkräfte, auch heute noch.
- Was spricht gegen zufriedene und glückliche Beschäftigte, wenn sie zu besseren wirtschaftlichen Ergebnissen führen?
Wenn also Prävention, Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden in der Verantwortung unserer Führungskräfte liegen, müssen wir uns die Frage stellen, was wir dafür tun, dass diese auch in der Lage sind, mit Menschen motivierend und wertschätzend zu kommunizieren. Die Antwort lautet: zu wenig. Natürlich, es gibt einige Naturtalente. Aber die meisten von uns tragen zwar die Verantwortung – nur was zu tun ist, erlernen wir nicht.
Daher die Forderung:
Es ist zu spät, über Präventionskultur erst am Arbeitsplatz zu reden, gewissermaßen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Es muss im Kindergarten anfangen, in der Schule und in allen Ausbildungsbereichen – ob in der beruflichen Bildung oder an den Hochschulen. Vision Zero muss Teil der Lehrpläne und Curricula werden für alle, die später vielleicht in Führungsverantwortung kommen könnten – unabhängig von der Fachrichtung. Dies muss politisch erreicht werden, wenn das Unterfangen nicht scheitern soll.
Zukunftsfeld 5: Kooperation statt Konfrontation
Das fünfte Zukunftsfeld spricht noch einmal das Thema Allianzen an. Viele namhafte Organisationen, Regierungen, Institutionen und auch die Sozialpartner haben berechtigte Ideen und Konzepte. Aber meist kämpfen sie allein – immer mit der Botschaft, die jeweilige Thematik sei die allerwichtigste. Die Wirkung bleibt überschaubar. Warum? All diese namhaften Organisationen erzeugen eine Flut von Botschaften, Werkzeugen, Konzepten, Initiativen – aber die Zielgruppen sind oft identisch. Ist es wirklich nicht möglich, die Kräfte zu bündeln und zusammenzuarbeiten statt gegeneinander?
Selbst wenn dies utopisch klingen mag, so ist es doch unsere Pflicht, dies einzufordern, aufeinander zuzugehen und Angebote zu machen. Machen wir den Anfang, wenn es sonst niemand tut! Am besten noch heute! Denn es geht ums Ganze: um die eine Welt – um die eine Menschheit – um ONE VISION ZERO.