VISION ZERO: ein Weg – ein Ziel

Vision Zero ist eine einfach zu kommunizierende, leicht verständliche und einfach umsetzbare globale Präventionsstrategie, die bereits in vielen Betrieben weltweit eingesetzt wird. Sie basiert auf „7 Goldenen Regeln“ und eignet sich sowohl zur Umsetzung auf nationaler als auch auf Ebene von Sektoren und Unternehmen.

Die von der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) 2017 entwickelte globale Vision Zero-Kampagne ist mittlerweile in aller Munde. Die Vision einer Welt ohne Arbeitsunfälle und arbeitsbedingte Erkrankungen ist nicht unbedingt neu und hatte schon viele verschiedene Namen wie zum Beispiel: Mission Zero, Zero Harm® oder Total Worker Health®. Vision Zero möchte die bereits bestehenden Systeme für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit nicht ersetzen oder abwerten, sondern sie vielmehr ergänzen und ihnen neue Impulse verleihen. Vision Zero vereint die Kernideen all dieser Initiativen unter den drei Säulen Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Die drei Dimensionen Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden der  Vision Zero-Strategie  | © IVSS
Abbildung 1: Die drei Dimensionen Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden der Vision Zero-Strategie ©IVSS

Entscheidend ist, dass der Vision Zero-Ansatz flexibel ist. Je nach Bedarf kann eine der drei Dimensionen in den Fokus rücken und jedem denkbaren Arbeitsumfeld angepasst werden. Aufgrund des flexiblen Ansatzes der Strategie Vision Zero kann jeder Arbeitsplatz, jedes Unternehmen und jede Branche in jeder Weltregion davon profitieren.

Die Basis der Vision Zero sind die „7 Goldenen Regeln“ (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: „7 Goldene Regeln“ der Vision Zero | © IVSS
Abbildung 2: „7 Goldene Regeln“ der Vision Zero ©IVSS

Die Vision Zero beruht auf der Überzeugung, dass alle Unfälle und Erkrankungen bei der Arbeit vermeidbar sind. Die Strategie basiert auf Werten, gemäß denen Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten nicht durch Arbeit beeinträchtigt werden sollen und die ihnen vielmehr dabei helfen sollen, diese zu verbessern sowie Selbstvertrauen, Kompetenzen und Beschäftigungsfähigkeit zu stärken. Arbeitsbedingte Unfälle, Schadensfälle und Krankheiten können durch frühzeitige und fachgerechte Gestaltung, Planung, Verfahren und Praktiken vermieden werden. Hierzu müssen die richtigen Präventionsmaßnahmen ergriffen und alle Akteurinnen und Akteure eingebunden werden. Es handelt sich daher um einen Prozess zur kontinuierlichen Verbesserung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz; es ist eine neue Denkweise, ein Paradigmenwechsel und ein Weg zur Etablierung einer globalen Präventionskultur. Vision Zero basiert auf der Erkenntnis, dass Unternehmen, die sich langfristig für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz engagieren, eine bessere Marktstellung genießen.

Der Paradigmenwechsel

Die folgende Übersicht zeigt auf, wie sich die Vision Zero von herkömmlichen Arbeitsschutzansätzen unterscheidet.

Abbildung 3: Die Vision Zero-Präventionsstrategie im Vergleich zu traditionellen Ansätzen im Arbeitsschutz nach Zwetsloot, Leko und Kines | © Zwetsloot, Leka, Kines
Abbildung 3: Die Vision Zero-Präventionsstrategie im Vergleich zu traditionellen Ansätzen im Arbeitsschutz nach Zwetsloot, Leko und Kines ©Zwetsloot, Leka, Kines

Der Paradigmenwechsel wurde inzwischen von vielen Firmen und Organisationen vollzogen. Eine Liste aller Unternehmen, die sich zur Vision Zero bekennen, findet sich auf http://visionzero.global. Dort sind mehr als 16.000 Personen, Firmen und Organisationen registriert. Ein Grund für diesen Erfolg ist die Schlichtheit der Botschaft:

  • „7 Goldene Regeln“, die auswendig gelernt werden können, statt ein 100-seitiges Regelwerk zu studieren
  • drei Schwerpunktbereiche, die auch außerhalb des Arbeitsplatzes gelebt und somit auch in der Freizeit integriert werden können 
  • eine Vison, die alle anspricht, weil sich jeder Mensch gesund und sicher auf der Arbeit fühlen möchte

Die Vision Zero-Methodik kann sowohl in Klein- als auch in Großunternehmen angewandt werden. Sie ist für Angestellte genauso relevant wie für Arbeitende oder Selbstständige, und dies sowohl in Ländern mit niedrigem als auch mit höherem Lebensstandard.

Mit der Förderung von Vision Zero will die IVSS auch einen Beitrag zu den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen leisten. Vision Zero unterstützt insbesondere Ziel Nr. 8 „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“, Ziel Nr. 3 „Gesundheit und Wohlbefinden“, Ziel Nr. 4 „Gute Bildung“ und Ziel Nr. 17 „Partnerschaften“.

Mehrwert Strategie

Vision Zero wurde seit 2017 in über 50 Ländern lanciert. Was als Kampagne begann, wurde anschließend oft in nationale Programme umgewandelt. Einige Länder haben große Erfolge vorzuweisen:

So sind in Polen die tödlichen Unfälle in der Landwirtschaft bereits im Zeitraum zwischen 1993 und 2020 um 80 Prozent zurückgegangen.[1] Die polnische Sozialversicherungskasse für Landwirte hat daraufhin eine nationale Medienkampagne mit Vision Zero-Filmwettbewerben, -Jugendkampagnen und -Informationen gestreut, die mehr als 115 Millionen Haushalte erreichte. Singapur führte 2019 eine nationale Strategie ein, die auf dem IVSS-Ansatz Vision Zero beruht und das Ziel hat, bis 2028 die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle auf unter 1,0 pro 100.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Zahl der schweren Verletzungen auf unter 12,0 pro 100.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu senken, um Singapur damit zu dem Land mit den sichersten Arbeitsplätzen der Welt zu machen.[2]

In Indien wurden – auch dank der bilateralen Unterstützung der DGUV – in 27 von 28 Bundesstaaten Vision Zero-Veranstaltungen und -Folgeveranstaltungen durchgeführt. In der Elfenbeinküste wurden über 50 Arbeitsinspektoren geschult, die die Betriebsbesuche nun mit Vision Zero-Werkzeugen komplementieren.

Die luxemburgische Unfallversicherung (AAA) hat ihre Präventionsstrategie durch tripartiten Dialog auf Vision Zero ausgerichtet und damit eine Senkung der Unfallrate um 15 Prozent erreicht (siehe Beitrag von Dr. Sunnen). Die malaysische Unfallversicherung (SOCSO) implementiert eine langfristige Vision Zero-Strategie, die auf bis zu 30 Jahre ausgelegt ist. In Malaysia wurden bereits über 11.000 Angestellte durch Vision Zero-Trainer geschult und 67 Prozent der teilnehmenden Firmen haben von einer merklichen Verbesserung der Präventionskultur in ihren Unternehmen berichtet. Durch eine gezielte Vision Zero Präventionskampagne im Straßenverkehr wurde schon jetzt eine Senkung der Wegeunfälle von 76 Prozent erreicht.

Des Weiteren arbeiten beispielsweise Staatsbetriebe in Kasachstan, Unternehmen in Australien, Dänemark, Ecuador, England und Pakistan, aber auch in Finnland, Kanada, Korea, Norwegen, Nigeria und Sambia mit dem Vision Zero-Leitfaden und den „7 Golden Regeln“.

Der strategische Rahmen der Europäischen Union (EU) für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz (2021–2027) verfolgt ebenfalls den Ansatz der Vision Zero und hat sich zum Ziel gesetzt, alle arbeitsbedingten Todesfälle in der EU zu vermeiden. „Natürlich geht es bei der Arbeit nicht nur um unseren körperlichen Zustand, sondern auch um unsere psychische Gesundheit und unser Wohlbefinden, so dass wir diesem Thema neben den zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels und unserem gemeinsamen Engagement für die Vision von Null Todesfällen am Arbeitsplatz einen Großteil des Gipfeltreffens widmen werden“, sagte Nicolas Schmit, EU-Kommissar für Arbeitsplätze und soziale Rechte auf dem EU-Gipfeltreffen über Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz am 15./16. Mai in Stockholm.[3] Paulina Brandberg, Ministerin für Gleichstellungsfragen und stellvertretende Ministerin für Beschäftigung, ergänzte: „Wir holen nun Experten und Politiker zusammen, um die laufende Umsetzung des strategischen Rahmens der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu überprüfen. Auf dem Treffen werden wichtige Themen erörtert, darunter, wie der Ansatz ‚Vision Null‘ für arbeitsbedingte Todesfälle erfüllt werden kann und wie die psychische Gesundheit im Arbeitsleben gefördert werden kann“.[4]

Auch dies zeigt, wie sich Vision Zero von einer Kampagne zu einem strategischen Instrument entwickelt hat.[5] Auf dem jüngsten EU-Arbeitsschutzgipfel in Stockholm wurde gezielt über die Vision Zero-Initiativen der EU-Mitgliedsländer und des EU-Gewerbeaufsichtsrats (Senior Labour Inspection Committee – SLIC) berichtet.[6]

Die Umsetzung der Vision Zero wird durch umfangreiche Instrumente unterstützt. Im Folgenden werden einige dieser Werkzeuge kurz vorgestellt.

Die Vision Zero-Toolbox

Die Vision Zero-Toolbox enthält die wichtigsten Umsetzungshilfen zur Verbesserung der Präventionskultur in Unternehmen. Neben dem wichtigsten Werkzeug, dem Vision Zero-Leitfaden für Arbeitgebende und Führungskräfte, enthält diese Toolbox auch viele weitere nützliche Instrumente zur Verbesserung des betrieblichen Arbeitsschutzes.

Vision Zero-Leitfaden für Arbeitgebende und Führungskräfte

Die IVSS will Unternehmen und Führungskräfte dabei unterstützen, Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz kontinuierlich zu verbessern. Im Einklang mit Vision Zero hat die IVSS daher ein praktisches Instrument entwickelt, um eine starke Präventionskultur zu fördern. Das Instrument beruht auf einer umfassenden Untersuchung der wirksamsten Präventionsmaßnahmen. Dabei wurden über 1.000 Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Führungskräfte, Managerinnen und Manager, Präventionsfachleute, Arbeitnehmervertretungen und Arbeitsinspektorinnen und -inspektoren befragt. Als Ergebnis wurde ein praktischer und effektiver Vision Zero-Leitfaden[7] erstellt, der in vielen Sprachen zum Herunterladen bereitsteht. Für kleine und mittlere Unternehmen gibt es eine spezielle Version in vielen Sprachen.

Leitindikatoren zur Messung und Verwaltung von SHW

Die 14 proaktiven Leitindikatoren[8] werden von der IVSS als kostenloses Zusatzinstrument für Unternehmen und Organisationen angeboten, die sich zur Vision Zero bekennen und die Qualität und den Erfolg ihrer organisatorischen Leistung in Bezug auf Sicherheit und Gesundheitsschutz messen und bewerten möchten. Dieses Benchmarking funktioniert mithilfe von Leitindikatoren, die nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die aktuelle Situation beleuchten oder das, was in Zukunft getan werden sollte. Diese 14 proaktiven Leitindikatoren – zwei für jede der „7 Goldenen Regeln“ – können für verschiedene Benchmarkingzwecke verwendet werden, sowohl intern zur Verbesserung von Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden als auch in externen Geschäftsbeziehungen wie Lieferketten. Die Indikatoren sind so angelegt, dass sie sowohl von Firmen mit Verbesserungspotenzial als auch von Champions des Arbeitsschutzes benutzt werden können.

Der Leitfaden enthält 14 Factsheets, eines für jeden Leitindikator, in denen die Ziele des jeweiligen Leitindikators, Schlüsselkonzepte, bewährte Praktiken und Beschränkungen beschrieben sowie Empfehlungen für die Messung dieser Indikatoren gegeben werden.

Leitfaden zur Förderung des Wohlbefindens bei der Arbeit

Der neue Vision Zero-Leitfaden zur Gestaltung eines gesunden Arbeitsumfelds und Förderung des Wohlbefindens bei der Arbeit[9] unterstützt Führungskräfte und Management mit umfangreichen Hintergrundinformationen zum Wohlbefinden am Arbeitsplatz und einem Reifegradmodell für die Messung des betrieblichen Wohlbefindens. Dieses Instrument soll Unternehmen aller Größen und aus allen Wirtschaftszweigen dabei helfen, ihr Präventionsniveau in Bezug auf das Wohlbefinden besser zu verstehen und neu auszurichten. Es soll auch Anhaltspunkte dafür liefern, wie organisatorische Praktiken umgesetzt werden können, um ein proaktives oder kreatives Niveau des Wohlbefindens in einem organisatorischen Umfeld zu erreichen. Der Leitfaden richtet sich an alle, die zu gesunden und stressfreien Arbeitsplätzen beitragen möchten, an denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihr Potenzial ausschöpfen, während sie produktiv und kundenorientiert arbeiten. Es behandelt das Thema Wohlbefinden aus verschiedenen Blickwinkeln, sowohl von der Arbeitshierarchieebene als auch individuell und kollektiv.

Leitfaden zum Schutz der Umwelt und unserer Zukunft

Das Europäische Netzwerk der Fachorganisationen für Sicherheit und Gesundheit (ENSHPO) und die IVSS haben die Vision Zero-Strategie und die „7 Goldenen Regeln“ um Aspekte des Umweltschutzes erweitert. Der neue Vision Zero-Umweltleitfaden[10] erleichtert es den Unternehmen, mithilfe der „7 Goldenen Regeln“ nachhaltiger zu agieren.

Auf dem Weltkongress für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, der vom 27. bis  zum 30. November 2023 in Sydney, Australien stattfindet, werden zwei neue Leitfäden vorgestellt, die derzeit von Vision Zero-Partnerinnen und -Partnern entwickelt werden:

1) der Vision Zero-Leitfaden für Arbeitsinspektoren – zur Unterstützung der nachhaltigen Einhaltung von Vorschriften

2) der Globale Vision Zero-Leitfaden für Lieferketten (siehe Beitrag von Ehnes/Roth)

Vision Zero-Training

Die Umsetzung von Vision Zero kann entweder durch die oben beschriebenen Leitfäden oder durch Kompetenzerweiterung unterstützt werden. Deshalb wird ein umfassendes Trainingskonzept für Unternehmen, Organisationen und relevante Stakeholder angeboten. Das Training richtet sich an das Topmanagement, Führungskräfte und zukünftige Führungskräfte auf allen Ebenen. Die IVSS-Präventionssektionen, die die Vision Zero entwickelt und mitgestaltet haben, bieten maßgeschneiderte Vision Zero-Ausbildungen an. Hierzu empfiehlt es sich, mit den IVSS-Sektionen direkt Kontakt aufzunehmen, wenn Bedarf an Schulungen oder Train-the-Trainer-Konzepten besteht.[11]

Fazit

Nach sechs Jahren Vision Zero zeigt sich, dass viele Unternehmen die Vision Zero erfolgreich in ihre bestehenden Präventionsschutzkonzepte integriert haben.

Die Vision Zero hat sich von einer Kampagne zu einem strategischen Instrument entwickelt. Sie trägt zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen bei, insbesondere in Bezug auf menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum, Gesundheit und Wohlbefinden, gute Bildung und Partnerschaften. Insgesamt bietet die Vision Zero einen ganzheitlichen Ansatz für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, der darauf abzielt, eine sichere und gesunde Arbeitsumgebung für alle zu schaffen.

Literaturverzeichnis

Policy and Practice in Health and Safety, IOSH 2017