Einfluss der Migration auf die Präventionstätigkeit der Unfallversicherungsträger
Menschen mit Migrationshintergrund sind für den deutschen Arbeitsmarkt sehr wichtig, doch ob sie stärker von Arbeitsunfällen gefährdet sind, ist bisher kaum bekannt. In der Befragung des Instituts für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG) wurden Aufsichtspersonen nach ihren Erfahrungen hinsichtlich Chancen und Herausforderungen mit Zugewanderten in den Betrieben befragt.
Die Europäische Union erwartet in den nächsten Jahrzehnten eine Netto-Immigration von bis zu 40 Millionen Menschen aus Drittländern. Konzepte zur Prävention für Beschäftigte mit Migrationshintergrund und zum Umgang mit Migration am Arbeitsplatz sind deshalb nötiger denn je.
Im Jahr 2022 hatten 23,8 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Dies entspricht 28,7 Prozent der Bevölkerung. Als Person mit Migrationshintergrund gilt, wer eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt oder im Ausland geboren wurde und nach 1949 auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewandert ist. Wer in Deutschland geboren und anschließend eingebürgert wurde oder ein Elternteil hat, das eingewandert ist oder eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt, wird ebenfalls als „Person mit Migrationshintergrund“[1] bezeichnet. Der Begriff des „Migrationshintergrunds“ ist demnach weit gefasst und die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund äußerst heterogen. Sie unterscheiden sich nach Herkunftsort, Aufenthaltsdauer, Sprachkenntnissen oder Ausbildung, auch bedingt durch die vielseitigen Gründe für ihre Migration wie Flucht, Erwerbsmigration oder Familienzusammenführung.
Eine Gefährdung bei der Arbeit entsteht nicht durch den Migrationshintergrund an sich, sondern ergibt sich, wenn zur Einwanderungsgeschichte weitere Faktoren hinzukommen.[2] Dazu gehören unter anderem die sprachlichen Vorkenntnisse der Person, kulturelle Unterschiede im Sicherheitsverhalten sowie die Branche beziehungsweise der konkrete Arbeitsplatz, an dem die Person beschäftigt ist.
Gefährdet sind vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, die einen niedrigen Bildungsgrad haben, nicht gut Deutsch sprechen und keinen Berufsabschluss haben. Das Statistische Bundesamt zeigt auf, dass ein fehlender allgemeiner Schulabschluss bei Menschen mit Migrationshintergrund häufiger anzutreffen ist als bei nicht Zugewanderten. Das gilt auch für fehlende berufliche Abschlüsse.[3] Dabei sind diese Personen oft in besonderem Maße gefährdet, da sie häufig an Arbeitsorten und/oder in Branchen mit besonderen Gefährdungen eingesetzt werden, zum Beispiel im Baugewerbe oder in der Metallindustrie.[4]
Zu den Personen mit Migrationshintergrund gehören im Einzelnen:
- zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer und Ausländerinnen
- zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte
- (Spät-)Aussiedler und (Spät-)Aussiedlerinnen
- Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption erhalten haben
- mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Nachkommen der vier zuvor genannten Gruppen
Personen mit Migrationshintergrund sind demnach:
- Personen mit anderer Staatsangehörigkeit
- eingebürgerte Deutsche mit eigener Migrationserfahrung
- Deutsche ohne eigene Migrationserfahrung: ein Elternteil nicht deutsch beziehungsweise mit Migrationshintergrund
Befragung von Aufsichtspersonen
Aufgrund der Wichtigkeit und Aktualität des Themas hat das IAG eine Befragung zu Einflüssen von Migration auf Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit durchgeführt. Ziel der Befragung war es, Chancen und Herausforderungen im Kontext von Migration aufzudecken und interkulturelle Aspekte, die Auswirkungen auf Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit haben können, zu identifizieren. Aktueller und zukünftiger Handlungsbedarf für Unfallversicherungsträger in der Zusammenarbeit mit migrantischen Beschäftigten können aufgezeigt werden und die Ergebnisse können eine Grundlage für die Erarbeitung von angepassten Präventionsstrategien und -angeboten bilden.
Zielgruppe der Befragung waren Aufsichtspersonen sowie Präventionsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter mit Kundenkontakt der Unfallversicherungsträger. Die Online-Befragung fand vom 23. Oktober bis 8. Dezember 2023 statt. Insgesamt haben sich 1.313 Personen an der Befragung beteiligt, was einer Rücklaufquote von 47 Prozent entspricht.
Ergebnisse
Migration als wichtiges Thema für die Prävention: Die Wichtigkeit und Aktualität, die Migration allgemein auf dem deutschen Arbeitsmarkt hat, wurde auch von den Befragten bestätigt. 78 Prozent der Befragten gaben an, dass Migration als Präventionsthema wichtig oder sogar sehr wichtig sei. Des Weiteren sahen 79 Prozent der Befragten einen Handlungsbedarf der Unfallversicherungsträger in Bezug auf Migration für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.
Hohe Relevanz für die betreuten Unternehmen und Einrichtungen: Etwas mehr als die Hälfte der Befragten gaben an, dass das Thema Migration für viele betreute Unternehmen und Einrichtungen relevant sei. Im Einzelnen sagten 35 Prozent der Befragten, dass es für 51 bis 75 Prozent aller betreuten Betriebe relevant sei, und 20 Prozent gaben das an für 76 bis 100 Prozent aller Betriebe.
Chancen durch die Beschäftigung von Menschen mit Migrationshintergrund: 75 Prozent der Befragten gaben an, dass durch Migration der Fachkräftemangel abgefedert werden könne, und sehen hier eine relevante oder sehr relevante Chance. Eine wichtige Anmerkung vieler befragter Aufsichtspersonen ist dabei, dass es einen Unterschied zwischen Fach- und Arbeitskräftemangel gibt und migrantische Arbeitnehmende häufig den Arbeitskräftemangel abfedern können. In Bezug auf sichere und gesunde Arbeit gaben viele Befragte ergänzend an, dass sich durch Migration neue Perspektiven für den Arbeitsschutz ergäben, die diesen und damit die Arbeitsqualität insgesamt verbessern würden. Hierbei wurden auch die motivierte Einstellung von migrantischen Beschäftigten zu ihrer Arbeit und ihr Wissen genannt sowie ihre Fähigkeiten, die die Arbeit verbessern, etwa durch eine bessere Betreuung migrantischer Kundinnen und Kunden.
Während die Befragten ähnliche Einstellungen zu herausfordernden Aspekten hatten, sind ihre Meinungen in Bezug auf Chancen für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit breiter gestreut. Etwas über die Hälfte der Befragten sehen mögliche Erfolgsfaktoren in der Einstellung migrantischer Arbeitnehmenden, in der Schaffung von Diversität und kultureller Vielfalt, der Erweiterung von Kulturkompetenzen und der Nutzung von Sprachkompetenzen. Ergänzend wurde auch der Mehrwert für die Gesellschaft allgemein genannt, in der durch migrantische Arbeitskräfte unter anderem Toleranz, Kreativität und Resilienz gestärkt und interkulturelle Konflikte gelöst werden könnten.
Herausforderungen durch die Migration für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit: In Bezug auf Herausforderungen durch die Beschäftigung von Menschen mit Migrationshintergrund zeigen die Antworten, wie vielschichtig und komplex das Thema im Arbeitsalltag in den Betrieben ist. Die größte Herausforderung, die von fast allen befragten Aufsichtspersonen genannt wurde, seien Verständnisprobleme bei An- und Unterweisungen aufgrund von Sprachproblemen. Nur zwei Prozent gaben an, hier keine Probleme in den Betrieben zu erleben. Als weiterführende Erläuterung gaben einige Befragte an, dass die Verständnisprobleme aufgrund fehlender mehrsprachiger Unterweisungsmaterialien oder mangelnder sprachlicher Kompetenzen des Führungspersonals in den Betrieben oder der Aufsichtsperson entstehen würden. Der häufige Einsatz von migrantischen Beschäftigten an gefährlichen Arbeitsplätzen wird ebenfalls als Sicherheitsrisiko genannt. Auch mangelnde Kenntnisse der Beschäftigten werden als Herausforderung gesehen, entweder durch fehlende Fachkenntnisse oder mangelnde formale Berufsausbildung. Viele Befragte sehen die Herausforderung jedoch auch im Verhalten der Beschäftigten. Zum einen werden fehlende Akzeptanz und Teilnahme an Präventionsmaßnahmen als Herausforderung angesehen, die möglicherweise mit unterschiedlichen Risikobewertungen, anderen bekannten Sicherheitsstandards oder allgemeinen kulturellen Unterschieden einhergehen können. Diese Herausforderungen können sich unter anderem durch unkooperatives Verhalten oder fehlende Akzeptanz gegenüber anderen Personen äußern, aber auch durch Konflikte zwischen Beschäftigten oder gewalttätige Übergriffe und Ausgrenzung.
Verbesserung eigener Beratungstätigkeit: Die stärkere Wahrnehmung von Herausforderungen gegenüber Chancen durch Migration spiegelt sich auch in der Einschätzung der eigenen Beratungstätigkeit in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund wider. Ein Großteil der befragten Personen gibt an, Erfahrung in der Zusammenarbeit mit migrantischen Arbeitnehmenden zu haben.
Gefragt danach, wie sicher sich die Personen in der Beratung und Überwachung zum Thema Migration fühlen, gaben 64 Prozent an, sich eher beziehungsweise sehr sicher zu fühlen, 36 Prozent der Befragten eher nicht oder gar nicht sicher. Im Anschluss wurde den Befragten die Möglichkeit gegeben, in einem offenen Antwortfeld zu beschreiben, was sie bräuchten, um sich sicherer zu fühlen.
Der mit großem Abstand am häufigsten genannte Grund für diese Unsicherheit ist die Sprachbarriere. Die Befragten wünschen sich eine Lösung für diese, um sich sicher in ihrer Beratung zu fühlen. Vorgeschlagene Lösungsansätze reichen von mehrsprachigem Material oder Material in Leichter Sprache beziehungsweise ohne Sprache, der Bereitstellung von Dolmetschenden bis hin zu sprachlichen Weiterbildungen für die migrantischen Beschäftigten oder die Aufsichtspersonen selbst. Nicht nur sprachliche, sondern auch kulturelle Unterschiede erzeugen Unsicherheit bei den Befragten. Hier werden kulturelle Fortbildungen oder die Bereitstellung von Materialien für die Aufsichtspersonen selbst, aber auch für die migrantischen Beschäftigten gefordert. Die Befragten wünschen sich für den Umgang mit Menschen aus bestimmten Kulturen entweder allgemeine Informationen zur interkulturellen Arbeit und zum Thema Migration oder spezifische Handlungsanweisungen. Sie sollen dabei helfen, Missverständnisse zu vermeiden und das Gegenüber besser zu verstehen. Des Weiteren fühlen sich viele Befragte verunsichert, da sie nicht wissen, wie ihre Beratungsrolle in Bezug auf das Thema Migration aussehen soll. Genannte Lösungsansätze für dieses Problem sind unter anderem die Bereitstellung von Praxistipps, klaren Regeln für die Aufsichtsarbeit in diesen Kontexten sowie klaren Regeln und Kontrollverfahren, etwa um zu überprüfen, ob Unterweisungen von migrantischen Beschäftigten auch wirklich verstanden wurden. Allgemein gibt es den Wunsch nach mehr Ressourcen für die Betreuung von betroffenen Betrieben, etwa durch eine Kontrolle zu zweit und mit mehr Zeit oder durch mehr Unterstützung durch Behörden, die Betriebe oder die DGUV.
Handlungsbedarf im Bereich Prävention und Migration in Unternehmen: Des Weiteren wurden die Aufsichtspersonen gefragt, wo sie konkreten Handlungsbedarf im Bereich Prävention und Migration sehen. Die Befragten gaben an, dass hier besonders fachliche Qualifizierungsangebote, angepasste Unterweisungskonzepte und Sprachunterricht für Beschäftigte notwendig seien. Zudem wird es häufiger als notwendig erachtet, Führungspersonal in den Betrieben für das Thema Migration zu sensibilisieren.
Auch hier wird wieder deutlich, dass sich die Aufsichtspersonen für ihre Arbeit angepasste Materialien wünschen. Besonders Präventionsmittel, die ohne oder nur mit wenig Text auskommen, werden gewünscht.
Fazit
Die Umfrage hat die Wichtigkeit des Themas Migration im Zusammenhang mit Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit bestätigt. Zum einen durch die sehr hohe Beteiligung an der Befragung. Zum anderen wurde dies dadurch deutlich, dass 75 Prozent der Befragten angaben, Migration sei ein wichtiges Präventionsthema.
Die Ergebnisse zeigen, wie vielschichtig das Thema ist. Die wahrgenommenen Herausforderungen für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit treten neben den Chancen deutlich hervor. Die größten Probleme wurden im Bereich der Sprachkenntnisse, Qualifikationen und dem Einsatz an gefährlichen Arbeitsplätzen gesehen. Als wichtigste Chance wurde die Abfederung des Fach- und Arbeitskräftemangels identifiziert.
Insgesamt zeigt die Befragung einen deutlichen Handlungsbedarf, um die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit für alle zu gewährleisten und die Integration von migrantischen Beschäftigten erfolgreich zu gestalten. So sollten Präventionskonzepte zunehmend Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede berücksichtigen. Des Weiteren sollen sie nicht als Einzelmaßnahmen, sondern als Teil eines Gesamtkonzepts zur Prävention und zur Würdigung der Vielfalt in einer Organisation umgesetzt werden.
Das Thema Migration ist im Arbeitskontext äußerst wichtig. Zum einen da ein signifikanter Teil der Menschen in Deutschland davon betroffen ist und zum anderen aufgrund des akuten Fachkräftemangels, der in vielen Branchen herrscht. Nur durch Zuwanderung von Arbeitskräften kann diesem begegnet werden. Migration wird demzufolge auch in der Zukunft ihre zentrale Rolle in der Arbeitswelt behalten.
„Fakten-CHECK: Migration im Kontext von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ unter: https://publikationen.dguv.de > Webcode: p022577