Zwischen europäischen Impulsen und nationalen Strukturen

Im Bereich der Sozial- und Gesundheitspolitik verfügt die Europäische Union nur über eingeschränkte Kompetenzen. Die Hauptverantwortung – auch für die gesetzliche Unfallversicherung – liegt daher weiterhin bei den Mitgliedstaaten, insbesondere bei der Organisation, Finanzierung und Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme.

Dennoch spielt die EU-Gesetzgebung eine wichtige Rolle – vor allem durch die Befugnis, Vorschriften zum Gesundheitsschutz und zur Sicherheit am Arbeitsplatz zu erlassen. Zahlreiche EU-Richtlinien setzen europaweite Standards, die Beschäftigte schützen und fairen Wettbewerb sichern sollen. Auch neue Arbeitsformen wie Homeoffice und Plattformarbeit oder der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) am Arbeitsplatz werden zunehmend im EU-Arbeitsschutz berücksichtigt.

Derzeit werden aber nur wenige wegweisende neue Initiativen auf den Weg gebracht. So verzögert sich die Überarbeitung der Richtlinien zu Arbeitsstätten und Bildschirmarbeitsgeräten aufgrund einer weiteren vorbereitenden Studie. Auch die bereits angekündigte sechste Änderung der Richtlinie über karzinogene, mutagene und reproduktionstoxische Stoffe steht weiterhin aus. Zudem kommt die Konsultation der europäischen Sozialpartner zu den Themen Recht auf Nichterreichbarkeit und Telearbeit derzeit nicht voran.

Trotzdem beobachten wir seit einiger Zeit, dass ein wachsender Anteil der Gesetze, die die Arbeit der gesetzlichen Unfallversicherung beeinflussen, ihren Ursprung auf EU-Ebene hat. So zum Beispiel in der Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik. Vor allem die Chemikalienpolitik mit der geplanten Überarbeitung der REACH-Verordnung, Anpassungen an der EU-Normenverordnung oder bereichsübergreifende EU-Initiativen wie die Datenschutz-Grundverordnung, die neue EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung oder das europäische Vergaberecht beschäftigen uns zunehmend.

Wie groß der Einfluss der EU auf die Arbeit der gesetzlichen Unfallversicherung ist, lässt sich schwer sagen. Fest steht: Die weitverbreitete Annahme, Brüssel schreibe 80 Prozent der nationalen Gesetze vor, lässt sich so pauschal nicht unterschreiben. Und schon gar nicht für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung, der maßgeblich von der nationalen Gesetzgebung bestimmt wird. Anders sieht es in Bereichen wie Landwirtschaft, Umwelt und Wirtschaft aus, sie werden mittlerweile stark von der EU reguliert. Ob dies dann im Ergebnis 80 Prozent sind, konnte bis heute nicht mit konkreten Zahlen belegt werden.

Aber was bedeutet das für die gesetzliche Unfallversicherung? Wir müssen den Blick stärker auf Europa richten und politische Entwicklungen auf EU-Ebene mit größerer Aufmerksamkeit und strategischer Weitsicht verfolgen. Kommissionspräsidentin Dr. Ursula von der Leyen hat mit ihrer Vision für Europa klare wirtschaftliche Prioritäten gesetzt. Doch in Zeiten, in denen Wettbewerbsfähigkeit, Digitalisierung und Deregulierung im Zentrum politischer Diskussionen stehen, dürfen soziale Standards und der Schutz von Sicherheit und Gesundheit nicht zu kurz kommen. Gerade durch den intelligenten Einsatz von Digitalisierung und modernen Regulierungsansätzen kann der Arbeitsschutz gestärkt und als strategischer Wettbewerbsvorteil für Unternehmen genutzt werden. Deshalb ist es wichtig, unsere Position in Brüssel sichtbarer zu machen und uns aktiv in europapolitische Debatten sowie in die Gesetzgebungsprozesse einzubringen.

Ebenso wichtig ist eine viel engere Zusammenarbeit mit der nationalen Politik. Denn EU-Richtlinien und -Verordnungen müssen letztlich in nationales Recht umgesetzt werden. Eine frühzeitige Abstimmung zwischen nationaler und europäischer Ebene ermöglicht es, Entwicklungen vorausschauend zu begleiten und frühzeitig geeignete Maßnahmen oder Anpassungsstrategien auf nationaler Ebene zu entwickeln. Darüber hinaus stärkt eine gute Vernetzung der nationalen und europäischen Politik die Einflussmöglichkeiten. Die Mitgliedstaaten der EU spielen eine zentrale Rolle in den europäischen Entscheidungsprozessen, ihr Einfluss ist oft größer als auf den ersten Blick erkennbar. Bei europäischen Initiativen können wir durch gezielte und koordinierte Impulse an die zuständigen Ministerien einen großen Beitrag dazu leisten, den Stellenwert von Sicherheit und Gesundheit in Europa dauerhaft gemeinsam zu sichern und weiterzuentwickeln.