Keine Aufrechnung mit rückständigen Beitragsforderungen nach erteilter Restschuldbefreiung

Beitragsforderungen aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens werden von der Restschuldbefreiung des Schuldners erfasst und können als unvollkommene Verbindlichkeiten nicht gegen laufende Ansprüche auf Geldleistungen durch einen Sozialleistungsträger nach § 51 Abs. 2 SGB I aufgerechnet werden.

§ BSG, Urteil vom 03.12.2024 – B 2 U 11/22 R

Im vorliegenden Sachverhalt stammten die Beitragsforderungen eines Unfallversicherungsträgers aus den Jahren 1992 und 1993. Seit dem 1. Januar 1999 bezog der Unternehmer, dessen Klage sich gegen den Aufrechnungsbescheid des Unfallversicherungsträgers richtete, eine Verletztenrente und später zudem eine Altersrente der gesetzlichen Rentenversicherung. Im Jahr 2010 war das Regelinsolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers eröffnet worden, in dem die Forderungen der Berufsgenossenschaft nur zum geringen Teil beglichen wurden. Nach Ende der Wohlverhaltensperiode wurde ihm im Jahr 2017 Restschuldbefreiung erteilt. Mit Bescheid vom 4. April 2017 erklärte der Unfallversicherungsträger, dass er die bestehenden Beitragsforderungen gegen die Hälfte des unpfändbaren Teils der Verletztenrente gemäß § 51 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) I aufrechnen wolle. Dazu führte er an, dass das Interesse der Solidargemeinschaft dasjenige des Klägers überwiege. Zudem habe der Kläger keine Hilfebedürftigkeit nachgewiesen.

Die Anfechtungsklage gegen den Bescheid war in erster Instanz erfolgreich und führte zur Aufhebung des Bescheids. Das Landessozialgericht (LSG) hob das Urteil des Sozialgerichts (SG) mit der Begründung auf, dass der unpfändbare Teil der Rente nicht zur Insolvenzmasse gehört habe und damit die Tilgung der zur Aufrechnung gestellten Forderung nicht aus der Insolvenzmasse erfolge. Der Kläger legte Revision ein, die zur Wiederherstellung des Urteils des SG führte, weil eine Aufrechnungslage zur Zeit der Aufrechnung nicht mehr bestanden habe.

Das Bundessozialgericht (BSG) geht in der Begründung zunächst auf die Befugnis des Sozialleistungsträgers zur Aufrechnung in der Form eines Verwaltungsaktes ein. Es konnte sich hierzu auf eine Entscheidung des Großen Senats des BSG aus dem Jahr 2011 berufen, in der die Befugnis der Erklärung einer Verrechnung nach § 52 SGB I in der Handlungsform des Verwaltungsaktes bereits als zulässig erachtet worden war (BSG, Urteil vom 31.08.2022 – GS 2 /10, BSGE 109, S. 81 ff.). Für die Aufrechnung, die wie die Verrechnung nicht zwingend, gleichwohl nach Wahl wie hier erkennbar in der Form eines Verwaltungsaktes zulässig sei, gelte nichts anderes, da die Verrechnung ja nur eine Sonderform der Aufrechnung unter Verzicht auf das Gegenseitigkeitserfordernis beinhalte.

Größere Bedeutung kommen den Rechtsausführungen zum Bestehen einer Aufrechnungslage nach erteilter Restschuldbefreiung zu. Dies verneinte der Senat mit Verweis auf § 387 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), da der Aufrechnende die ihm gebührende Leistung fordern können muss, das heißt, die Forderung müsse erfüllbar und erzwingbar sein. Dies sei nach erteilter Restschuldbefreiung nicht mehr der Fall. Nach der Rechtsprechung und der insolvenzrechtlichen Literatur würden die Forderungen mit erteilter Restschuldbefreiung zu grundsätzlich nach § 301 Abs. 1 Insolvenzordnung (InsO) zwar noch erfüllbaren, aber unvollkommenen Verbindlichkeiten führen, die daher nicht mehr durchsetzbar (erzwingbar) und damit auch von einer Aufrechnung ausgeschlossen seien.

Unklarheiten bestehen allerdings, ob das Bestehen einer Aufrechnungslage nur vom Zeitpunkt der Restschuldbefreiung aus beurteilt wird. Vielmehr war zu prüfen, ob eine bereits zu Beginn des Insolvenzverfahrens und weiterhin während des Verfahrens bestehende Aufrechnungslage zum Zeitpunkt der späteren Aufrechnungserklärung fortbestanden hatte.

Die dafür im Verfahren angeführten Argumente wies das BSG im weiteren Verlauf der Begründung zurück.

Gemäß § 51 Abs. 2 SGB I ist ungeachtet der Verfahrenseröffnung eine Aufrechnung in das nicht vom Insolvenzbeschlag erfasste Vermögen (unpfändbarer Teil von Sozialleistungen) zulässig. Somit besteht auch noch in der Wohlverhaltensperiode eine Aufrechnungsmöglichkeit, ungeachtet der Ausschüttungen des Treuhänders, da auch in dieser Phase das unpfändbare Vermögen nicht betroffen ist. Der 2. Senat hält dies jedoch nicht für ausreichend, um den durch § 51 Abs. 2 SGB I begründeten Zugriff auf die unpfändbaren Teile der Sozialleistungen auch noch über die erteilte Restschuldbefreiung hinaus auszudehnen. So heißt es wörtlich: „Die damit verbundene Privilegierung findet aber bereits innerhalb der Regelung des § 51 Abs. 2 SGB I ihre Grenzen in der Erwartung, dass die Leistungsträger im Rahmen der gebotenen Ermessensausübung soziale Belange berücksichtigen […].“ Damit einhergehend hält der Senat es für erforderlich, dass der mit der endgültigen Schuldenbereinigung ermöglichte wirtschaftliche Neuanfang als Wertentscheidung auch bei der Auslegung des Geltungsbereichs des § 51 Abs. 2 SGB I zu berücksichtigen sei: „Das mit § 301 InsO verfolgte soziale Anliegen einer möglichst weitgehenden Wirkung der Restschuldbefreiung bei redlichen Schuldnern (vgl. § 302 Nr. 1 InsO) lässt sich mit einer Aufrechenbarkeit auch unvollkommener Verbindlichkeiten zugunsten des Sozialleistungsträgers erkennbar nicht vereinbaren. § 51 Abs. 2 SGB I tritt insoweit hinter § 301 InsO zurück.“

Auch eine eng am Anwendungsbereich der §§ 94, 95 InsO orientierte Auslegung, wonach eine bereits vor Eröffnung des Verfahrens bestehende Aufrechnungslage bis zur Aufrechnungserklärung seitens des Unfallversicherungsträgers aufrechterhalten geblieben sein konnte, wies das Gericht mit insoweit grundlegenden Ausführungen zum Entstehen der Ansprüche auf Verletztenrente zurück. Ihre Berechtigung zur Aufrechnung ihrer damals durchsetzbaren Beitragsforderungen aus den Jahren 1992 und 1993 gegen laufende Ansprüche des Klägers auf Verletztenrente habe nur während des laufenden Insolvenzverfahrens gegen die in dieser Zeit jeweils entstandenen Ansprüche auf Verletztenrente vorgelegen. Mit der Umwandlung in unvollkommene Forderungen nach erteilter Restschuldbefreiung sei die Möglichkeit zur Erklärung der Aufrechnung gegen dann erst – nach Beendigung des Verfahrens – entstandene Einzelansprüche nicht mehr gegeben. Interessanterweise wird hier das Entstehen der aufgerechneten Gegenforderungen (Ansprüche auf Auszahlung der jeweils monatlichen Rentenansprüche) auf deren jeweiligen Auszahlungsmonat verlegt, eine Auslegung, die sich mit der Unterscheidung des Rentenstammrechts und der daraus resultierenden Einzelansprüche deckt. Allerdings ist diese Unterscheidung in ihrer Tragweite zur Beurteilung einer Aufrechnungslage, die nur die Erfüllbarkeit der (Gegen-)Forderung voraussetzt, ungeklärt. Das BSG stellt hier nachvollziehbar auf den Entstehenszeitpunkt des jeweiligen Einzelanspruchs für die Bejahung einer Aufrechnungslage ab. Außerdem ist damit nicht ausgeräumt, dass die damals (1999 und weiterhin auch bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Jahr 2010) bestehende Aufrechnungslage auch noch im Jahr 2017 eine Aufrechnungsmöglichkeit zugunsten der beklagten Berufsgenossenschaft begründete.

Schließlich wird ein Erst-Recht-Schluss von den von der Restschuldbefreiung ausgenommenen Absonderungsrechten (§ 301 Abs. 2 InsO) auf fortbestehende Aufrechnungsmöglichkeiten abgelehnt; eine Frage, die sich allerdings erst bei Anerkennung einer weiterhin noch bestehenden Aufrechnungslage stellte. Die Begründung des Gerichts, dass Ausnahmen der Restschuldbefreiung abschließend im Gesetz geregelt seien, erscheint hier gleichfalls nachvollziehbar.

Alles in allem überzeugt die im Zentrum stehende Aussage, dass die privilegierten Zugriffsmöglichkeiten der Sozialversicherungsträger auf unpfändbare Renten- oder sonstige (laufende) Sozialleistungsansprüche mit Erteilung der Restschuldbefreiung enden, aus sozialpolitischen Gründen. Sie führt zu der Erkenntnis, dass auch die insolvenzrechtlichen Regelungen letztlich sozialstaatlichen Anliegen (hier nach einem wirtschaftlichen Neuanfang für insolvente Schuldner) Rechnung tragen und deshalb einen Geltungsvorrang begründen. 

Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.