Versichert oder nicht versichert? Ein Weg vieler Fragen
Bei untypischen Verhaltensweisen am Unfalltag ist allein aus dem objektiven Zurücklegen des Heimweges kein zweifelsfreier Rückschluss auf die erforderliche subjektive Handlungstendenz möglich. Den Zweifeln an einer den Versicherungsschutz rechtfertigenden Handlungstendenz kann im Falle eines untypischen Verlaufs nicht mit einer Beweiserleichterung begegnet werden.
Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 28. November 2018 – L 6 U 103/17 –, juris; bestätigt durch Urteil des Bundessozialgerichts vom 6. Oktober 2020 – B 2 U 9/19 R –, Terminbericht
Der Ehemann der Klägerin erlitt am 25. Juni 2014 um 18:20 Uhr einen tödlichen Verkehrsunfall. Am Unfalltag musste er bis 21:30 Uhr arbeiten; tatsächlich beendete er die Arbeit um 18:00 Uhr, ließ die Maschine weiterlaufen, informierte seine Kollegen nicht, stach nicht aus (Zeiterfassung); es hatte Streit um die Verlegung einer Pause gegeben. Auf normalem Heimweg geschah der tödliche Unfall etwa einen Kilometer vor seinem Wohnort; er geriet mit seinem Pkw auf die linke Fahrbahn und stieß mit einem entgegenkommenden Lkw zusammen; vor dem Fahrtantritt hatte er seine Frau entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nicht per SMS informiert. Es wurde bei ihm keine Beeinträchtigung durch Alkohol, Medikamente oder andere Suchtmittel festgestellt. Finanzielle, gesundheitliche oder psychische Probleme habe er nicht gehabt; sein Kfz wies keine Mängel auf. Ein Zeuge des Unfalls gab an, dass der Verstorbene etwa 10 bis 15 Meter vor einem Lkw fast 90 Grad nach links gezogen sei; er habe keine Bremslichter gesehen und kein vorheriges Schleudern. Der zuständige Unfallversicherungsträger lehnte einen Arbeitsunfall ab.
Im Gegensatz zum Sozialgericht Dresden haben das sächsische Landessozialgericht (LSG) und das Bundessozialgericht (BSG) einen Arbeitsunfall verneint, weil die versicherte Tätigkeit des Verstorbenen beweislos geblieben sei. Es stehe wegen des untypischen Verlaufs des Arbeitstages nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass der Verstorbene die Handlungstendenz gehabt habe, nach Hause zu fahren; allein das Fahren auf „richtiger“ Strecke reiche hierfür nicht aus. Aufgrund dieser Atypik scheide auch eine Beweiserleichterung aufgrund einer typischen Beweisnot aus; dies gehe im Wege einer Beweislastentscheidung zulasten der Klägerin.
Die Entscheidungen zeigen, wie „hart“ eine Beweislastentscheidung sein kann, wenn allein der Verstorbene die Antwort auf die zentrale Frage geben könnte. Derartige Fälle kommen in der gesetzlichen Unfallversicherung mehrfach vor. Was uns hier ins Nachdenken zwingt, sind zwei Aspekte.
Es steht unausgesprochen die Frage im Raum, ob der Verstorbene Suizid begangen haben könnte. Würde es darauf ankommen, so hätte der Unfallversicherungsträger das Risiko der Beweislosigkeit zu tragen, da ein Suizid eine anspruchshindernde Tatsache ist. Darauf wollen LSG und BSG nicht abstellen; sie sind in Richtung einer überhaupt nicht nachgewiesenen versicherten Tätigkeit unterwegs. Dabei scheint die Atypik des Arbeitstages des Verstorbenen das entscheidende Argument für die Zweifel an dessen Handlungstendenz, nach Hause zu fahren, zu sein. Aber: Was hat das eine mit dem anderen zu tun. Das ist der Entscheidung des LSG nicht klar zu entnehmen. Klar ist jedoch, dass wir keinen sogenannten Wegebann kennen, also nicht bei der „richtigen“ Wegstrecke die „richtige“ Handlungstendenz unterstellen. Allerdings kennen wir seit Jahren die Richtung des BSG, die Dinge zu objektivieren – auch die Handlungstendenz. Bewegt sich eine Handlung im Muster einer den Versicherungsschutz auslösenden Tätigkeit, fragen wir gar nicht mehr nach der subjektiven Handlungstendenz; das Muster reicht uns. Warum nicht hier?
Wir kennen zudem im Bereich der versicherten Tätigkeit die gemischte Motivationslage; hier wird eine einzige Verrichtung ausgeübt, die gleichzeitig sowohl einen privaten als auch betrieblichen, auf die Erfüllung eines Versicherungstatbestandes gerichteten Zweck verfolgt. Wenn wir die Zweifel des LSG und des BSG aufnehmen und dem Verstorbenen auch etwas Privates mit auf den Weg in Richtung zu Hause geben, hätten wir dann nicht genau eine solche gemischte Motivationslage? Wenn ja, dann müssten wir fragen, ob die Verrichtung (die Fahrt) nach den objektiven Umständen in ihrer konkreten, tatsächlichen Ausgestaltung ihren Grund in der versicherten Handlungstendenz findet; beziehungsweise, ob die Verrichtung, so wie sie durchgeführt wurde, objektiv die versicherungsbezogene Handlungstendenz erkennen lässt. Tut sie das nicht?