Digitaler Wandel in der sozialen Sicherung Europas: Wunschdenken oder bald Realität?
Die Europäische Kommission möchte den Verwaltungsaufwand für die Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in Europa verringern. Digitale Instrumente sollten genutzt werden, um die Arbeitnehmerrechte besser durchzusetzen, den Austausch von notwendigen Daten, Formularen und Abrechnungen zu vereinfachen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit insgesamt zu verbessern.
Die Europäische Kommission hat in den vergangenen Jahren verschiedene Initiativen eingeleitet mit dem Ziel, den grenzüberschreitenden Informationsaustausch zwischen den Sozialversicherungsträgern und die Verfahren für die Menschen und Unternehmen zu vereinfachen. Die Mitgliedstaaten und die Sozialversicherungsträger begleiten den andauernden europäischen Digitalisierungsprozess eng. Viele Ansätze und Ideen der Europäischen Kommission waren und sind gut. Es ist jedoch zunehmend schwerer geworden, in dem digitalen Dickicht den Überblick zu behalten und zu entscheiden, ob und inwieweit sich ein weiteres Engagement und die Bereitstellung von finanziellen und personellen Ressourcen lohnen.
Die Forderung nach mehr Ordnung und vor allem nach einer Antwort auf die Frage, ob und wie sich die Maßnahmen ergänzen, ist im Laufe der Zeit immer lauter geworden. Mit der am 6. September 2023 veröffentlichten Mitteilung zur Digitalisierung der Systeme der sozialen Sicherheit[1] möchte die Europäische Kommission nunmehr für Klarheit sorgen. Die Mitteilung gibt einen Überblick über die in den vergangenen Jahren errichtete digitale Landschaft. Insbesondere werden die allgemeinen europäischen Regeln zur Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und besondere auf die Sozialversicherung bezogene EU-Initiativen erläutert, die die Grundlage für ein modernes und digitales System zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme bilden sollen. Ein Ergebnis soll ein verbesserter Daten- und Informationsaustausch zwischen den Behörden sein, darüber hinaus soll eine einfachere und effizientere Beantragung und Erbringung von Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen erreicht werden. So soll zum Beispiel ein in Spanien ansässiger Unternehmer, der einen seiner Mitarbeiter für einen vorübergehenden Arbeitseinsatz nach Frankreich entsenden möchte, mit wenigen Klicks die sozialrechtlichen Formalitäten online erledigen können. Die vom zuständigen Sozialversicherungsträger ausgestellten elektronischen Dokumente sollen jederzeit in einer digitalen Brieftasche verfügbar und abrufbar sein. Damit dies in der Praxis auch tatsächlich umgesetzt werden kann, hat die Europäische Kommission im Rahmen der europäischen Digitalstrategie[2] die Digitalisierung der öffentlichen Dienste gefördert.
Wie finde ich die zuständige nationale Behörde?
Startschuss für die Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen war die Schaffung eines EU-Rechtsrahmens zur Errichtung eines einheitlichen digitalen Zugangstors. Über eine zentrale Anlaufstelle, die Webseite, „Your Europe“[3] sollen Angebote und Informationen der öffentlichen Verwaltungen in allen europäischen Mitgliedstaaten bereitgestellt werden. Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen, die in einem anderen EU-Land leben, arbeiten oder einer Geschäftstätigkeit nachgehen möchten, sollen darüber hinaus über diese zentrale Anlaufstelle auch zur Beantragung einer öffentlichen Leistung an die zuständige Webseite der nationalen Behörde weitergeleitet werden.[4] Einige Informationen wurden bereits für die Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen auf der Webseite bereitgestellt. Die deutschen Sozialversicherungsträger steuern hier Informationen zum nationalen Recht zu Arbeit und Ruhestand, zur medizinischen Versorgung, Informationen für Arbeitnehmer sowie zu Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz bei. Damit das vollständige Potenzial einer digitalen grenzüberschreitenden Verwaltung erreicht wird, müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass 21 Verwaltungsverfahren vollständig online und grenzüberschreitend abgewickelt werden können. Drei dieser Verfahren betreffen auch die soziale Sicherheit: Die Beantragung einer digitalen A1-Bescheinigung zum Nachweis der Sozialversicherung im Herkunftsland, die Beantragung einer Europäischen Krankenversicherungskarte (EHIC) als Anspruchsgrundlage für die Krankenbehandlung im Ausland und das Rentenantragsverfahren sowie Informationen über die erworbenen Rentenanwartschaften. Um den Verwaltungsaufwand für alle Beteiligten zu reduzieren, muss bis Ende des Jahres sichergestellt werden, dass nach dem Grundsatz der einmaligen Datenerfassung der Austausch von einmal beantragten Dokumenten und Nachweisen europaweit zwischen den Behörden automatisiert ermöglicht wird. Dadurch soll eine mehrmalige Beantragung von ein und demselben Dokument vermieden werden.
Wie kann ich mich EU-weit digital identifizieren?
Wie bei jedem Behördengang ist eine Identifizierung auch bei der digitalen Beantragung von Dokumenten und Leistungen notwendig. Verschiedene Mitgliedstaaten haben bereits in den vergangenen Jahren elektronische Identitätsnachweise eingeführt. Diese können aber nicht immer länderübergreifend für eine elektronische Authentifizierung zum Nachweis der Identität einer Person genutzt werden. Hier mangelt es noch an einer Interoperabilität der Systeme.[5] Das möchte die Europäische Kommission ändern. Bis 2030 sollen 80 Prozent der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger und der Unternehmen die Möglichkeit haben, ihre eigene Identität EU-weit online nachzuweisen, um die von den Behörden digital zur Verfügung gestellten Verwaltungsverfahren auch grenzüberschreitend nutzen zu können. Den gesetzlichen Rahmen dafür schafft die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene europäische digitale Identität (EUid). Sie ist eine Art persönliche, europäische digitale Brieftasche, in der verschiedene Dokumente der öffentlichen Verwaltung wie zum Beispiel Sozialversicherungsnachweise, elektronische Rezepte, der Führerschein oder eine Geburtsurkunde aufbewahrt und jederzeit über eine Handy-App oder anderweitig abgerufen werden können.
Der Rat und das Europäische Parlament haben sich vor der parlamentarischen Sommerpause auf die wesentlichen Elemente des Rechtsrahmens zur Einführung einer europäischen digitalen Identität verständigt.[6] Parallel hierzu arbeitet die Europäische Kommission gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten an einer möglichen Umsetzung. Hierzu befindet sich ein Prototyp der EUid-Brieftaschen-App im Aufbau.
Das interoperable Europa in der öffentlichen Verwaltung
Damit die öffentlichen Verwaltungen verpflichtet werden, den Austausch miteinander zu verbessern und effizienter zu gestalten, hat die Europäische Kommission mittels eines weiteren Rechtsaktes die Initiative zum Ausbau der grenzüberschreitenden Kommunikation ergriffen. Das Gesetz über ein interoperables Europa[7] soll einen Kooperationsrahmen für öffentliche Verwaltungen schaffen, der vorsieht, bei Investitionen in die Behördenkommunikation von Anfang an die grenzüberschreitende Interoperabilität mitzudenken und zu gewährleisten. Durch den verbesserten Datenaustausch zwischen den zuständigen Verwaltungen profitieren Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen gleichermaßen. Dies führt auch unweigerlich zu Kosteneinsparungen, wenn es künftig zu einer Umsetzung des rein digitalen Datenaustauschs kommt und trägt erheblich zur Realisierung der Digitalziele Europas bis zum Jahr 2030 bei.
EESSI: Sicherer Austausch von Sozialversicherungsdaten
Die Europäische Kommission hat nicht nur die Digitalisierung der öffentlichen Dienste vorangetrieben. Um die digitale Kommunikation zwischen den Sozialversicherungsträgern in der EU, den Versicherten und Unternehmen sicherzustellen, wurden auch sozialversicherungsspezifische Initiativen auf den Weg gebracht.
Mit dem 2008 ins Leben gerufenen Großprojekt EESSI[8] wird der grenzüberschreitende Austausch von Informationen zwischen den Trägern aus allen Zweigen der sozialen Sicherheit digitalisiert. Durch den digitalen Austausch von persönlichen Sozialversicherungsdaten soll zum Beispiel eine schnellere und effizientere Bearbeitung von grenzüberschreitenden Versicherungsfällen erreicht werden – etwa die Abwicklung der Kostenerstattung nach einem Arbeitsunfall. Es hat viele Jahre gedauert, das neue IT-System EESSI zu schaffen, über das persönliche Daten zwischen den Sozialversicherungsorganisationen reibungslos fließen können. Trotz aller Unterschiedlichkeit der Systeme in den Mitgliedstaaten wurde eine gemeinsame Basis geschaffen, über die seit 2019 die ersten Versicherungsträger unmissverständlich und rechtssicher miteinander digital kommunizieren können. Bis Ende 2024 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass das System vollständig umgesetzt und anwendbar ist.
Der Weg zu EESSI ist lang und aufwendig, vor allem aber wurde unterschätzt, wie komplex und zeitaufwendig es ist, alle Sozialversicherungsträger aus den Mitgliedstaaten zu verbinden. Trotz des enormen Aufwands kann dies jedoch als Meilenstein für einen digitalen grenzüberschreitenden Datenaustausch von Sozialversicherungsdaten betrachtet werden. Die schnelle und effiziente Übertragbarkeit von Informationen in standardisierten Prozessen führt zu einem qualitativen Mehrwert für die Sozialversicherungsinstitutionen und schließlich auch für die mobilen Arbeitskräfte und Unternehmen. Was zunächst als unbezwingbares Bürokratiemonster schien, läuft heute fast lautlos im Hintergrund, trotz Nachholbedarf bei einigen Mitgliedstaaten.
Sozialversicherungsnachweise am Mobiltelefon
Die Umsetzung von EESSI zur Verbesserung des elektronischen Datenaustauschs zwischen den Sozialversicherungsorganisationen war der erste Schritt zu einer effizienteren und zeitgemäßen Abwicklung von öffentlichen Dienstleistungen im Bereich der Sozialversicherung. Damit auch die Dokumente der nationalen Sozialversicherungsorganisationen einfach und unkompliziert für Bürger und Bürgerinnen sowie Unternehmen digital verfügbar sind, soll nun ein Europäischer Sozialversicherungsausweis (ESSPASS) eingeführt werden. Erste Pilotaktivitäten, an denen der italienische Sozialversicherungsträger INPS und die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) beteiligt waren, hatten gezeigt: Das A1-Verfahren ist komplett digital umsetzbar. Darauf aufbauend arbeiten derzeit zwei Konsortien an einer Weiterentwicklung des Projekts, wobei die digitale Speicherung von drei Dokumenten erprobt wird. Perspektivisch sollen danach die A1-Bescheinigung, die Europäische Krankenversicherungskarte (EHIC) und Rentenentscheidungen in der persönlichen digitalen Brieftasche abgespeichert werden können. Geplant ist, dass die Bürger und Bürgerinnen oder Unternehmen die Dokumente über den Versicherungsstatus digital beantragen und diese elektronisch von ihrer zuständigen nationalen Organisation in die digitale Brieftasche gespeichert bekommen. Die Arbeiten, an denen sich von deutscher Seite die DRV Bund und der GKV-Spitzenverband einbringen, sollen bis 2025 abgeschlossen werden.
Langer Weg zur Digitalisierung der Sozialversicherung
Wenn das Konzept der Europäischen Kommission eines reibungslosen Ineinandergreifens der verschiedenen Initiativen aufgehen sollte, würden für Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger sowie Sozialversicherungen spürbare Erleichterungen eintreten. Im besten Fall würde beispielsweise der in Spanien ansässige Bauunternehmer über die Webseite „Your Europe“ mit wenigen Klicks auf die Webseite des nationalen Versicherungsträgers verwiesen und dort digital einen Antrag auf Ausstellung einer A1-Bescheinigung stellen können. Der zuständige Versicherungsträger würde den Antrag prüfen und bei Erfüllung aller Voraussetzungen die A1-Bescheinigung ausstellen und der Mitarbeiter könnte sie in seiner künftigen digitalen Brieftasche speichern. Sie wäre damit jederzeit digital abrufbar. Über EESSI könnte der spanische Versicherungsträger den zuständigen Träger zum Beispiel in Frankreich schnell und unkompliziert über die Entsendung und die Anwendung des spanischen Rechts informieren. Sollte der Mitarbeiter während seines Arbeitseinsatzes in Frankreich von der zuständigen Arbeitsinspektion kontrolliert werden, könnte er mit dem ESSPASS in Echtzeit und rein digital überprüfen, ob die A1-Bescheinigung gültig ist.
Grundsätzlich hat die Europäische Kommission mit ihrer Mitteilung vom 6. September 2023 etwas mehr Ordnung in die Zusammenhänge der einzelnen EU-Initiativen gebracht. Sie enthält aber auch keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse. Das war auch nicht zu erwarten. Die Europäische Kommission hat die Mitteilung aber dazu genutzt, noch einmal ihre Erwartung an die Mitgliedstaaten deutlich zu formulieren: Bekannte Umsetzungsfristen sollen eingehalten werden. Notwendig sind finanzielle und personelle Investitionen in die digitalen Projekte sowie eine Verstärkung der nationalstaatlichen Anstrengungen, um gemeinsam bis 2030 die Ziele des digitalen Jahrzehnts zu erreichen.
Weniger deutlich wird jedoch, wie wichtig eine rechtzeitige Beteiligung aller Akteure und Akteurinnen – einschließlich der Sozialversicherung – an den digitalen europäischen Initiativen ist. Die Erfahrungen aus dem EESSI-Projekt haben gezeigt, dass die Digitalisierung von grenzüberschreitenden Prozessen in allen Zweigen der Sozialversicherung in Europa eine frühzeitige Einbindung der Verantwortlichen erfordert. Denn nur so können von Anfang an und in europäischer Kooperation gemeinsame kompatible Lösungen gefunden werden, die die unterschiedlichen nationalen Versicherungsträger auch umsetzen und anwenden können. Fehler, die in der Vergangenheit bei der Einführung von EESSI gemacht wurden, haben wertvolle Zeit gekostet sowie finanzielle und personelle Ressourcen gebunden. Dies sollte künftig vermieden werden. Digitale Lösungen für eine faire Mobilität der Arbeitskräfte sind in Reichweite. Die verschiedenen Träger der Sozialversicherung in Deutschland setzen sich schon seit einigen Jahren intensiv mit der Digitalisierung auseinander und versuchen den Versicherten und Unternehmen zunehmend einen komfortableren digitalen Service anzubieten. Damit dies auch grenzüberschreitend sichergestellt werden kann, muss die Sozialversicherung von Anfang an eng in die politischen und technischen Entwicklungen der relevanten EU-Initiativen eingebunden werden.