Psychische Belastung im Vorschriften- und Regelwerk
Beim Thema psychische Belastung haben betriebliche Akteure und Akteurinnen weiterhin einen großen Bedarf an Informationen und Hilfestellungen, dem das Vorschriften- und Regelwerk der gesetzlichen Unfallversicherung gerecht werden muss. Fachleute der Unfallversicherungsträger entwickeln Produkte mit, die Mitgliedsbetrieben bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflicht helfen.
Psychische Belastung bei der Arbeit ist längst kein Nischenthema mehr. Sie gehört zum Arbeitsschutz beziehungsweise zum Themenfeld Sicherheit und Gesundheit dazu, gerade vor dem Hintergrund der aktuell immer noch andauernden Pandemie und des dadurch deutlich gestiegenen Homeoffice-Anteils. Schon seit 2013 ist die psychische Belastung als zu prüfende Gefährdung in § 5 Abs. 3 Nr. 6 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) ausdrücklich genannt. In der Folge gab es zahlreiche Konkretisierungen im staatlichen und nicht staatlichen Regelwerk – auch im Regelwerk der gesetzlichen Unfallversicherung. Dieser Weg ist aus Sicht der Autorinnen noch lange nicht abgeschlossen. Sie beteiligen sich im Rahmen ihrer Aufgaben unter anderem am Arbeitsprogramm "Psyche" der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) und bieten über ihren Fachbereich "Gesundheit im Betrieb" Unterstützung bei der Berücksichtigung psychischer Belastung an, wenn Branchenregeln, sonstige Regeln und Informationen erarbeitet werden. Dieses Engagement ist notwendig, da betriebliche Akteure und Akteurinnen nach wie vor einen großen Bedarf an Informationen und klaren Hilfestellungen haben und diesem Wunsch über das Vorschriften- und Regelwerk der DGUV Rechnung getragen werden kann.
Psychische Belastung und Erkrankungs-/Unfallrisiken
Psychische Belastung kann für sich genommen im ungünstigen Fall zu Erkrankungs- und Unfallrisiken führen. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn andauernder Zeitdruck herrscht und/oder die Arbeitsmenge nicht zu bewältigen ist, wenn ein destruktiver Führungsstil gelebt wird oder überlange Arbeitszeiten und fehlende Erholungsmöglichkeiten den Arbeitsalltag prägen. Solche Rahmenbedingungen können bei allen Tätigkeitsfeldern und in allen Branchen auftreten.
Genauso bedeutsam ist die Rolle der psychischen Belastung als Begleitung anderer Gefährdungen, wenn zum Beispiel durch Lärm bei der Verwendung von Arbeitsmitteln oder beim Steuern von Maschinen oder Fahrzeugen die Konzentration eingeschränkt wird. Unter anderem wird daher zum Beispiel in der Biostoffverordnung (BioStoffV) – hier ist die Gefährdung, die die psychische Belastung auslösen kann, der Biostoff – explizit gefordert, bei der Gefährdungsbeurteilung auch "Belastungs- und Expositionssituationen, einschließlich psychischer Belastung" (§ 4 BioStoffV) zu berücksichtigen.
Zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastung sind
- die Arbeitsinhalte und -aufgaben,
- die Arbeitsorganisation,
- die Arbeitszeit,
- die sozialen Beziehungen bei der Arbeit,
- die Arbeitsumgebungsbedingungen sowie
- die Verwendung von Arbeitsmitteln
sicherheits- und gesundheitsgerecht zu gestalten[1] und im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen.
Weiterentwicklung des regulativen Rahmens
Betrieblicher Arbeitsschutz orientiert sich am regulativen Rahmen, zum Beispiel an Gesetzen, Verordnungen und Unfallverhütungsvorschriften. Gesetzliche Regelungen finden sich zum Beispiel sowohl im Arbeitsschutzgesetz als auch untergesetzlich etwa in der Biostoffverordnung, in Arbeitsmedizinischen Regeln oder in der DGUV Vorschrift 1 "Grundsätze der Prävention" (siehe Infokasten).
Psychische Belastung im Vorschriften- und Regelwerk
• Arbeitszeitgesetz (ArbZG)
• Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (ArbSchG)
• Verordnung über Arbeitsstätten (ArbStättV)/Technische Regel für Arbeitsstätten (ASR) V3 "Gefährdungsbeurteilung"/ASR A3.7 "Lärm"
• Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Verwendung von Arbeitsmitteln (BetrSichV)/Technische Regel für Betriebssicherheit (TRBS) 1111 "Gefährdungsbeurteilung"/TRBS 1151 "Gefährdungen an der Schnittstelle Mensch – Arbeitsmittel – Ergonomische und menschliche Faktoren, Arbeitssystem"
• Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Tätigkeiten mit Biologischen Arbeitsstoffen (BioStoffV)/Technische Regel für Biologische Arbeitsstoffe (TRBA) 400 "Handlungsanleitung zur Gefährdungsbeurteilung und für die Unterrichtung der Beschäftigten bei Tätigkeiten mit biologischen Arbeitsstoffen"/TRBA 250 "Biologische Arbeitsstoffe im Gesundheitswesen und in der Wohlfahrtspflege"
• SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel
• Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung (LärmVibrationsArbSchV)
• Arbeitsmedizinische Regel (AMR) 3.1 "Erforderliche Auskünfte/Informationsbeschaffung über die Arbeitsplatzverhältnisse"/AMR 3.2 "Arbeitsmedizinische Prävention"
• DGUV Vorschrift 1 "Grundsätze der Prävention“ einschließlich der dazugehörigen DGUV Regel
• DGUV Vorschrift 2 "Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“ einschließlich der dazugehörigen DGUV Regel
• DGUV Vorschrift 25 "Überfallprävention"
• verschiedene DGUV Branchenregeln
Zum Regelwerk der gesetzlichen Unfallversicherung zählen Vorschriften, Regeln, Informationen und Grundsätze, die Gesetze oder staatliche Arbeitsschutzvorschriften konkretisieren beziehungsweise ergänzen. Es richtet sich an Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen und dient dazu, diese bei der Umsetzung ihrer gesetzlichen Pflichten zu unterstützen.
DGUV Branchenregeln "übersetzen" das Arbeitsschutzrecht praxisnah in Empfehlungen zu konkreten Maßnahmen im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz für bestimmte Tätigkeiten, Arbeitsplätze und Arbeitsverfahren einer bestimmten Branche. Branchenregeln werden von den Fachbereichen der DGUV unter Federführung und Beteiligung der Unfallversicherungsträger, der Sozialpartner, gegebenenfalls des Bundes, der Länder, der Hersteller, der Betreiber und weiterer Kreise erarbeitet. Sie geben den anerkannten Stand der Technik wieder.
Im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA)[2] werden durch Arbeitsprogramme Schwerpunkte gesetzt. Die psychische Belastung ist seit Beginn der GDA 2008 in den Arbeitsprogrammen integriert. In der zweiten und dritten GDA-Periode wurden spezifische Arbeitsprogramme zum Faktor der psychischen Belastung aufgestellt. Eine weitere Aufgabe der GDA ist es, das komplexe Vorschriften- und Regelwerk im Bereich der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes zu vereinfachen und besser aufeinander abzustimmen. Dadurch soll Rechtssicherheit für Unternehmen und Beschäftigte geschaffen werden.
In der laufenden GDA-Periode hat sich das GDA-Arbeitsprogramm "Gute Arbeitsgestaltung bei psychischen Belastungen" (Arbeitsprogramm "Psyche") unter anderem zum Ziel gesetzt, zur Kohärenz im Vorschriften- und Regelwerk im Hinblick auf die psychische Belastung beizutragen. Deshalb wurde die Thematisierung der psychischen Belastung im Vorschriften- und Regelwerk systematisch unter die Lupe genommen. Eine Bestandsaufnahme kommt in einer zusammenfassenden Darstellung zu dem Schluss, dass Gefährdungen durch psychische Belastung – sofern sie überhaupt berücksichtigt werden – sehr unterschiedlich benannt und zum Teil nur unzureichend ausdifferenziert und konkretisiert werden. Demzufolge werden auch Anforderungen an Schutzmaßnahmen beziehungsweise branchen- und/oder tätigkeitsspezifische Gestaltungsoptionen zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastung sowohl in staatlichen Vorschriften und Regeln als auch im Regelwerk der gesetzlichen Unfallversicherung, zum Beispiel in den Branchenregeln, häufig nicht ausreichend konkretisiert. Die Ergebnisse dieser Bestandsaufnahme zeigen auch deutliche Potenziale bei der Weiterentwicklung des Regelwerks der gesetzlichen Unfallversicherung auf.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat dies zum Anlass genommen, die "Psychische Belastung in Arbeitsschutz-Vorschriften und -Regeln" unter anderem in zwei institutionen- und ausschussübergreifenden Fachgesprächen zu thematisieren. Die Fachgespräche dienten dazu, Statements zum Sachstand, zu Entwicklungsbedarfen und zu den konkreten Handlungserfordernissen einzuholen. Das BMAS formulierte als Ergebnis folgende Ziele:
- Zentrale Begriffe (unter anderem psychische Belastung, psychische Beanspruchung, Gefährdung durch psychische Belastung) sind klar zu definieren.
- Grundlegende, tätigkeits- und branchenübergreifend geltende Gestaltungsanforderungen zur Vermeidung einer Gefährdung durch die psychische Belastung bei der Arbeit sind festzulegen.
- Anforderungen an die Organisation und Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung sind zu regeln.
Weiterhin beauftragte das BMAS den Ausschuss für Sicherheit und Gesundheit (ASGA), eine staatliche Regel zu erarbeiten. Basierend darauf müssten existierende Vorschriften und Regeln – sowohl auf der staatlichen Seite als auch bei der gesetzlichen Unfallversicherung – entsprechend angepasst werden.
DGUV Fachbereich "Gesundheit im Betrieb" unterstützt
Der DGUV Fachbereich "Gesundheit im Betrieb"[3] (FB GiB) mit seinen Sachgebieten (SG)
- "Psyche und Gesundheit in der Arbeitswelt“ (PSYCHE),
- "Betriebliches Gesundheitsmanagement" (BGM),
- "Beschäftigungsfähigkeit" (BFK) und
- "Veränderung der Arbeitskulturen" (VdA)
bietet als Querschnittsfachbereich allen Fachbereichen der DGUV und ganz im Sinne des Kompetenznetzwerkes fachliche Unterstützung bei der Erstellung von Publikationen wie zum Beispiel Branchenregeln an.
In einem "Leitfaden zur Einbeziehung arbeitsbedingter psychischer Belastung in den Branchenregeln" des SG Psyche wurde festgelegt, wie die psychische Belastung in Veröffentlichungen berücksichtigt werden kann, und es wurden unterschiedliche Unterstützungsmöglichkeiten (Überprüfungs-, Modul- oder Entsendelösung) dargelegt und inhaltliche Hilfestellungen angeboten.
Der Fachbereich "Gesundheit im Betrieb" arbeitet aktuell und insbesondere vor dem Hintergrund der Bestandsaufnahme an mehreren Kooperationsansätzen.
Zum einen soll die Modullösung vereinfacht werden, das heißt, Textbausteine/Musterkapitel (Baukasten) sollen zur Verfügung gestellt werden, zum Beispiel
- für Alleinarbeit,
- für repetitive und/oder monotone beziehungsweise unterfordernde Tätigkeiten und
- um die Kultur der Prävention systematisch zu integrieren – dieser Baustein des SG VdA steht als Textbaustein und als individuelle Lösung mit entsprechenden Beispielen bereits zur Verfügung.
Zum anderen wird beraten, ob und wie die Entsendelösung durchgängig praktiziert werden kann, das heißt wie Mitglieder aus dem SG PSYCHE bei der Erstellung einer Branchenregel effizient beteiligt werden könnten.
Darüber hinaus soll die Überprüfungslösung bei Neuerstellungen und anstehenden Überarbeitungen insbesondere von Branchenregeln konsequenter nachverfolgt werden.
Weitere Überlegungen sind:
- das Angebot einer Sprechstunde durch das SG PSYCHE
- die Bereitstellung einer Netzwerk-/Ansprechpersonenliste im UV-Net und im Präventionsforum Plus
- das Einbringen und damit die Sensibilisierung und Qualifizierung zur Thematik im Zuge von Veranstaltungen
- das Anpassen des Leitfadens für die Erstellung von Branchenregeln
Gefährdungen durch psychische Belastung – Konsens
Im Rahmen des GDA-Arbeitsprogramms "Psyche"“ wurden 2022 unter Berücksichtigung bestehender Vorschriften und Regeln des Arbeitsschutzes, wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie Leitlinien und Ergonomie-Normen Gestaltungsziele zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung konkretisiert.[4]
Unverändert gelten auch nach der Neuauflage die konkretisierten GDA-Empfehlungen "Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung – Empfehlungen zur Umsetzung in der betrieblichen Praxis":
"Branchen- und tätigkeitsübergreifend relevant sind die Gestaltung von Arbeitsintensität, Arbeitszeit, Handlungsspielraum und sozialen Beziehungen (insbesondere zu Führungskräften), sowie die Gestaltung der Arbeitsumgebungsbedingungen, insbesondere auch im Hinblick auf Lärm und Gefahrstoffe. Diese Faktoren sind grundsätzlich in der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen."
Arbeitsanforderungen und -bedingungen, bei denen von einer Gefährdung durch psychische Belastung auszugehen ist,[5] werden nachstehend für die oben genannten Gestaltungsbereiche beschrieben (siehe Tabelle 1).
Gänzlich neu an der aktualisierten Auflage ist, dass für jeden der oben genannten Gestaltungsbereiche nun auch Gestaltungsanforderungen/-ziele genannt werden, die tätigkeits- und branchenübergreifend gültig sind und bei der Ableitung von Maßnahmen unterstützen sollen.
Beispielsweise sind Arbeitsaufgaben gut gestaltet, wenn sie
- mehrere Aspekte einer Aufgabe beinhalten, zum Beispiel vorbereitende, ausführende und/oder kontrollierende Tätigkeiten,
- von den Beschäftigten als ein bedeutsamer Beitrag zum Arbeitsergebnis/-system erkannt und verstanden werden können,
- einen angemessenen Grad an Handlungs- und Entscheidungsspielraum hinsichtlich Tempo, Vorgehensweise und Vorrang von Aufgaben ermöglichen,
- den Einsatz und die Entwicklung einer Vielfalt von bestehenden Fertigkeiten, Begabungen, Tätigkeiten und Bewegungen ermöglichen und dabei den Voraussetzungen der Beschäftigten entsprechen,
- Möglichkeiten für die Entwicklung und den Erwerb neuer Fertigkeiten schaffen (zum Beispiel durch Qualifikation und/ oder Lernen in der Arbeit),
- ergonomische Standards bei der Gestaltung von taktgebundener Arbeit berücksichtigen.
Gute Arbeitsaufgabengestaltung bedeutet auch, dass
- die für die Erledigung notwendigen Informationen rechtzeitig, verständlich, der Situation angemessen und in geeigneter Form zur Verfügung gestellt werden,
- emotional überfordernde Situationen und traumatische Ereignisse so weit wie möglich verhindert werden,
- Beschäftigte vor Gewalt, Aggressionen, Bedrohungen und Übergriffen durch andere Personen (zum Beispiel durch Kunden/Kundinnen, Patienten/Patientinnen, Schüler/Schülerinnen, Lieferanten/Lieferantinnen) geschützt werden,
- Unterstützungs- und Bewältigungsmöglichkeiten zum Umgang mit emotional belastenden und traumatischen Ereignissen (zum Beispiel Notfallmanagement, Nachsorge) bestehen.
Ausblick
Es gilt, die Berücksichtigung der psychischen Belastung im Vorschriften- und Regelwerk der gesetzlichen Unfallversicherung zu verbessern.
Mit der geänderten Zuordnung der Gestaltungsbereiche[6] in den GDA-Empfehlungen hat man erreicht, für jeden Gestaltungsbereich auch Gestaltungsanforderungen beziehungsweise -ziele zu formulieren – das soll für mehr Klarheit sorgen. Eine Erläuterung dazu ist im Rahmen der DNBGF-Online-Reihe (Deutsches Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung) angedacht.
Der ASGA hat in seiner konstituierenden Sitzung am 16. September 2022 die Empfehlung zur Erstellung einer staatlichen Regel zur psychischen Belastung angenommen. Die gesetzliche Unfallversicherung wird sich in die Erstellung dieser Regel mit ihrer Fachkompetenz einbringen.
Zudem setzt sich der Fachbereich "Gesundheit im Betrieb" bereits heute dafür ein, dass die psychische Belastung im Regelwerk der gesetzlichen Unfallversicherung einheitlich und konsequent berücksichtigt wird, und hat in diesem Beitrag verschiedene Lösungsmöglichkeiten dafür aufgezeigt.