Beitrag und Grenzen der Normung im betrieblichen Arbeitsschutz

Vor dem Hintergrund nationaler, europäischer und internationaler Entwicklungen entstehen immer mehr Normen mit Bezug zum Arbeitsschutz. Dabei handelt es sich um Produktnormen, zunehmend jedoch auch um Normen im Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes. Wie kann ein Zusammenspiel zwischen dem Regelwerk des Staates und der Unfallversicherungsträger sowie der Normung gelingen?

Wenn es um Normung im Arbeitsschutz geht, muss zwischen den Bereichen „Beschaffenheit von Produkten“ und „betrieblicher Arbeitsschutz“ unterschieden werden.

Harmonisierte Normen sind auf europäischer Ebene ein wichtiges Mittel, um Anforderungen zur Beschaffenheit von Produkten zu konkretisieren und damit einen einheitlichen europäischen Binnenmarkt zu erreichen. Damit werden auch Produkte erfasst, die bei der Arbeit Verwendung finden.[1] Neben den Verordnungen und Richtlinien zur Beschaffenheit von Produkten hat der europäische Gesetzgeber Richtlinien zur Gewährleistung von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erlassen.[2] Im Gegensatz zur Produktnormung ist nicht vorgesehen, die Mindestanforderungen in diesen Arbeitsschutzrichtlinien durch Normen zu konkretisieren. Bei Normen, die dennoch in diesem Bereich erarbeitet werden, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie die grundlegenden Anforderungen der betreffenden Binnenmarktrichtlinien erfüllen.

Entsprechend den unterschiedlichen Rollen von Normung auf europäischer Ebene wird auch in Deutschland danach unterschieden, ob es sich um Anforderungen an ein Produkt beziehungsweise eine Produktgruppe handelt oder ob die Gewährleistung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit berührt ist. Für Letztgenanntes gilt: Arbeitsschutzvorschriften werden grundsätzlich durch die Verordnungen und das untergesetzliche Regelwerk des Staates sowie durch das Vorschriften- und Regelwerk der Unfallversicherungsträger konkretisiert und nicht durch Normen.

Trotz dieser grundsätzlichen Unterscheidung existieren jedoch auch Normen im Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes. Hilfreiche Normen legen beispielsweise Begriffe, Definitionen oder Zeichen (terminologische Normen) oder Prüf-, Mess-, Analyse-, Probenahmeverfahren oder statistische Methoden (Sicherung der Vergleichbarkeit) fest. Es kann jedoch festgestellt werden, dass die Fülle der Normen, die den Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes berühren, auch darüber hinaus zunimmt.

Pro und Kontra von Normen im betrieblichen Arbeitsschutz

Die Gestaltungsmacht der Arbeitsschutzfachleute der gesetzlichen Unfallversicherung sowie der Sozialpartner ist im Vorschriften- und Regelwerk der Unfallversicherungsträger und des Staates wesentlich größer als im allgemeinen Normungssystem. Denn bei der Erstellung von Normen trifft das spezifische Präventionswissen auf verschiedene Interessen anderer Kreise, darunter beispielsweise Hersteller, Verbraucherinnen und Verbraucher, Handel, Hochschulen, Forschungsinstitute, Behörden oder Prüfinstitute. Dadurch ist die angemessene Abbildung des Arbeitsschutzes in Normen nicht garantiert. Diese Garantie können auch die Instrumente zur Qualitätssicherung für Normen nicht in jedem Fall gewährleisten. Hinzu kommt, dass durch die Verwendung von Normen Kosten entstehen.

Auf der anderen Seite steckt in Normen viel Fachwissen, das auch zur Arbeitssicherheit und zum Gesundheitsschutz beiträgt. Ziehen der Staat und die gesetzliche Unfallversicherung dieses Fachwissen im eigenen Vorschriften- und Regelwerk heran, kann dessen Erarbeitung wesentlich beschleunigt werden. Wenn eine Beziehung der Regelwerke zu geeigneten Normen hergestellt wird, eröffnet sich zudem das Potenzial eines möglichst schlanken Vorschriften- und Regelwerks.

Wann wird im betrieblichen Arbeitsschutz genormt?

Das Vorschriften- und Regelwerk des Staates und der Unfallversicherungsträger hat Vorrang gegenüber Normen. Wenn dennoch Normen geplant sind, haben sich Vertreterinnen und Vertreter von Bund und Ländern, der gesetzlichen Unfallversicherung, der Sozialpartner und der Normungsinstitute in Deutschland auf Grundsätze verständigt, wann eine Erarbeitung von Normen hilfreich sein kann. Festgehalten wurden diese erstmals 2014 im „Grundsatzpapier zur Rolle der Normung im betrieblichen Arbeitsschutz“.

Im Wesentlichen geht es darum, dass die für den Arbeitsschutz relevanten Kreise für die einzelnen Themen und Normungsvorhaben gemeinsam beraten, ob eine Norm sinnvoll sein könnte. Die Plattform zur Beratung und Entscheidung darüber besteht in der Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN), in der sich der Bund, die Länder, die Sozialpartner und die gesetzliche Unfallversicherung sowie das Deutsche Institut für Normung (DIN) zusammengeschlossen haben. Beraten und entschieden wird anhand von Leitfragen, die einerseits Überschneidungen und Doppelregelungen mit dem Vorschriften- und Regelwerk des Staates und der Unfallversicherungsträger aufdecken sollen und andererseits hinterfragen, ob die geplante Norm für die betriebliche Praxis hilfreich ist und qualitätsgesichert erstellt werden kann – beispielsweise, indem sich Expertinnen und Experten der gesetzlichen Unfallversicherung an der Erstellung der Norm beteiligen.[3] Das Ergebnis der Beratungen kann sein, dass Normvorhaben abgelehnt werden oder dem jeweiligen Projekt eingeschränkt beziehungsweise vollständig zugestimmt wird.

Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN)

Die KAN besteht seit 1994 und ist Ansprechpartnerin bei technischen und politischen Aspekten des Arbeitsschutzes in Normen und ähnlichen Dokumenten. In der KAN treffen sich Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer, des Bundes und der Länder, der gesetzlichen Unfallversicherung sowie des DIN, um ihre Interessen zu bündeln. Die KAN bringt diese gemeinsame Arbeitsschutzposition in die zuständigen Normungsgremien sowie weitere relevante Ausschüsse ein und informiert die interessierte Öffentlichkeit.

Die Arbeit der KAN wird von einer Geschäftsstelle mit derzeit 26 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt.

Das Engagement in der Normung ist ein wichtiger Beitrag zur Prävention

Interview mit Angela Janowitz, Geschäftsführerin der Kommission Arbeitsschutz und Normung

Frau Janowitz, wenn es um Normung und Arbeitsschutz geht, wird in Deutschland grundsätzlich zwischen Produktnormung und Normung im betrieblichen Arbeitsschutz unterschieden. Welche Bedeutung hat diese Unterscheidung?

Janowitz: Wird eine Produktnorm erarbeitet, sind alle Kreise aufgerufen, darin gemeinsam ein hohes Schutzniveau zu definieren – und das europäisch oder sogar international. Beim betrieblichen Arbeitsschutz ist es hingegen den nationalen Regelsetzern – dem Staat und den Unfallversicherungsträgern – vorbehalten, Anforderungen festzulegen. Diesen Regelungsspielraum möchten wir erhalten. Wenn es hier im Einzelfall Normprojekte geben sollte, ist die Frage: Kann eine Norm, zum Beispiel zur Messung von Lärm am Arbeitsplatz, hilfreich für den Arbeitsschutz sein oder sollte sie verhindert werden?

Die KAN setzt sich aus Mitgliedern verschiedener Institutionen zusammen. Vertreten sind die Sozialpartner, der Staat, die gesetzliche Unfallversicherung und das DIN. Welchen Vorteil hat diese Zusammensetzung und welche Arbeitsprozesse haben sich bewährt?

Janowitz: Immer neue Normen zu immer neuen Themen erfordern, dass man sich darüber klar wird: Ist der Arbeitsschutz betroffen und was braucht er an dieser Stelle? In diesem Prozess sparen die Mitglieder der KAN Ressourcen, weil die KAN-Geschäftsstelle für alle Kreise die Normung und die damit verbundene Rechts- und Regelsetzung beobachtet – auch europäisch und international. Unsere Arbeitsschutzkreise haben damit einen verbesserten Zugang zur Normung und nutzen die KAN als Informationsquelle, Moderator und gemeinsames Sprachrohr. Schließlich hat die gebündelte Position mehr Gewicht als Einzelpositionen.

Wenn wir neue Themenfelder aufbereiten, läuft das beispielsweise wie bei smarter PSA für Feuerwehrleute. Hier geht es um Detektoren an der Kleidung, die zum Beispiel die Sauerstoffsättigung im Blut, die Körpertemperatur oder den Puls messen, aber auch um weitere Sensoren. Wir haben unsere KAN-Kreise informiert und Feuerwehrleute miteinbezogen. Dabei kam heraus: Wir brauchen keine digitalen Spielereien, sondern die elementaren sicherheitsrelevanten Funktionen. Diese müssen absolut verlässlich sein. Das Ergebnis transportieren wir dann in die Normung und die damit verbundene Rechtssetzung.

In anderen Fällen geben wir zum Beispiel Gutachten in Auftrag, um eine Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Oder wir veranstalten Fachgespräche, um Bedarfe zu sammeln und Positionen zu finden.

Es hat sich bewährt, dass der Arbeitsschutz so früh wie möglich im Normungsprozess ansetzt. Wenn eine Norm schon in der öffentlichen Umfrage ist, treffen wir mit unserem Anliegen auf wenig Verständnis. Deswegen informiert das DIN die KAN-Geschäftsstelle frühzeitig über alle neuen Projekte, die wir soweit möglich bewerten und über die wir beispielsweise die betroffenen Fachbereiche oder Sachgebiete der DGUV informieren.

Angela Janowitz, Geschäftsführerin der Kommission Arbeitsschutz und Normung | © Bild: KAN/Florian Janowitz
Angela Janowitz, Geschäftsführerin der Kommission Arbeitsschutz und Normung ©Bild: KAN/Florian Janowitz

Die EU-Kommission hat eine Standardisierungsstrategie vorgestellt, die auf den Ausbau der europäischen Führungsrolle in der internationalen Normung abzielt. Welche Entwicklungen haben zu der geplanten Intensivierung geführt? Welche weiteren Tendenzen beobachten Sie?

Janowitz: Normung kann nicht nur als technologie- und wirtschaftspolitisches, sondern auch als machtpolitisches Instrument gesehen werden. Wer die Norm schreibt, hat den Markt – das wissen auch andere Teile der Welt. Beispielsweise hat China gerade mit viel Aufwand das internationale Sekretariat für Lithium übernommen – ein extrem wichtiges Element etwa für Batterien und damit für künftige Energiemärkte. Die EU will sich nicht abhängen lassen und ebenfalls gerade in neuen Technologien die Standards setzen. Ein anderer Aspekt ist, dass Normen auch grundlegende Werte wie Datenschutz, Menschenrechte oder Überwachung von Personen adressieren könnten. Die EU-Kommission will verhindern, dass diese Werte durch internationale Normen aufgeweicht werden. Für uns zählt dazu auch, hohe Sicherheitsanforderungen an Produkte zu erhalten.

Und wir beobachten Tendenzen, die unsere nationalen Regelungsspielräume betreffen. So wird Normung in Richtung von Sozialstandards oder im Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes ausgeweitet. In einigen Bereichen verschwimmt zudem zunehmend die Hersteller- und Betreiberverantwortung. Wer ist wann der Betreiber, wann der Hersteller, wenn etwa eine Firma mit einem 3-D-Drucker selbst Ersatzteile herstellt? Oder was ist, wenn die Software einer Maschine vom Softwarehersteller aktualisiert wird? An wen richten sich die Normanforderungen zur Sicherheit der Informationstechnik? Werden auch der Betreiber und der betriebliche Arbeitsschutz adressiert? Damit muss die KAN sich in Zukunft auseinandersetzen.

Wie nimmt die KAN die fachliche Arbeit der gesetzlichen Unfallversicherung im Bereich Normung wahr? Was bedeuten die Entwicklungen in der Normung für das Engagement der gesetzlichen Unfallversicherung?

Janowitz: Die Mitarbeit der Expertinnen und Experten der gesetzlichen Unfallversicherung ist die unerlässliche Säule in der arbeitsschutzrelevanten Normung. Ohne diese Expertise, aber auch die anderer Arbeitsschutzakteure würde die Normung weitestgehend Kreisen überlassen, deren vorrangiges Ziel ein anderes ist als das der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes. Die KAN kann politisch aktiv werden, kann fachlich aktiv werden, wo es „brennt“ und einzelne Fachleute nicht mehr weiterkommen, kann Informationen bereitstellen oder Personen zusammenbringen. Aber die Kernnormungsarbeit leisten die einzelnen Expertinnen und Experten. In diesem Engagement in der Normung sehe ich einen sehr wichtigen Beitrag zur Prävention.

Die Aufgaben werden zukünftig allerdings nicht weniger. Was die bevorstehenden Herausforderungen betrifft, darf die gesetzliche Unfallversicherung nicht lockerlassen! Das eine ist das tägliche „Dranbleiben“ an den einzelnen und auch neuen Normungsthemen. Das andere ist, gemeinsam in der KAN Entwicklungen kritisch zu begleiten und sich zu positionieren. Es gilt ständig auszuloten, was Normung kann und wo ihre Grenzen sind.

Das Interview führte Finja Meyer, DGUV.

Beispiele für die Arbeit der KAN

Beim Thema mobile anschlussfreie Toilettenkabinen (unter anderem auf Baustellen) besteht ein Konflikt zwischen einer Norm und einer staatlichen Regel, der ASR A4.1 „Sanitärräume“. Hier hat sich die KAN wegen der inhaltlichen Überschneidungen sehr deutlich gegen die Norm ausgesprochen.

Thema Erdöl-/Erdgas-Extraktion in arktischer Umgebung: Die KAN hat die Norm zusammen mit dem zuständigen Sachgebiet der DGUV bewertet. Die Entscheidung war, dass die Norm aufgrund der geringen Relevanz für Deutschland weder verhindert werden noch dabei aktiv mitgearbeitet werden muss. Zudem war sie im Entwurfsstadium auch inhaltlich unproblematisch.

Bereich Verfahrensregeln in der Veranstaltungstechnik: Hier arbeiten Vertretungen der Unfallversicherungsträger im zuständigen Normenausschuss mit, sodass die Chance besteht, die Kohärenz im Regelwerk sicherzustellen.