Dürfen ungünstige Änderungen der Rechtsprechung zum Nachteil der Betroffenen werden?
Ein nach dem Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO) noch anzuerkennender Wegeunfall, wonach Versicherte auch während der polizeilichen Schadensaufnahme an der Unfallstelle noch unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung standen, führt im Falle einer Verschlimmerung der Unfallfolgen auch unter der nunmehr geänderten Rechtsprechung zu einem Anspruch auf eine höhere Verletztenrente.
§ BSG, Urteil vom 30.03.2023 – B 2 U 5/21 R
Es geht um die Erhöhung der Verletztenrente aufgrund eines im Dezember 1983 von der Klägerin erlittenen Arbeitsunfalls auf dem Heimweg von ihrem Arbeitsort. Nach einem Auffahrunfall an einer Ampel fuhr ein weiteres Fahrzeug auf die Unfallstelle auf, als die Versicherte gerade im Gespräch mit hinzugerufenen Polizeibeamten war. Dabei wurde die Versicherte am linken Sprunggelenk verletzt. Die beklagte Berufsgenossenschaft erkannte mit Bescheid vom 20. September 1984 einen Arbeitsunfall an und bewilligte eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von zuletzt 20 vom Hundert.
Ab November 2015 betrug die MdE 30 vom Hundert aufgrund der Verschlimmerung der Unfallfolgen durch eine Verminderung der Bewegungsfähigkeit des linken oberen Sprunggelenks wegen einer hinzugetretenen Einsteifung des unteren Sprunggelenks. Den entsprechenden Antrag der Klägerin auf Erhöhung der Verletztenrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. November 2016 (Widerspruchsbescheid vom 3. März 2017) ab und stellte fest, dass die Bescheide vom 20. September 1984 und 19. September 1985 rechtswidrig gewesen seien, weil die Anerkennung eines Arbeitsunfalls hätte abgelehnt werden müssen. Da diese Bescheide wegen Zeitablaufs nicht zurückgenommen werden könnten, verbleibe es jedoch bei der Verletztenrente in der zuletzt festgestellten Höhe. Eine Erhöhung sei auch künftig ausgeschlossen. Während das Sozialgericht (SG) die Bescheide aufhob und der Klage auf Gewährung einer Rente nach einer MdE von 30 vom Hundert stattgab, da das Warten am Unfallort im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe und damit als Arbeitsunfall anzuerkennen sei, gab das Landessozialgericht (LSG) der beklagten Berufsgenossenschaft recht und wies die Klage ab. Es habe sich um eine mehr als geringfügige Unterbrechung des versicherten Weges gehandelt, weshalb auch nach damaligem Recht eine versicherte Tätigkeit nach Warten auf die Polizei und bei dem Gespräch mit den eingetroffenen Beamten nicht mehr gegeben war. Deshalb dürfe nach § 48 Abs. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) keine höhere Leistung auch bei einer Änderung zugunsten der Betroffenen zuerkannt werden.
Die wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassene Revision führte zur Aufhebung des klageabweisenden Urteils des LSG und zur Zurückweisung der Berufung gegen das stattgebende Urteil des SG. Zwar hält auch das Bundessozialgericht (BSG) an seiner früheren Entscheidung fest, dass während einer polizeilichen Unfallaufnahme kein Schutz durch die gesetzliche Unfallversicherung besteht (Urteil des BSG vom 17. Februar 2009 – B 2 U 26/07 R), da hier die Handlungstendenz der versicherten Person zum Unfallzeitpunkt nicht auf die Fortsetzung des versicherten Weges, sondern auf die Wahrung eigener Schadensersatzinteressen gerichtet sei. Daran ändere auch die nach § 142 Strafgesetzbuch (StGB) – „Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort“ – strafbewährte Verpflichtung zum Abwarten an der Unfallstelle nichts, da auch diese Verpflichtungen allein der Sicherung begründeter und der Abwehr unberechtigter zivilrechtlicher Ansprüche dienten. Diese Rechtsprechung sei aber erst unter Geltung des § 8 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) entstanden, während unter Geltung des § 550 RVO das Warten nach dem ersten Auffahrunfall hinter dem Fahrzeug der Versicherten noch in einem sachlichen Zusammenhang mit dem versicherten Zurücklegen dieses Weges vom Ort ihrer versicherten Tätigkeit gestanden habe. Nach dem Wortlaut des § 550 RVO standen Versicherte unter Versicherungsschutz, solange sie sich mit ihrem Fahrzeug von ihrer Arbeitsstätte aus auf ihre Wohnung zubewegten. Dieser Versicherungsschutz bestand auch nach dem Aussteigen am Unfallort und während des Wartens hinter dem Pkw fort. Die Klägerin sei durch die Auffahrunfälle zwar gehindert gewesen, sich weiter in Richtung auf ihr Zuhause fortzubewegen, habe jedoch die zurückzulegende Wegstrecke nicht verlassen. Anhaltspunkte für eine Änderung ihrer Handlungstendenz, sodass sie nicht mehr auf das Erreichen dieses Zieles gerichtet gewesen sei, haben nicht bestanden. Das dem widersprechende Urteil des BSG vom 17. Februar 2009, wonach die Regulierungsgespräche nach einem Unfall nicht mehr im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stünden, sei vor dem Hintergrund des enger gefassten Wortlauts des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ergangen, wonach nunmehr nur noch der „unmittelbare Weg“ vom und zum Ort der versicherten Tätigkeit unter Versicherungsschutz steht. Auch stehe einer Übertragung einer geänderten, für die Betroffenen nachteiligen Rechtsprechung auf Altfälle bei der Anwendung des § 48 Abs. 3 SGB X der Rechtsgedanke des § 48 Abs. 2 SGB X entgegen.
Im Kern ist das BSG zwei Argumentationslinien für die Zuerkennung der höheren Verletztenrente gefolgt: Entweder waren die damaligen Bescheide vor dem Hintergrund eines vom damaligen Gesetzeswortlaut weiteren Anwendungsbereichs des Wegeunfallversicherungsschutzes rechtmäßig. Dann ergibt sich kein Raum für die Anwendung des § 48 Abs. 3 SGB X, der einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt voraussetzt, der wegen der zeitlichen Beschränkungen des § 45 Abs. 2 SGB X nicht mehr aufgehoben werden kann. Wenn man aber wie der Gesetzgeber davon ausgeht, dass mit § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII keine Änderung (und schon gar nicht eine Einschränkung) des Wegeunfallversicherungsschutzes bezweckt gewesen ist (vgl. amtliche Begründung zum Regierungsentwurf des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes – UVEG, BT-Drs. 13/2204, S. 77: „[…] entsprechend dem geltenden Recht […]; die Rechtsprechung zum direkten Weg wird übernommen […]“), so stellt sich die Frage, inwieweit sich eine für Betroffene nachträgliche nachteilige Änderung der Rechtsprechung zu deren Ungunsten auswirken darf.
Nach Auffassung des BSG ist § 48 Abs. 2 SGB X zu entnehmen, dass sich eine nachträglich ungünstigere Rechtsprechung nicht zu ihrem Nachteil auswirken dürfe. Aus § 48 Abs. 2 SGB X ergibt sich aber, dass ein Verwaltungsakt im Einzelfall mit Wirkung für die Zukunft (auch dann) aufzuheben ist, wenn der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes in ständiger Rechtsprechung nachträglich das Recht anders auslegt als die Behörde bei Erlass des Verwaltungsaktes und sich dieses zugunsten der oder des Berechtigten auswirkt. Hier jedoch möchte das BSG den ehemals – unter Berücksichtigung damaliger Rechtsprechung – als rechtmäßig erkannten Verwaltungsakt für immer als rechtmäßig behandeln und in der Folge eine tatsächliche Änderung dann zugunsten der betroffenen Person nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 SGB X berücksichtigen, weshalb es der Klage auf die (höhere) Verletztenrente stattgab. Ob dies mit § 48 Abs. 3 SGB X im Einklang steht, der wohl auf den Zeitpunkt des Erlasses der (Ursprungs-)Entscheidung – aber im Sinne der heutigen Rechtsauffassung – abhebt, erscheint durchaus fragwürdig. Man wird in anderen Fällen einer für Bürgerinnen und Bürger nachteiligen Änderung der Auslegung durch die Gerichte abwarten, ob auch hier dieser Linie gefolgt werden wird.
Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.