Nichtverhindern des aktiven Umgehens von Sicherheitsvorkehrungen an einer Maschine als grob fahrlässiger Pflichtenverstoß
Der Aufwendungsersatzanspruch nach den §§ 110, 111 SGB VII setzt die mindestens grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls durch Haftungsprivilegierte voraus. Stets ist eine Einzelfallentscheidung zu treffen, ob dies der Fall war. Die hier besprochenen Entscheidungen zeigen, dass Sicherheitsvorkehrungen auch in die Praxis umgesetzt und kontrolliert werden sollten.
Urteil des LG Stuttgart vom 16.09.2022, Az. 29 O 75/21 und Hinweisbeschluss des OLG Stuttgart vom 12.06.2023, Az. 1 U 175/22
In diesem Rechtsstreit nahm die klagende Berufsgenossenschaft anlässlich eines Arbeitsunfalls eines ungelernten Druckers vom 5. März 2018 die Arbeitgeberin (eine GmbH), deren Geschäftsführer, deren Produktionsleiter und deren Vorarbeiter als für die Arbeitssicherheit Verantwortliche in Regress gemäß den §§ 110, 111 Sozialgesetzbuch (SGB) VII. Der durch den Unfall Geschädigte hatte beim Reinigen einer Druckmaschine eine massive Quetschverletzung der rechten Hand erlitten, in deren Folge eine Amputation mehrerer Finger erforderlich wurde. Zwar gab es eine Gefährdungsbeurteilung, aus der hervorging, dass die später unfallursächliche Maschine nur in Gang gesetzt oder betrieben werden darf, wenn alle Sicherheitseinrichtungen intakt sind. Es gab zudem die Anweisung, dass Reparatur- und Wartungsarbeiten nur durch Fachpersonal und bei ausgeschalteter Maschine erfolgen sollen. Die Praxis wich allerdings deutlich von diesen auf dem Papier vorhandenen Sicherheitsvorkehrungen ab. Die Schutztüren der Druckmaschine waren über eine erhebliche Zeitspanne von mindestens einem Jahr dahingehend manipuliert worden, dass die Maschine auch bei geöffneten Schutztüren nicht nur im Wartungsmodus lief, sondern im üblichen Produktionsmodus. Dies macht aufgrund der unterschiedlichen Geschwindigkeiten der sich drehenden Walzen einen großen Unterschied hinsichtlich des Gefahrenpotenzials aus.
Das erstinstanzliche Gericht, das Landgericht (LG) Stuttgart, hat durch Urteil vom 30. September 2022 der Klage der Berufsgenossenschaft auf Aufwendungsersatz gemäß den §§ 110, 111 SGB VII in vollem Umfang stattgegeben und trotz der Anweisungen an alle Arbeitnehmer, bei laufendem Betrieb nicht in die Maschine zu fassen, ein Mitverschulden des während eines Reinigungsvorgangs in die Maschine fassenden Geschädigten verneint. Dagegen wandten sich die Beklagten, die im Berufungsverfahren weiterhin eine volle Klageabweisung begehrten. Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart hat diesem Ansinnen der im Unternehmen für die Arbeitssicherheit Verantwortlichen eine klare Absage erteilt. In einem Beschluss des OLG Stuttgart vom 12. Juni 2023 wurde angekündigt, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen, wenn diese die Berufung nicht zurücknehmen. Die grobe Fahrlässigkeit der Beklagten begründet das Gericht in diesem Beschluss, über die erstinstanzlichen Ausführungen hinausgehend, überzeugend wie folgt: Nach § 3 Abs. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) ist ein Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Hierfür hat er bereits vor dem ersten Einsatz von Arbeitsmitteln die mit diesen verbundenen Gefährdungen zu beurteilen und auf der Grundlage dieser Gefährdungsbeurteilung Schutzmaßnahmen zu treffen, § 5 Abs. 1 ArbSchG, § 3 Abs. 1 Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV). Weiterhin hat er zu deren Umsetzung nicht nur Prüfungen zu veranlassen. Der Arbeitgeber ist gemäß § 3 Abs. 6 BetrSichV auch gehalten, bereits mit der Gefährdungsbeurteilung Art und Umfang sowie Fristen für diese Prüfungen festzulegen, da nur so die sichere Verwendung des Arbeitsmittels im laufenden Betrieb gewährleistet werden kann. Ergänzend hierzu hat der Arbeitgeber dafür zu sorgen, dass vorhandene Schutzeinrichtungen funktionsfähig sind und tatsächlich verwendet werden. Einer Manipulation von Schutzeinrichtungen beziehungsweise deren Umgehen hat er entgegenzuwirken (§ 6 Abs. 2 BetrSichV).
Da die Maschine bei geöffneter Schutzhaube im Unternehmen regelmäßig betrieben wurde, was diverse Zeugen überzeugend bestätigen konnten, war die Manipulation der Maschine für den eingetretenen Schaden auch kausal. Den Beklagten ist diese Manipulation auch anzulasten, und zwar unabhängig davon, ob das Umgehen der Schutzvorrichtung von einem der Beklagten konkret angewiesen worden ist oder nicht – dies war erstinstanzlich umstritten). Denn dass Extremitäten bei dem Betrieb einer Druckmaschine mit offener Schutzhaube in die Walzen gelangen können und die Maschine hierdurch zu einer tödlichen Gefahr für die Maschinenbediener werden kann, ist nach Ansicht des OLG Stuttgart selbst für eine technisch fachunkundige Person einleuchtend. Trotz dieser immensen Gefährdungslage war jedoch nicht einmal ansatzweise erkennbar, was die Beklagten als Geschäftsführer, Produktionsleiter und Vorarbeiter und damit für die Arbeitssicherheit im Betrieb der Arbeitgeberin Zuständige unternommen haben, um einer derartigen Manipulation der herstellereigenen Sicherheitsvorkehrungen im laufenden Betrieb auf Dauer entgegenzuwirken. Allein der in der Gefährdungsbeurteilung aufgenommene Hinweis auf die Erforderlichkeit regelmäßiger Prüfungen der Sicherheitseinrichtungen und Schutzverkleidungen genügt nicht. Die Beklagten hätten vielmehr klar definieren müssen, in welchen zeitlichen Abständen und auf welche Art und Weise die Funktionsfähigkeit der maschineneigenen Sicherheitseinrichtungen hätte überprüft werden müssen. Da es insoweit nicht nur um die Einhaltung elementarer Sicherungspflichten geht, sondern im Betrieb Sicherheitsvorkehrungen aktiv umgangen worden sind, ist der Pflichtenverstoß der Beklagten auch als besonders gravierend und subjektiv nicht entschuldbar einzustufen.
Ein etwaiges Mitverschulden des Geschädigten tritt komplett hinter dem schweren Verschulden der Beklagten zurück.
Diese gerichtlichen Entscheidungen dürften über den konkreten Einzelfall hinaus deswegen für zukünftige Regressverfahren interessant sein, weil klar herausgearbeitet wird, dass selbst ein den für die Arbeitssicherheit Verantwortlichen angeblich nicht bekanntes aktives Manipulieren von Schutzeinrichtungen an Maschinen wegen eines Verstoßes gegen § 6 Abs. 2 BetrSichV eine Verantwortlichkeit im Sinne der §§ 110, 111 SGB VII begründen kann. Denn es ist die haftungsbegründende Pflicht der genannten Verantwortlichen, die Arbeitssicherheitsbestimmungen nicht nur theoretisch vorzuhalten, sondern sie tatsächlich in die Praxis umzusetzen.
Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.