Zur Darlegungslast hinsichtlich der Erwerbsobliegenheiten von Geschädigten

Erwerbsobliegenheiten von Geschädigten eines fremdverschuldeten Unfalls dürfen nicht – nur um einem Schädiger entgegenzukommen – überspannt werden. Auch dürfen die Anforderungen an eine sekundäre Darlegungslast der Sozialversicherungsträger (SVT) nicht dahin gehend überspannt werden, dass sie dieser Darlegungslast in der Praxis nicht mehr nachkommen können.

Urteil des BGH vom 24.01.2023, Az. VI ZR 152/21

Bei schweren fremdverschuldeten Unfällen sind Geschädigte häufig dazu gezwungen, ihren bisherigen Arbeitsplatz aufzugeben. Liegen Jahre oder Jahrzehnte vor dem möglichen Altersrenteneintritt, stellt sich für die Geschädigten die Frage, ob sie einer anderen Erwerbstätigkeit nachgehen können, gegebenenfalls in Teilzeit, oder ob sie unfallbedingt aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

Die Antwort auf diese Frage hat sowohl für die Ansprüche der Geschädigten als auch für die Regress fordernden Leistungsträger erhebliche Auswirkungen. Nicht nur Sozialversicherungsträger, die für die Geschädigten Leistungen erbringen, sondern auch die Haftpflichtversicherer der Schädiger holen zwecks Beantwortung dieser Fragen medizinische Gutachten und Stellungnahmen kompetenter Institute ein. Das praktische Problem liegt auf der Hand: Je nach konkreter unterschiedlicher Fragestellung und je nach konkreter Interpretation der schriftlichen Ergebnisse existieren verschiedene, teils gravierend divergierende Antworten. Die Geschädigten vertreten ebenso wie die leistenden Sozialversicherungsträger die Auffassung, es liege ein unfallbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vor, während die Schädiger und deren Haftpflichtversicherer der Meinung sind, die Geschädigten seien gegebenenfalls wenigstens stundenweise in der Lage, noch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Wenn sie Letzteres nicht tun, obwohl sie dazu in der Lage seien, müsste ihnen fiktiv ein Einkommen auf den Schaden angerechnet werden – mit der Folge einer Anspruchskürzung bis auf null.

Im konkreten Fall wurde der Haftpflichtversicherer des Schädigers in einem Prozess der Geschädigten verurteilt, den Erwerbsschaden auszugleichen, der oberhalb der Rente des Sozialversicherungsträgers (SVT) lag. Dem lag die Erkenntnis einer auf Dauer aufgehobenen Erwerbsfähigkeit der Geschädigten zugrunde. Dem SVT gegenüber beharrte der Haftpflichtversicherer des Schädigers indes darauf, die Geschädigte habe ihre Erwerbsobliegenheit verletzt und könne trotz unfallbedingter Einschränkungen stundenweise arbeiten. Weil der SVT nicht dargelegt habe, wie viele Stunden die Geschädigte hätte arbeiten können und welches Entgelt sie fiktiv erzielt hätte, sei im Regressprozess des SVT gar kein Anspruch nachgewiesen.

Während der SVT erstinstanzlich siegte, wies das Oberlandesgericht (OLG) Celle die Klage nahezu vollständig ab. Die vom SVT erhobene Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof (BGH) führte, was sehr selten vorkommt, zur Aufhebung des OLG-Urteils und Zurückverweisung.

Der BGH erteilte dem OLG Celle dabei folgende fallübergreifend für die Praxis wichtige „Segelanweisungen“:

a) Von Geschädigten, die vom Arbeitsamt aufgrund ihres Gesundheitszustandes für nicht mehr vermittlungsfähig gehalten werden, kann grundsätzlich keine weitere Eigeninitiative hinsichtlich der Aufnahme von Erwerbstätigkeit erwartet werden. Unter diesen Umständen besteht grundsätzlich auch keine weitere Darlegungslast dazu, was Geschädigte unternommen haben, um einen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten.

b) Verstoßen Geschädigte gegen die ihnen obliegende Schadensminderungspflicht, weil sie es unterlassen, einer ihnen zumutbaren Erwerbstätigkeit nachzugehen, sind die erzielbaren (fiktiven) Einkünfte auf den Schaden anzurechnen. Eine quotenmäßige Anspruchskürzung kommt grundsätzlich nicht in Betracht.

Fazit: Auch wenn ein SVT aufgrund seiner sachlich und zeitlich kongruenten Leistungen an die Geschädigten beim Anspruchsübergang nach § 116 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) keine bessere rechtliche Position als die Geschädigten selbst erwirbt und sich ein Verstoß von Erwerbsobliegenheiten der Geschädigten anspruchsmindernd auswirken kann, dürfen erstens die Erwerbsobliegenheiten der Geschädigten nicht überspannt werden, nur um einem Schädiger entgegenzukommen, und zweitens dürfen auch die Anforderungen an eine sekundäre Darlegungslast der SVT nicht so überspannt werden, dass Letztere dieser Darlegungslast in der Praxis überhaupt nicht mehr nachkommen können und ihre Regressansprüche gar nicht erfolgreich durchsetzen können. Zu Recht hat der BGH daher das Urteil des OLG Celle, das die anzuwendenden Maßstäbe nicht beachtet hatte, aufgehoben und an dieses zur Neuentscheidung zurückverwiesen.

Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.