Urteil zur Verjährungsfrist: Wann gilt ein Versicherungsfall als anerkannt?
Erstmals musste sich ein Landgericht anhand der Leistungsakte eines Unfallversicherungsträgers eine Auffassung bilden, ob die nach außen gerichtete Korrespondenz weit vor Erlass eines Rentenbescheids bereits derart als bindende Feststellung der Leistungspflicht auszulegen ist, dass die dreijährige Verjährungsfrist des § 113 Satz 1 SGB VII zu laufen begann.
§ Landgericht Mühlhausen, Grundurteil vom 09.11.2023 – Az. 6 O 172/19; Ansprüche nach § 110 SGB VII sind nicht nach § 113 SGB VII verjährt
In diesem seit Anfang 2019 anhängigen Rechtsstreit klagen zwei Sozialversicherungsträger gemeinsam, nämlich der für die Entschädigung des Unfalls zuständige Unfallversicherungsträger und der eine Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährende Rentenversicherungsträger. Beide gehen aus originärem Recht gemäß § 110 Sozialgesetzbuch (SGB) VII gegen einen Kranführer und Vorarbeiter des späteren Geschädigten einerseits und gegen den stellvertretenden Produktionsleiter andererseits vor. Der Leiharbeiter war durch ein tonnenschweres Werkzeug, das mit einem Kran angehoben werden sollte, gegen eine Wand gedrückt und beinahe zerquetscht worden. Beide Beklagte waren der Auffassung, ohnehin nicht gemäß § 110 SGB VII zu haften, weil ihnen keine grob fahrlässige Verursachung des beinahe tödlichen Arbeitsunfalls des Geschädigten vorzuwerfen sei. Zudem wandten sie sich mit dem Einwand der Verjährung gegen ihre Inanspruchnahme. Der Unfall habe sich bereits am 18. Juni 2015 ereignet, sodass die Anfang 2019 seitens der zuständigen Unfallversicherungsträgerin und die im Mai 2019 seitens der zuständigen Rentenversicherungsträgerin erhobene Klage zu spät erfolgt sei. Denn bekanntlich komme es gemäß § 113 Satz 1 SGB VII für den Verjährungsbeginn allein darauf an, wann der Unfallversicherungsträger seine Leistungspflicht bindend festgestellt hat oder ein entsprechendes Urteil rechtskräftig geworden ist. Ersteres sei oft bereits kurz nach dem Unfall der Fall.
Das erkennende Gericht hat zur Prüfung des Verjährungseinredeeinwands der Beklagten der Unfallversicherungsträgerin als Klägerin 1 auferlegt, ihre Leistungsakte vorzulegen. Dieser Aufforderung wurde nachgekommen. Obwohl aus dieser Leistungsakte, wie bei Schwerverletzten üblich, ersichtlich war, dass gewisse Kostenzusagen für Rehabilitationsmaßnahmen bereits zeitnah nach dem Unfall erfolgten, hat das erkennende Gericht erst den Rentenbescheid für den Verjährungsbeginn – und zwar sowohl für den Unfall als auch den Rentenversicherungsträger – als bindende Feststellung der Leistungspflicht im Sinne des § 113 Satz 1 SGB VII angesehen. Dies wird vom Landgericht wie folgt begründet:
„Nach § 113 SGB VII gelten für die Verjährung der Ansprüche nach den §§ 110 und 111 SGB VII die §§ 195, 199 Abs. 1 und 2, § 203 BGB entsprechend mit der Maßgabe, dass die Frist von dem Tag an gerechnet wird, an dem die Leistungspflicht für den Unfallversicherungsträger bindend festgestellt oder ein entsprechendes Urteil rechtskräftig geworden ist. Als Feststellung ist jeder Verwaltungsakt des Unfallversicherungsträgers anzusehen, der entsprechende Feststellungen enthält; auch ein vorläufiger Bescheid wird für ausreichend erachtet. Ausreichend ist, dass die Leistungspflicht nur dem Grunde nach festgestellt wird. Die Verjährung beginnt bereits dann zu laufen, wenn der Träger der Unfallversicherung von seiner Eintrittspflicht ausgehen und entsprechende Ansprüche verfolgen kann. Dieser frühere Zeitpunkt des Verjährungsbeginns rechtfertigt sich dadurch, dass er die sachliche Entsprechung zu der nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB bestimmten Voraussetzung des Kennenmüssens ohne grobe Fahrlässigkeit darstellt und sich daher an diesem Maßstab zu orientieren hat. Weitergehend wird auch eine Leistungsgewährung durch schlichtes Verwaltungshandeln für ausreichend erachtet, wenn es bewusst in der Annahme eines Versicherungsfalls vorgenommen wurde, ein förmlicher Bescheid ist nicht zwingend Voraussetzung für den Beginn der Verjährung.
Unter Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze beträgt die Verjährungsfrist drei Jahre und begann frühestens zu laufen mit dem ersten Bescheid über die Rente als vorläufige Entschädigung vom 15.06.2016, sodass spätestens zum 16.06.2019 Verjährung eingetreten wäre.
Ein früherer Verjährungsbeginn ist nicht feststellbar. Zwar ist nach dem Vorstehenden anerkannt, dass auch schlichtes Verwaltungshandeln für den Beginn der Verjährungsfrist ausschlaggebend sein kann, wenn für den Unfallversicherungsträger seine Einstandspflicht klar ist. Dass dies zu einem früheren Zeitpunkt als zu dem Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides der Fall war, ist aus der Leistungsakte nicht ersichtlich, weshalb die beweisbelasteten Beklagten hierzu beweisfällig bleiben. Die bloße Zahlung von Verletztengeld, auch über den Zeitraum der gesetzlichen Entgeltfortzahlungspflicht hinaus, die Zahlung von Fahrtkosten und die Bereitschaft, ‚zunächst … Kosten der Therapie‘ zu übernehmen, stellen keine derartige bindende Feststellung im Sinne des § 113 SGB VII dar. Auch die bloße Bezeichnung als ‚Versicherungsfall‘, die „Feststellung von Kosten“ und die ‚Kostenzusage für Rehabilitationsmaßnahmen‘ begründen keine Umstände, aus denen sich zweifelsfrei ergibt, dass für den Unfallversicherungsträger zu diesem Zeitpunkt die Einstandspflicht für den Versicherungsfall klar war.“
Entscheidungen zum Beginn der dreijährigen Verjährungsfrist des § 113 Satz 1 SGB VII sind selten. Noch seltener sind Entscheidungen dazu, wann konkret die Leistungspflicht durch den Unfallversicherungsträger wirklich objektiv bindend festgestellt wurde. Die früheren gerichtlichen Entscheidungen hierzu erschöpfen sich – ebenso wie die Kommentarliteratur – in relativ allgemein gehaltenen Obersätzen. Soweit ersichtlich, musste sich erstmals ein Zivilgericht anhand der Leistungsakte selbst eine Überzeugung davon bilden, ab wann sich der Unfallversicherungsträger selbst gebunden hat, das heißt, ab wann er sich seiner Leistungspflicht selbst bewusst war und dies derart nach außen kommunizierte, dass eine einem rechtskräftigen gerichtlichen Urteil entsprechende bindende Feststellung rechtssicher anzunehmen war. Dass dies bei einem Bescheid über Verletztenrente, und zwar auch bereits über eine Rente als vorläufige Entschädigung, der Fall ist, überrascht nicht. Wichtig und erstmals in dieser Klarheit niedergelegt sind aber die gerichtlichen Ausführungen hinsichtlich der vorherigen aus der Leistungsakte entnehmbaren, nach außen gerichteten Korrespondenz beziehungsweise dem schlichten Verwaltungshandeln der Erstattung der nach dem Generalauftrag Verletztengeld von der Krankenkasse verauslagten Verletztengeldzahlungen an den Geschädigten.
Dass die gerichtliche Entscheidung zur Haftung der beiden Beklagten dem Grunde nach gemäß § 110 Abs. 1 SGB VII auf der Linie der ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt, rundet dieses Urteil nur ab.
Daneben bestätigt dieses Urteil nochmals, dass Fragen der Ermessensentscheidung nach § 110 Abs. 2 SGB VII – Verzicht gegenüber den Schädigern, hinter denen möglicherweise keine Betriebshaftpflichtversicherung steht, die den Schaden deckt – nicht bereits im Verfahren zum Erlass eines Grundurteils zu klären sind. Vielmehr ist dies regelmäßig erst im Vollstreckungsverfahren zu klären, allenfalls bereits vorgezogen im Betragsverfahren.
Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.