Kein Haftungsprivileg gemäß § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII zwischen Bauüberwacher und Baggerführer
Die vom Bundesgerichtshof (BGH) formulierten Definitionen zum Haftungsprivileg bei gemeinsamer Betriebsstätte gemäß § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII sind sehr komplex. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat die BGH-Definition präzisiert. Es hat festgelegt, welche Teile der BGH-Definition stets Voraussetzung für das Haftungsprivileg sein müssen und welche nur als zusätzliche Einschränkungen gelten.
§ Grundurteil des Landgerichtes Frankfurt am Main vom 08.05.2023, Az. 2-10 O 273/21, sowie Beschluss des Oberlandesgerichtes Frankfurt am Main vom 26.10.2023, Az. 8 U 110/20
In diesem Zivilprozess klagte eine Berufsgenossenschaft anlässlich eines Arbeitsunfalls eines Ingenieurs, der auf einer Baustelle als Bauüberwacher tätig war und während dieser Tätigkeit von einem Zwei-Wege-Bagger an- und überfahren wurde. In der Folge erlitt er eine Teilamputation des Unterschenkels. Der Baggerführer und seine Arbeitgeberin wurden als Beklagte in diesem Regressprozess in Anspruch genommen. Der Baggerführer fuhr rückwärts, ohne sein Führerhaus in Fahrtrichtung zu drehen, ohne eine Möglichkeit zu haben, durch die Scheibe nach hinten blicken zu können, und dies bei einem ausgeschaltete Rückfahrwarnton. Ob eine Rückwärtsfahrkamera eingeschaltet war, blieb streitig. Der Bauüberwacher hatte sich bei dem etwa 50 Meter entfernt auf den Schienen befindlichen Baggerführer nicht explizit angemeldet. Allen Baufirmen und deren Beschäftigten war indes bekannt, dass mindestens zweimal am Tag Mitarbeitende der Bauüberwachungsfirma die Baustelle aufsuchen und ihrer Arbeit nachgehen. Der Bauüberwacher bewegte sich zu Fuß weg vom Bagger und wurde gleichwohl von diesem überfahren. Damit war klar, dass der Bagger zügiger als mit Schrittgeschwindigkeit rückwärts gefahren sein musste.
Die Berufsgenossenschaft entschädigt den Unfall des Bauüberwachers und nimmt die Beklagten aus gemäß § 116 Sozialgesetzbuch (SGB) X übergegangenem Recht in Regress. Die hinter dem Baggerfahrer und dessen Arbeitgeberin stehende Haftpflichtversicherung wendet ein Haftungsprivileg des Baggerfahrers gemäß § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII ein, das auch gegenüber der Arbeitgeberin des Baggerführers über ein gestörtes Gesamtschuldverhältnis zu deren Nullhaftung führe. Hilfsweise wird von den Beklagten ein anspruchsausschließendes Mitverschulden geltend gemacht.
Das Landgericht Frankfurt am Main hat in seinem Grundurteil vom 8. Mai 2023 ein Privileg wegen des Tätigwerdens auf einer gemeinsamen Betriebsstätte gemäß § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII verneint und ein Mitverschulden des Geschädigten nur in Höhe von 25 Prozent angesetzt. Diese Entscheidung – kein Haftungsprivileg – wurde damit begründet, dass der Bauüberwacher unabhängig von der konkreten Tätigkeit des Baggerführers die Baustelle inspiziert und den Baufortschritt beziehungsweise die erbrachten Leistungen und die Ordnungsgemäßheit der Baustelleneinrichtung überwacht hat. Die konkrete Tätigkeit des Baggerführers war für den Bauüberwacher und für dessen Aufgabenerfüllung ohne Bedeutung. Der Baggerführer hat seinerseits in keiner Weise mit dem Bauüberwacher bewusst und gewollt zusammengearbeitet. Beide haben schlicht nebeneinander, in keiner Weise jedoch miteinander und mit Bezug zueinander gearbeitet. Es läge zwar ein gravierendes Verschulden des Baggerfahrers vor. Gleichwohl hafte er nicht allein und zu 100 Prozent. Das Mitverschulden des Geschädigten sei nämlich mit 25 Prozent zu bewerten. Der Bauüberwacher hatte sich zwischen Bagger und einer sogenannten Baustelleneinrichtungsstelle fortbewegt, obwohl er wusste, dass der Bagger ab und zu bis zu dieser Einrichtungsstelle fährt. Deshalb wäre es für ihn geboten gewesen, sich regelmäßig zum Bagger umzudrehen – das habe er nicht getan und deshalb treffe ihn ein gewisses Mitverschulden.
Die Beklagten legten gegen dieses Grundurteil Berufung ein und verfolgten weiterhin das Ziel einer vollständigen Klageabweisung.
Das OLG Frankfurt am Main hat in einem Beschluss vom 26. Oktober 2023 den Beklagten empfohlen, ihre Berufung zurückzunehmen. Das erstinstanzliche Gericht habe zu Recht das Vorliegen einer gemeinsamen Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII verneint. Denn für die Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte ist es nach der Rechtsprechung des BGH nicht ausreichend, dass die Versicherten mehrerer Unternehmen gleichzeitig am selben Ort arbeiten, sondern dafür müssen die Aktivitäten der einzelnen Versicherten dieser Unternehmen bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sein, sich ergänzen oder unterstützen. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt.
Der BGH hat seine Definition teils mit einschränkenden Ergänzungen versehen. So soll es ausreichen, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Dies könne auch der Fall sein, wenn die von den Beschäftigten verschiedener Unternehmen vorzunehmenden Maßnahmen sich zwar nicht sachlich ergänzten oder unterstützten – aber die gleichzeitige Ausführung der betreffenden Arbeiten wegen der räumlichen Nähe eine Verständigung über den Arbeitsablauf erforderten. Zudem müssten dann aber hierzu konkrete Absprachen getroffen werden. Bei einem zeitlichen und wirklichen Nebeneinander dieser Tätigkeiten müssten solche nur bei Einhaltung besonderer beiderseitiger Vorsichtsmaßnahmen möglich sein und die Beteiligten solche vereinbaren.
Durch solche Einschränkungen soll aber der Kern der Definition der gemeinsamen Betriebsstätte unberührt bleiben. Vielmehr wollte der BGH nur deutlich machen, dass weder ein besonderer Organisationsgrad des Miteinanders erforderlich ist noch eine echte Zusammenarbeit im Sinne einer Arbeitsgemeinschaft. Eine gemeinsame Betriebsstätte liegt deshalb nicht schon dann vor, wenn – wie hier – zwei Versicherte unterschiedlicher Unternehmen bei der Arbeit räumlich aufeinandertreffen und eine Kontaktaufnahme deshalb zur Vermeidung des Unfalls sinnvoll gewesen wäre. Der BGH verweist überzeugend wiederholt darauf, dass eine gemeinsame Betriebsstätte nach allgemeinem Verständnis mehr als dieselbe Betriebsstätte ist und dass das bloße Zusammentreffen von Risikosphären mehrerer Unternehmen den Tatbestand der Norm nicht erfüllt. Parallele Tätigkeiten, die sich beziehungslos nebeneinander vollziehen, genügen ebenso wenig wie eine bloße Arbeitsberührung. Erforderlich ist vielmehr eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation. Würden Umstände wie die oben dargestellten für eine Haftungsprivilegierung nach § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII ausreichen, hätte es der komplexen Definition des BGH nicht bedurft, sondern genügt, auf die räumliche Nähe der Tätigkeiten der beiden Versicherten abzustellen.
Da es der BGH bisher unterlassen hat, einerseits die Vielzahl seiner Umschreibungen zur Definition der gemeinsamen Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII in ein Stufenverhältnis zu setzen, aus dem eindeutig ersichtlich ist, welche Voraussetzungen stets erfüllt sein müssen, um das Privileg anzunehmen, und andererseits welche seiner Formulierungen als lediglich einschränkende Ergänzungen zu verstehen sein sollen, hat dies bei der Subsumtion diverser tatsächlicher Sachverhalte unter die BGH-Definitionen bisher einen gewissen Auslegungs- und Interpretationsspielraum eröffnet. Dieser Spielraum ist durch den Beschluss des OLG Frankfurt am Main deutlich eingeengt worden, was im Sinne der Rechtsklarheit zu begrüßen ist.
Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen
des Autors/der Autorin dar.