Beinahe-Stürze frühzeitig erkennen: Neue Technologien für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz
Unfälle durch Stolpern, Ausrutschen und Stürzen gehören zu den häufigsten Arbeitsunfällen und verursachen enorme Kosten. Eine neue Studie erfasst erstmals umfassend reale Daten von gefährdeten Berufsgruppen und nutzt maschinelles Lernen, um Beinahe-Stürze frühzeitig zu erkennen und gezielte Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.
Stolpern, Rutschen und Stürzen (SRS) gehören zu den häufigsten Unfallursachen am Arbeitsplatz. Diese Vorfälle führen nicht nur zu erheblichen körperlichen Verletzungen, sondern auch zu hohen wirtschaftlichen Kosten für Unternehmen und soziale Versicherungssysteme. Besonders betroffen sind Branchen wie Verkehr, Logistik und die Stahlindustrie, in denen körperliche Arbeit unter oft schwierigen Bedingungen ausgeführt wird. Allein im Jahr 2023 wurden in Deutschland 171.976 SRS-Unfälle gemeldet, von denen sieben tödlich endeten und 2.291 zu einer Unfallrente führten.[1]
Angesichts der Häufigkeit und Schwere dieser Unfälle sind Unternehmen und Arbeitsschutzorganisationen bestrebt, Strategien zur Unfallvermeidung zu entwickeln. Dabei spielt die Erkennung von Beinahe-Stürzen eine besondere Rolle. Beinahe-Stürze sind Ereignisse, bei denen eine Person kurz vor einem Sturz steht, es aber durch Gegenmaßnahmen – etwa schnelles Reagieren oder Festhalten – gelingt, den Sturz zu verhindern. Diese Vorfälle gelten als Frühwarnsignale für ein erhöhtes Sturzrisiko und können dazu beitragen, gefährliche Situationen und/oder Arbeitsbereiche sowie gefährdete Personen zu identifizieren und präventiv zu schützen.[2][3][4]
Im Rahmen der ENTRAPon-Studie[5] wurden realistische kinematische Daten über Stolper-, Rutsch- und Sturzunfälle gesammelt. Diese Daten können die Grundlage für prädiktive Modelle bilden, die in Echtzeit auf Risiken hinweisen und somit eine proaktive Unfallvermeidung ermöglichen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf Beschäftigte gelegt, die in besonders gefährdeten Branchen tätig sind, wie zum Beispiel Paketdienste und Stahlerzeugung.
Herausforderungen bei der Erfassung von Sturzdaten
Die Erfassung verlässlicher Daten über SRS-Unfälle stellt eine große Herausforderung dar. Viele bisherige Studien fokussieren sich auf ältere Menschen, da diese bekanntermaßen ein höheres Risiko für Stürze haben.[6][7] Zwar eröffnen diese Untersuchungen wertvolle Einblicke in die Sturzmechanismen, spiegeln aber nicht die Bedingungen wider, denen jüngere, körperlich belastete Arbeitskräfte ausgesetzt sind.[8] Zudem basieren viele der bisher verfügbaren Datensätze auf simulierten Szenarien, was deren Übertragbarkeit auf reale Arbeitssituationen einschränkt.[9] In simulierten Tests wissen die Teilnehmenden oft, dass sie einem Sturz ausgesetzt werden, was ihre Reaktionen beeinflusst und die gesammelten Daten verfälschen kann.[10]
Darüber hinaus sind viele dieser Datensätze relativ klein, was die Aussagekraft von maschinellen Lernmodellen zur Sturzerkennung einschränkt. Beispielsweise umfasst eine Studie von Wang et al. zur Erkennung von Beinahe-Stürzen nur 34 ältere Testpersonen, wobei die Stürze durch vorgeplante Szenarien ausgelöst wurden.[11]
Dies steht im Gegensatz zu realen Unfällen, die oft durch unerwartete Umstände wie glatte Oberflächen oder unebene Wege ausgelöst werden.[12]
Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Vielfalt der Sturzursachen und -mechanismen. SRS-Unfälle können durch viele unterschiedliche Faktoren verursacht werden, zum Beispiel rutschige Böden, unebene Gehflächen oder ablenkende Tätigkeiten. Solche komplexen Umstände sind schwer vorherzusagen und noch schwerer in einer standardisierten Testumgebung zu simulieren.[13] Hinzu kommt, dass die bestehenden Daten oft keinen ausreichenden Querschnitt der Beschäftigten darstellen. Viele Datensätze stammen aus Untersuchungen an älteren Erwachsenen oder spezifischen Gruppen, was ihre Generalisierbarkeit einschränkt.[14][15]
Insgesamt besteht eine deutliche Forschungslücke, die durch den Mangel an realen und umfassenden Daten zu SRS-Ereignissen verschärft wird. Um diese Lücke zu schließen, sind Datensätze erforderlich, die nicht nur eine größere Anzahl von Teilnehmenden umfassen, sondern auch realistische Szenarien und ein breites Spektrum von Berufen und Umgebungen berücksichtigen.[16]
Die Studie
Um diese Forschungslücke zu schließen, wurden im Rahmen des von der DGUV geförderten Forschungsprojektes „Entwicklung zusätzlicher Trainingselemente zur Prävention von Stolper-, Rutsch- und Sturzunfällen, unterstützt durch den Einsatz von virtueller Realität am Beispiel von Unternehmen der Stahlerzeugung und der Post- und Paketzustellung (ENTRAPon)“ Daten zu diesen speziellen Ereignissen aufgenommen. Ziel dieser Studie ist es, realistische und umfassende kinematische Daten zu sammeln, um das Risiko von Stolper-, Rutsch- und Sturzunfällen besser zu verstehen. Im Mittelpunkt der Studie stehen zwei Berufsgruppen, die besonders anfällig für solche Unfälle sind: Beschäftigte der Paketdienste und der Stahlerzeugung. Diese Arbeitskräfte sind täglich körperlichen Herausforderungen ausgesetzt und arbeiten oft unter widrigen Bedingungen wie glatten Böden, Treppen und unebenem Gelände.[17][18][19]
Die ENTRAPon-Studie umfasste 110 Teilnehmende, die sich in einem speziellen Testparcours bewegten. Dieser 15 Meter lange Parcours wurde mit 18 integrierten Stolper-, Rutsch- und Fehltritt-Elementen ausgestattet, die unvorhergesehene Störungen während des Gehens verursachten. Die Teilnehmenden waren nicht über die genaue Position der Gefahrenstellen informiert, um sicherzustellen, dass ihre Reaktionen so natürlich wie möglich sind.[20]
Zur Aufzeichnung der Bewegungen trugen sie spezielle Bewegungserfassungssensoren (IMUs), die an insgesamt 17 Punkten am Körper angebracht waren. Diese Sensoren erfassten kinematische Daten wie die Position des Körperschwerpunkts, die Schrittlänge und die Gehgeschwindigkeit mit hoher Genauigkeit. Dank dieser umfassenden Datenerfassung konnte das Forschungsteam ein detailliertes Bild der Reaktionen der Versuchspersonen auf unerwartete Störungen zeichnen.[21]
Die Erfassung der Daten erfolgte unter verschiedenen Bedingungen: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mussten den Parcours sowohl in normalem als auch in schnellem Tempo absolvieren. Dabei wurden sie mit unterschiedlichen Stolper-, Rutsch- und Fehltritt-Szenarien konfrontiert. Diese umfassende Datenerfassung ermöglichte es, nicht nur Stürze, sondern auch Beinahe-Stürze – also Situationen, in denen ein Sturz gerade noch vermieden werden konnte – präzise zu dokumentieren.[22][23]
Verwendung der gesammelten Daten für maschinelles Lernen
Die gesammelten Daten sind besonders wertvoll für die Entwicklung von maschinellen Lernmodellen, die auf die Erkennung von Beinahe-Stürzen und Stürzen spezialisiert sind. Maschinelles Lernen bietet den Vorteil, dass Algorithmen in der Lage sind, Muster in den Bewegungsdaten zu erkennen und Vorhersagen über das Sturzrisiko zu treffen. Diese Algorithmen können auf Basis der gesammelten kinematischen Daten trainiert werden, um sowohl Beinahe-Stürze als auch tatsächliche Stürze in Echtzeit zu identifizieren.
Ein zentrales Element bei der Sturzerkennung ist die sogenannte „Margin of Stability“ (MoS), die den Abstand zwischen dem Körperschwerpunkt (Center of Mass, CoM) und der Standfläche (Base of Support, BoS) misst. Ein niedriger MoS-Wert zeigt an, dass eine Person instabil ist und ein erhöhtes Risiko für einen Sturz besteht.[24] Weitere wichtige Parameter, die zur Analyse herangezogen werden, sind die Gehgeschwindigkeit, die Schrittlänge und die Reaktionszeit auf eine Störung. Diese Messgrößen bieten wertvolle Informationen darüber, wie gut eine Person auf Stolper- und Rutschgefahren reagiert und wie schnell sie ihr Gleichgewicht wiederfindet.[25] Basierend auf den vorliegenden Daten wurden erste schwellwertbasierte Klassifizierungsmodelle entwickelt, die in der Lage sind, unterschiedliche Arten von SRS-Ereignissen zu identifizieren. Insbesondere konnte gezeigt werden, dass das Stolpern relativ einfach von normalen Gehbewegungen unterschieden werden kann. Schwieriger gestaltet sich die Erkennung von Rutsch- und Fehltritt-Ereignissen, da diese oft ähnliche Bewegungsmuster aufweisen.[26]
Die gesammelten Daten bieten jedoch großes Potenzial, um diese Algorithmen weiter zu verfeinern. Zukünftige Ansätze könnten beispielsweise tiefer gehende neuronale Netzwerke nutzen, um die komplexen Bewegungsmuster bei SRS-Ereignissen besser zu verstehen und vorherzusagen. Diese Algorithmen könnten dann in tragbare Geräte wie Handys, Smartwatches und Ähnliches integriert werden, um in Echtzeit auf Sturzgefahren hinzuweisen und präventiv einzugreifen.[27][28]
Ergebnisse der Studie
Die Studie hat eine umfassende und qualitativ hochwertige Datengrundlage geschaffen, die zur Weiterentwicklung der Sturzprävention beitragen kann. Insgesamt wurden 1.640 gültige Testläufe von 110 Teilnehmenden aufgezeichnet, die Stolper-, Rutsch- und Fehltritte unter verschiedenen Bedingungen dokumentieren. Die Testpersonen absolvierten die Teststrecke sowohl in normalem als auch in schnellem Tempo, sodass eine große Bandbreite an realistischen Szenarien abgedeckt wurde.[29]
Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die hohe Qualität der gesammelten Daten. Durch manuelle Überprüfung und Korrektur der Daten wurde sichergestellt, dass die Klassifizierung der SRS-Ereignisse präzise erfolgt.[30][31]
Die erste Analyse der Daten zeigt, dass insbesondere Stolpern leicht von normalen Gehbewegungen unterschieden werden kann. Die Erkennung von Rutsch- und Fehltritt-Ereignissen gestaltet sich hingegen schwieriger, da diese oft subtilere Bewegungsmuster aufweisen. Dies verdeutlicht, dass einfache Schwellenwertmethoden nicht ausreichen, um komplexe Bewegungsdynamiken zu erfassen. Zukünftige Modelle werden daher auf fortgeschrittenere maschinelle Lernverfahren setzen, um diese Herausforderungen zu bewältigen.[32][33]
Zukünftige Anwendung der Daten
Die gesammelten Daten aus der ENTRAPon-Studie bieten ein enormes Potenzial für die zukünftige Entwicklung von Technologien zur Sturzerkennung und Prävention. Insbesondere maschinelle Lernalgorithmen könnten dazu beitragen, gefährdete Personen frühzeitig zu identifizieren und gezielte Maßnahmen zur Vermeidung von SRS-Unfällen zu ergreifen. Diese Technologien könnten in Form von tragbaren Geräten, Sensoren oder intelligenten Arbeitsschutzsystemen in die Arbeitswelt integriert werden.[34]
Zukünftige Forschungsprojekte sollten die Datenerhebung auf weitere Branchen und Arbeitsumgebungen ausweiten, um die Ergebnisse zu generalisieren. Beispielsweise könnten Daten aus dem Bauwesen, der Landwirtschaft oder dem Gesundheitswesen gesammelt werden, um die Algorithmen weiter zu verfeinern und an verschiedene Arbeitsumgebungen anzupassen.[35]
Eine vielversprechende Möglichkeit besteht darin, die Algorithmen so zu entwickeln, dass sie individuelle Risikoprofile von Beschäftigten erstellen können. Auf dieser Grundlage könnten personalisierte Sicherheitsempfehlungen gegeben werden, die auf die spezifischen Bedingungen und Bedürfnisse der jeweiligen Person abgestimmt sind.[36]
Langfristig könnte die Integration solcher Technologien in den Arbeitsalltag dazu beitragen, SRS-Unfälle signifikant zu reduzieren und die Arbeitssicherheit in gefährdeten Branchen zu verbessern.[37][38]
Fazit
Die Studie stellt einen wichtigen Fortschritt auf dem Gebiet der Sturzprävention dar. Durch die Erfassung realistischer und umfassender Daten von Beschäftigten in besonders gefährdeten Branchen wurde eine solide Grundlage für die Entwicklung von maschinellen Lernverfahren geschaffen, die eine präzise Erkennung von Beinahe-Stürzen und Stürzen ermöglichen.[39]
Diese Forschung trägt nicht nur zum besseren Verständnis der Mechanismen bei, die zu Stolper-, Rutsch- und Sturzunfällen führen, sondern hat auch das Potenzial, in der Praxis angewendet zu werden, um die Sicherheit am Arbeitsplatz zu verbessern. Die Erkenntnisse könnten dazu beitragen, die Unfallverhütung in Unternehmen zu revolutionieren.
Durch die Kombination moderner Technologien mit präzisen Datenanalysen könnte eine neue Ära der Arbeitssicherheit eingeläutet werden, in der schwere Unfälle durch frühzeitige Erkennung und präventive Maßnahmen signifikant reduziert werden.