Wege zu nachhaltiger Aufsicht und Beratung

Inwiefern ein Betrieb die Regeln des Arbeitsschutzes verstanden und angemessen umgesetzt hat, sich somit durch Compliance gegenüber Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit auszeichnet, zeigt sich oft erst beim Besuch der Aufsichtspersonen vor Ort. Wie kann das Aufsichtshandeln optimiert und zukunftsorientiert ausgerichtet werden, um vorhandene Ressourcen optimal einzusetzen?

In Deutschland gab es im Dezember 2022 rund 3,4 Millionen Unternehmen.[1] Mit knapp 2,5 Millionen zählte 2020 die überwiegende Mehrheit der Unternehmen zu den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU).[2] Sie beschäftigen circa 55 Prozent der Erwerbstätigen.[3] Gerade im Bereich der Kleinbetriebe sind beispielsweise in den Sektoren der Dienstleistungen, des Handels und des Gastgewerbes hohe Fluktuationen zu beobachten. Im Jahr 2021 wurden in Deutschland mehr als 700.000 neue Gewerbeanmeldungen registriert, wobei nicht alle über Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verfügen.[4] Dennoch handelt es sich in großer Zahl um „Novizen und Novizinnen im Arbeitsschutz“, die die Landschaft der Unternehmen in Deutschland bereichern.

Alle Unternehmen unterliegen – nicht nur im Bereich Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – einem komplexen Regelwerk, das gelesen, verstanden, angewendet und angemessen dokumentiert werden muss. Dass dies in der überwiegenden Zahl der Unternehmen nicht zufriedenstellend gelingt, zeigt sich in systematischen Evaluationen, wie beispielsweise im Bereich der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA). Aufsichtsbehörden, Politik und Wissenschaft beschäftigen sich daher vermehrt mit dem Konstrukt der Compliance, also der Fragestellung, wie die Rechtstreue und die Regelkonformität in den Unternehmen gesteigert sowie die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten verbessert werden können. Eine wichtige Rolle spielt hierbei das Aufsichtshandeln durch Beamtinnen und Beamte der staatlichen Aufsichtsbehörden und Aufsichtspersonen der Unfallversicherungsträger. Hierbei zeigt sich vor Ort, ob vorgenommene Dokumentationen lediglich Papiertiger und die erforderlichen Maßnahmen nicht umgesetzt sind oder auch, ob erforderliche Maßnahmen zwar umgesetzt, aber nicht ausreichend dokumentiert sind. Ziel einer effektiven Überwachung – angekündigt oder unangekündigt – ist daher nicht das alleinige Überprüfen von Papieren, sondern deren betriebliche Umsetzung im Unternehmen, insbesondere durch Gespräche mit den Menschen an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen.

Die Personalressourcen der Aufsichtsbehörden sind nicht für eine flächendeckende Besichtigung in Deutschland ausgelegt. Überwachung und Beratung müssen daher fokussiert und effizient gestaltet sein. Daraus ergeben sich nachfolgende Fragestellungen:

  • Wie muss das Aufsichtshandeln gestaltet sein, um einen nachhaltigen Effekt für die Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten entfalten zu können?
  • Wie können die begrenzten Ressourcen in den Aufsichtsdiensten zielgerichtet eingesetzt werden?
  • Wie kann der „Boden bereitet“ werden für den Besuch der Aufsichtsperson? Welche flankierenden Maßnahmen sind denkbar?

 

Nachhaltiges Aufsichtshandeln

Veränderungen im betrieblichen Arbeitsschutz werden in unterschiedlichen Situationen erforderlich, beispielsweise bei neuen Arbeitsstätten oder -verfahren, nach einem Arbeitsunfall oder als Folge von konsequentem Aufsichtshandeln. Letzteres wird ausgelöst durch die gezielte Besichtigung von gemäß Kennzahlenauswertung auffälligen „Risikobetrieben“ oder zufällig ausgewählten beziehungsweise angetroffenen Unternehmen.

Gerade im Fall instationärer Fertigungsstätten, wie zum Beispiel Bau- und Montagestellen, trifft man häufig auf Beschäftigte unterschiedlicher Unternehmen, die es spontan zu überwachen und zu beraten gilt. Vor diesem Hintergrund sind sowohl Prozesskontrollen als auch komplette Systemkontrollen in „auffälligen“ Unternehmen als parallel durchzuführende Überwachungsansätze durchaus sinnvoll. In beiden Fällen kann es zu Widerständen in den Unternehmen bei der Umsetzung erforderlicher Änderungen kommen, da bisher Geleistetes infrage gestellt wird und Menschen ihr gewohntes Verhalten ungern ändern.

Damit nun Veränderungen im Arbeitsschutz als Ergebnis von Prozess- oder Systemkontrollen angegangen werden, bedarf es einer ausreichenden Motivation bei den Beteiligten. Gegebenenfalls muss diese Motivation auch durch konsequente Anwendung erforderlicher Revisionsmittel – wie Beratung, Besichtigungsbericht, Anordnung, Bußgeldverfahren – ausgelöst werden. Unabhängig davon, ob das betriebliche Changemanagement durch äußere Anreize, wie Belohnung, Anerkennung oder Sanktionsvermeidung, oder durch Einsicht initiiert wird, gilt es, die folgenden Phasen im Unternehmen zu durchlaufen: Analyse, Planung, Coaching, Umsetzung und Kontrolle. Hierbei beraten die Aufsichtspersonen der Unfallversicherungsträger vor Ort, vereinbaren dabei aber auch verbindliche Ziele mit den Verantwortlichen im Betrieb.

Ein Nachteil von extrinsischer Motivation kann deren kurze Dauer sein. Wenn Unternehmen den Arbeitsschutz nur ernst nehmen und entsprechend handeln, weil sie ausschließlich durch äußere Anreize motiviert sind, dann fehlen Einsicht und Begeisterung. Extrinsische Motivation ist gut, wenn etwas dringend oder einmalig gemacht werden muss, beispielsweise zur Gefahrenabwehr, aber nicht, wenn sich eine ähnliche Situation regelmäßig ergibt. Derart motivierte Unternehmen bedürfen der ständigen Überwachung inklusive Beratung und gegebenenfalls Sanktionen, was zu erheblichem Aufwand beim Aufsichtshandeln führt.

Intrinsisch motivierte Menschen hingegen wollen die Sache von sich heraus tun und diese beherrschen. Daher sind Beratung, Qualifizierung und Kommunikation unverändert wichtige Präventionsleistungen, um die Beteiligten zu unterstützen und zu überzeugen, dass Arbeitsschutz sinnvoll, interessant und lohnend ist.

Nachhaltiges Aufsichtshandeln holt Unternehmen mit ihren Beschäftigten dort ab, wo sie stehen. Sind sie statistisch auffällig, werden sie in Sachen Arbeitsschutz gezielt überwacht und beraten. Sind sie vor Ort auffällig, orientieren sich Beratung und Überwachung an betrieblichen Eigenarten und der vor Ort angetroffenen Situation. Sofern es Defizite im Arbeitsschutz gibt, kommt es in beiden Fällen auf die individuelle Motivation zur Verhaltensänderung im Arbeitsschutz an: Beratung mit und ohne konsequenten Einsatz der Revisionsmittel. Sofern nicht von einer anhaltenden Änderung ausgegangen werden kann, bedarf es weiterer Maßnahmen, um zunächst Einsicht aufgrund äußerer Antriebe zu erreichen. Entscheidend ist eine entsprechend hohe Kontrolldichte sowohl bei Risikobetrieben als auch bei zufällig angetroffenen Betrieben. Ziel eines ganzheitlichen und nachhaltigen Aufsichtshandelns ist aber immer die Vision Zero. Dieser Weg führt über echte Einsicht bei den Beteiligten.

Möglichkeiten der Ressourcenoptimierung

Die Ressourcenoptimierung kann an der Auswahl der zu überwachenden Unternehmen, den vor Ort anzusprechenden Themen und der Qualität digitaler Außendienstanwendungen ansetzen.

Es liegt auf der Hand, im Bereich der Unfallversicherung das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen als Indikator für die Überwachungsfrequenz zu nutzen. Das bedeutet, Unternehmen mit hohen Unfallzahlen werden häufiger überwacht und beraten als Unternehmen mit geringeren Unfallzahlen. Aufgrund des vorhandenen Wissens um das Unfallgeschehen ist dies möglich und wird von den Unfallversicherungsträgern umgesetzt. Die angewandten Verfahren berücksichtigen alle vorhandenen Informationen ebenso wie branchenspezifische Besonderheiten, aber auch von den jeweiligen Unternehmen bereits genutzte Präventionsangebote.

Bei Betriebskontakten sollte der Schwerpunkt darauf liegen, auch immer die relevanten Gefahren anzusprechen und die Unternehmen diesbezüglich wiederkehrend zu sensibilisieren. In vielen Unternehmen sind die Gefahren für tödliche und schwere Unfälle aufgrund fehlender eigener Erfahrungen eher nicht bekannt.

In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Insbesondere in Klein- und Kleinstunternehmen muss bei ersten Kontakten die Fokussierung auf „wesentliche“ Aspekte von Sicherheit und Gesundheit gelegt werden. In diesen Fällen führen unter Umständen nicht 30 Vorschläge zur Verbesserung der Sicherheit und Gesundheit zum gewünschten Erfolg. Aber vielleicht schaffen es die wichtigsten drei Vorschläge für die wesentlichsten Maßnahmen, dass die Verantwortlichen im Nachgang zur Begehung und zum Gespräch vor Ort von sich heraus agieren und sich den Themen von Sicherheit und Gesundheit verstärkt und zielgerichtet annehmen.

Wie kann der Boden bereitet werden?

Intrinsische und extrinsische Motivation spielen nicht nur in den Betrieben eine wesentliche Rolle, sondern auch bei den Beschäftigten der Aufsichtsbehörden. Es handelt sich hierbei um hoch spezialisierte Expertinnen und Experten, deren Ziel die Implementierung nachhaltiger Strukturen für Sicherheit und Gesundheit in den Betrieben ist. Kurz gefasste Soll-Ist-Vergleiche ohne strategische Weiterentwicklungen liegen nicht in der „DNA“ des Aufsichtshandelns.

In der Realität treffen Aufsichtspersonen, vor allem bei Neugründungen und KMU, auf Unternehmen und Beschäftigte, die bei der Priorisierung der administrativen Anforderungen den Arbeitsschutz sehr weit unten ansiedeln. Formulierte Besichtigungsquoten lassen Mehrfachbesuche in einem Betrieb eher zur Ausnahme werden.

Wie kann der Besuch der Aufsichtspersonen optimal vor- und nachbereitet werden, um eine optimale Wirkung zu erzielen? Die Unfallversicherungsträger haben im Portfolio ihrer gesetzlichen Aufgaben nach dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) ergänzend zum Aufsichtshandeln Präventionsleistungen, die hierbei flankierend zum Einsatz kommen. Diese werden in weiteren Beiträgen dieser Ausgabe gesondert betrachtet.

Neben einer intelligenten Anwendung im Außendienst, die den Aufsichtspersonen die Möglichkeit gibt, sich auf deren Kernaufgaben zu konzentrieren, sind weitere Unterstützungsprozesse denkbar. Speziell auf den Prozess des Aufsichtshandelns blickend wäre es zielführend, ergänzendes Verwaltungshandeln zu erproben und auf seine Wirksamkeit hin zu evaluieren.

Wie könnte eine schriftliche Ankündigung einer Betriebsbesichtigung gestaltet sein, welche Unterlagen könnten vorab zugesendet oder zu diesem Termin vorgelegt werden? Wäre eine Nachverfolgung nicht bußgeldrelevanter, aber dennoch relevanter Themen der Besichtigung denkbar und wirkungsvoll? Wie gelingt es, Unternehmerinnen und Unternehmer sowie die Beschäftigten für Sicherheit und Gesundheit zu gewinnen? Welche Maßnahmen können helfen, die extrinsische Motivation in eine intrinsische zu überführen? Welche Rolle spielt der Kontakt vor Ort im Vergleich zu fernmündlichen oder schriftlichen Kontakten? Müssen digitale Angebote erweitert oder ergänzt werden? Was kommt hierfür maßgeblich in Betracht?

All diese Fragen gilt es anzugehen, um die Überwachung und Beratung effizienter und nachhaltiger zu gestalten und um das Arbeitsschutzniveau anzuheben – um dem Ziel der Vision Zero sukzessive näher zu kommen.

Zusammenfassung

Die große Zahl an Unternehmen, verschärft durch eine in vielen Branchen beobachtbare hohe Fluktuation der Unternehmensleitungen, schließt ein flächendeckendes Aufsichtshandeln in regelmäßigen Zeitabständen aus. Daher kann ein effizientes Aufsichtshandeln nur erreicht werden, wenn das Aufsichtspersonal bei administrativen Aufgaben entlastet und die Auswahl der zu besichtigenden Unternehmen sich an Kriterien der Priorisierung orientiert. Als wichtige Instrumente dienen hierbei digitale Außendienstanwendungen, die Kennzahlen zu fundierten Risikoprognosen beinhalten und Verwaltungsprozesse automatisiert anstoßen und verfolgen. Nicht nur die Zahl der Besichtigungen darf als Maßstab dienen, vielmehr ist die Qualität und Nachhaltigkeit dieser Kontrollen vor Ort die zentrale Kompetenz der Unfallversicherungsträger. Um diese Qualität zu erhalten, ist gerade vor dem Hintergrund des Wandels der Arbeit die Kompetenz des Aufsichtspersonals von zentraler Bedeutung. Hierzu zählt neben fundierten Fach- und Branchenkenntnissen ebenso die Fähigkeit, Unternehmen von der Sinnhaftigkeit und dem Nutzen präventiver Maßnahmen zu überzeugen. Die Aufsichtspersonen der Unfallversicherungsträger leisten hiermit ihren Beitrag zu nachhaltigen Strukturen in den Unternehmen. Sie kennen jedoch auch die Grenzen der Beratung und leiten entsprechendes Verwaltungshandeln konsequent ein.

Das Aufsichtshandeln verstärkt seine Wirkung durch den Einfluss der weiteren Präventionsleistungen. Beispielsweise wird durch die Qualifizierung oder die Zurverfügungstellung zielgruppengerechter Handlungshilfen das Wissen in den Betrieben aufgebaut und umsetzbar gestaltet. Inwieweit flankierende Maßnahmen rund um den Betriebsbesuch die Compliance in den Betrieben unterstützen können, stellt ein Forschungsgebiet dar, das im Rahmen von Felduntersuchungen zukünftig verstärkt bearbeitet werden könnte und auch sollte.