Überwachung ist nicht gleich Überwachung

Die Rolle der Unfallversicherungsträger in der Prävention und die der staatlichen Arbeitsschutzaufsicht (ASV) unterscheiden sich stark – auch hinsichtlich Struktur, Ausstattung und Unabhängigkeit vor Einflussnahme. Obwohl die Schnittmenge beider Institutionen selbst bei der Überwachung der Betriebe klein ist, ergänzen sich die Akteure und machen die Überwachung effektiv.

In der Diskussion über die Zusammenarbeit der Unfallversicherungsträger und der staatlichen ASV bei der Überwachung der Betriebe wird immer wieder argumentiert, dass beide Institutionen die Betriebe fast identisch überwachen würden und dadurch die Zusammenführung der Ergebnisse der Überwachung per Datenaustausch und ein Angleichen von Abläufen sinnvoll seien. Hierbei wird allerdings übersehen, dass aufgrund der unterschiedlichen gesetzlichen Aufträge das Aufgabenspektrum der beiden Aufsichtsbehörden weitgehend komplementär ist – mit nur sehr geringen Schnittmengen.

Zuständigkeiten

Die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen als Unfallversicherungsträger sowie die staatliche ASV sind für die Sicherheit und Gesundheit sehr unterschiedlicher Personenkreise zuständig. So liegt der Schutz von Schülerinnen und Schülern, Kindern in Kitas, Studierenden, ehrenamtlichen Angehörigen von freiwilligen Feuerwehren und Rettungsdiensten, Blutspenderinnen und Blutspendern, Unfallhelferinnen und Unfallhelfern, Teilnehmenden an Arbeitsfördermaßnahmen und Lernenden, häuslich Pflegenden und vielen anderen Personengruppen allein bei den Unfallversicherungsträgern. Auf der anderen Seite stehen Beamtinnen und Beamte sowie Unternehmerinnen und Unternehmer (sofern nicht per Satzung oder freiwillig Mitglied der Unfallversicherungsträger) nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung – um ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit kümmern sich die ASV allein. So liegt nur in circa der Hälfte der Fälle, in denen der Schutz einer Personengruppe bei Arbeit, Ausbildung oder sonstiger Tätigkeit überwacht werden muss, eine gemeinsame Zuständigkeit vor. Hinzu kommt, dass sich die ASV zusätzlich und exklusiv auch um den Schutz der Allgemeinbevölkerung kümmern sowie um den Schutz der oben genannten Gruppen in deren Freizeit. So überwacht die ASV hier gefährliche Anlagen, Aufzüge und auch Produkte des täglichen Lebens auf deren (Funktions-)Sicherheit.

Aufgaben

Weiterhin haben sowohl die Unfallversicherungsträger als auch die ASV auf der Basis ihres gesetzlichen Auftrags zahlreiche Aufgaben zum Schutz von Personen auch jenseits von Überwachung und Beratung hinsichtlich Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und Ausbildung zu erledigen: So ist die ASV – mit unterschiedlichen Prozentanteilen in den einzelnen Ländern – auch zuständig für die Überwachung der Produktsicherheit, der Sozialvorschriften im Straßenverkehr, des Schutzes der Umwelt mit sehr unterschiedlichen Facetten (Luftreinhaltung, Boden- und Gewässerschutz), des Immissions- und Strahlenschutzes sowie der Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG), des Mutter- und Jugendarbeitsschutzes und weiterer Bereiche des sozialen Arbeitsschutzes. Es verwundert nicht, dass von den 3.199 Personen[1] (2019) des Aufsichtspersonals der ASV der Länder nur 1.439 mit der Wahrnehmung originärer Arbeitsschutzaufgaben. Dabei handelt es sich um Aufgaben mit der unmittelbaren Zielsetzung, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit zu gewährleisten, zum Beispiel Überwachung der Vorschriften des Arbeitsschutzgesetzes – den sogenannten A-Aufgaben gemäß Veröffentlichung des Länderausschusses für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) – beschäftigt waren. Durch die Vorgaben des Arbeitsschutzkontrollgesetzes (ArbSchKonG) ist allerdings in den nächsten Jahren ein personeller Ausbau der Aufsichtsdienste zu erwarten.

Aufseiten der Unfallversicherungsträger ist die Überwachung einschließlich anlassbezogener Beratung verknüpft mit den übrigen Präventionsleistungen, die den Berufsgenossenschaften und Unfallkassen im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags „Prävention mit allen geeigneten Mitteln“ zur Verfügung stehen. Dazu zählen Anreizsysteme (§§ 14 und 162 Sozialgesetzbuch [SGB] VII); Beratung (auf Anforderung – § 17 Abs. 1 SGB VII); betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung (Arbeitssicherheitsgesetz [ASiG], Arbeitsschutzgesetz [ArbSchG] und § 24 SGB VII); Ermittlung (§ 19 Abs. 2 SGB VII); Forschung, Entwicklung und Modellprojekte (§ 1, § 9 Abs. 8 und § 14 SGB VII); Information, Kommunikation und Präventionskampagnen (§ 14 SGB VII); Prüfung/Zertifizierung (§ 14 SGB VII, §§ 20 bis 23 Produktsicherheitsgesetz [ProdSG]), Qualifizierung (§ 14, § 17 und § 23 SGB VII) sowie Vorschriften- und Regelwerk (§§ 17, 18, 19 und 209 SGB VII – siehe Präventionsleistungen der Unfallversicherungsträger, 2019).

Weiterhin arbeiten die Präventionsdienste eng mit den Bereichen Rehabilitation, Berufskrankheiten, Mitglieder und Beitrag sowie Regress zusammen und unterstützen diese bei deren gesetzlichen Aufgaben – etwa der Ermittlung der arbeitstechnischen Voraussetzungen in Berufskrankheitenverfahren oder der Durchführung von Regressverfahren. Schließlich ergibt sich aus dem Präventionsgesetz (PrävG) die Notwendigkeit, bei den Themen Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF), Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) und Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) mit weiteren Sozialleistungsträgern zusammenzuarbeiten und auf deren gesetzliche Leistungen hinzuweisen. Auch sind die Unfallversicherungsträger gemäß SGB VII für die Organisation einer wirksamen Ersten Hilfe in den Betrieben zuständig und lassen hier Ersthelfer und Ersthelferinnen qualifizieren. Aus der Vielfalt der gesetzlichen Aufgaben folgt, dass von den 5.485 Personen[2] der Präventionsabteilungen der Unfallversicherungsträger nur 2.614 als Aufsichtspersonen und weiteres Personal im Außendienst arbeiten, aber 2.871 als wissenschaftliche Fachkräfte, Dozierende, Mitarbeitende von Fachbereichen und Sachgebieten sowie Personal im Innendienst.

Schnittmengen zwischen der Arbeit von Unfallversicherungsträgern und staatlicher ASV gibt es somit in vier Bereichen:

  • Ermittlungen zu Unfällen: Eine enge Zusammenarbeit zwischen Unfallversicherungsträgern und ASV gibt es traditionell bei der Ermittlung der Ursachen schwerer und tödlicher Unfälle. Im Regelfall sind bei den Unfalluntersuchungen vor Ort beide Seiten beteiligt. Die Aufsichtsdienste informieren sich hier gegenseitig und tauschen Informationen aus.
  • Erarbeitung von Vorschriften und Regeln: Durch die Beteiligung der Länder an Fachbereichen und Sachgebieten der DGUV und der Beteiligung der Unfallversicherungsträger an den staatlichen Ausschüssen zur Erarbeitung von Verordnungen und Regeln sind eine Zusammenarbeit und ein gegenseitiges Einbringen von Erfahrungen in das Vorschriften- und Regelwerk beider Seiten gewährleistet.
  • Produktsicherheit: Auch wenn die Überwachung der Produktsicherheit primär eine staatliche Aufgabe ist, sind die Unfallversicherungsträger und ihre Institute hier nicht untätig. Dadurch ergeben sich Schnittmengen und eine Zusammenarbeit bei der Prüfung und Zertifizierung von Produkten und Dienstleistungen – insbesondere bei der Durchführung von Produktprüfungen und -zertifizierungen, der Durchführung von Auditierungen und Zertifizierung von Managementsystemen und der Durchführung von Personenzertifizierungen.
  • Überwachung der Betriebe – siehe dazu den folgenden Abschnitt.
Abbildung 1: Übersicht der Aufgaben. Die komplementären (weißen) Bereiche sind deutlich umfangreicher als die blau gekennzeichneten Schnittstellen. | © Quelle: Dr. Torsten Kunz, Unfallkasse Hessen (UKH) / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 1: Übersicht der Aufgaben. Die komplementären (weißen) Bereiche sind deutlich umfangreicher als die blau gekennzeichneten Schnittstellen. ©Quelle: Dr. Torsten Kunz, Unfallkasse Hessen (UKH) / Grafik: kleonstudio.com

Unterschiede bei der Überwachung selbst

Auch wenn die Überwachung einschließlich anlassbezogener Beratung angesichts der bereits genannten weiteren Aufgaben und Zuständigkeiten quantitativ nur einen vergleichsweise kleinen Teilbereich der Tätigkeit der Aufsichtsdienste ausmachen, gibt es auf den ersten Blick hier eine deutliche Schnittmenge der Aufgaben von Unfallversicherungsträgern und ASV. Betrachtet man aber diesen Schnittbereich genauer, stellt man fest, dass es selbst hier bei den „Kernprozessen“ deutliche Unterschiede in Auftrag und Herangehensweise gibt:
 

  • Gesetzlicher Auftrag: Auftrag der staatlichen ASV ist die „Beratung/Überwachung der Einhaltung der staatlichen Vorschriften“. Die gefundenen Verstöße gegen Vorschriften werden dann beanstandet und über Anordnungen, Verwarnungen, Bußgeldbescheide oder Strafanzeigen wird ein gesetzeskonformer Zustand hergestellt.
    Bei den Unfallversicherungsträgern ist die Überwachung hingegen ein wichtiges Mittel unter mehreren („Prävention mit allen geeigneten Mitteln“) zur Prävention von Unfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren. Die Aufsichtspersonen verknüpfen somit auch im Rahmen von Betriebsbesichtigungen die Überwachungstätigkeit mit den anderen genannten Präventionsleistungen. Dies hat zum Ziel, einen Zustand herzustellen, in dem sich keine Versicherungsfälle ereignen (können). Nicht immer ist dabei die pure Einhaltung der Vorschriften ausreichend: Teilweise muss der Unternehmer beziehungsweise die Unternehmerin für einen vollen Schutz über diese hinausgehen und kann dazu informiert und motiviert werden.
  • Auswahl der zu besichtigenden Betriebe: Den Unfallversicherungsträgern stehen zur risikobasierten Auswahl der zu besichtigenden Betriebe betriebsbezogene Unfalldaten zur Verfügung. Es ist somit möglich, Betriebe oder auch Tätigkeiten mit hoher Unfallbelastung zu identifizieren und zu besichtigen/überwachen.
    Diese Zahlen stehen der staatlichen ASV nicht oder nur unvollständig zur Verfügung. Hier werden Besichtigungsschwerpunkte zentral auf Landesebene festgelegt – etwa bei erfahrungsgemäß riskanten Arbeitsbereichen oder auch auf der Basis politischer Vorgaben (Arbeitsschwerpunkte der Sozialministerien).
  • Aktive/passive Besichtigungen: Sowohl bei den Unfallversicherungs­trägern als auch bei der staatlichen ASV gibt es eine aktive Auswahl des Betriebs durch den Aufsichtsdienst sowie reaktive Überwachungen, bedingt durch von außen an den Aufsichtsdienst heran­getragene Ereignisse, zum Beispiel Unfälle, Anfragen oder Beschwer­den. 
    Bei der staatlichen ASV liegt inzwischen der Anteil der aktiven Überwachungen (eigene Initiative) an den 151.096 Besichtigungen im Jahr 2019[3] unter dem der reaktiven (Beschwerden, Unfälle, Anfragen).[4]Bei den Unfallversicherungsträgern kommen zu 514.159 Besichtigungen noch 679.706 telefonische und schriftliche Beratungen auf Initiative der Unternehmerin oder des Unternehmers/der oder des Versicherten hinzu.[5] Somit kann man davon ausgehen, dass auch bei den Unfallversicherungsträgern die reaktiven Überwachungen zahlenmäßig den aktiven zumindest entsprechen.
    Auch die reaktiven Überwachungen sind zur Erreichung der gesetzlichen Ziele inhaltlich sinnvoll: Wenden sich Unternehmen wegen eines Arbeitsschutzproblems selbst an die Aufsichtsbehörde und hilft diese ihnen bei der Lösung des Problems, so sind sie eher bereit, auch Forderungen zu Themen zu akzeptieren, die sich im Rahmen der Beratungsgespräche zusätzlich ergeben. Somit ist die („reaktive“) Überwachung als Folge einer Beratung mindestens ebenso wirkungsvoll wie die aktive Überwachung. Auffällig ist allerdings, dass diese fremdbestimmten Kontrollen offensichtlich mehr Zeitaufwand in der Bearbeitung mit sich bringen, da häufig umfangreiche Ermittlungen durchgeführt werden müssen, um die Begründetheit zum Beispiel einer Beschwerde zu überprüfen. Während eine Beamtin beziehungsweise ein Beamter 2007 noch etwa 190 Kontrollen pro Jahr durchführen konnte, ist diese Quote 2012 auf etwa 150 Kontrollen pro Jahr gefallen.
  • Überwachungsgrundlagen: Die Institutionen der ASV beraten und überwachen die Einhaltung der staatlichen Vorschriften. Für sie spielen die Vorschriften der Unfallversicherungsträger nur dann eine Rolle, wenn es im staatlichen Recht Regelungslücken gibt, in denen das Recht der Unfallversicherungsträger als Stand der Technik herangezogen werden kann. Die Durchsetzung des staatlichen Rechts ist vergleichsweise einfach, da zum Beispiel auf Bußgeldvorschriften direkt zurückgegriffen werden kann.
    Die Unfallversicherungsträger überwachen hingegen die Einhaltung beider Rechtsgebiete: die Anforderungen des autonomen Rechts (Unfallverhütungsvorschriften – UVVen) direkt sowie indirekt (über § 2 DGUV Vorschrift 1) auch das staatliche Recht. Durch den Umweg über den § 2 DGUV Vorschrift 1 können die Vorschriften und Sanktionsmöglichkeiten des staatlichen Rechts aber nur indirekt und damit eingeschränkt herangezogen werden.

Strukturen

  • Auch hinsichtlich ihrer Strukturen unterscheiden sich Unfallversicherungsträger und staatliche ASV deutlich: Die ASV unterliegen dem Landesrecht, während die Anzahl und Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger bundesweit beziehungsweise per Satzung geregelt ist. Daher ist die Struktur der staatlichen Arbeitsschutzverwaltung – je nach Regierung und deren Arbeitsschwerpunkten – vergleichsweise heterogen.[6] In Baden-Württemberg werden seit 2005 die Aufgaben der Gewerbeaufsicht im Arbeits- und Umweltschutz von den 44 Stadt- und Landkreisen und den vier Regierungspräsidien wahrgenommen.
  • In Bayern wurden die sieben Gewerbeaufsichtsämter 2005 an die Regierungen der Bezirke angegliedert.
  • In Berlin ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit (LAGetSi) seit 1998 die Aufsichtsbehörde über den Arbeitsschutz in Berliner Betrieben und die Aufsichtsbehörde über die technische Sicherheit von bestimmten Anlagen, Geräten und Produkten.
  • In Hessen wurden die Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter bereits 1993 aufgelöst und an ihrer Stelle Staatliche Ämter für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik errichtet. Diese wurden als Abteilungen (RP Darmstadt: Arbeitsschutz; RP Gießen: Arbeitsschutz und Inneres; RP Kassel: Arbeitsschutz und Soziales) in die drei Regierungspräsidien des Landes eingegliedert und bestehen aus insgesamt sechs Standorten.
  • Die Niedersächsische Gewerbeaufsichtsverwaltung nimmt mit ihren zehn Staatlichen Gewerbeaufsichtsämtern Aufgaben im Arbeits-, Gefahren-, Umwelt- und Verbraucherschutz wahr. Im Rahmen der Auflösung der Bezirksregierungen zum 1. Januar 2005 sind diese Ämter nunmehr direkt dem Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz und dem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung unterstellt.
  • In Nordrhein-Westfalen wurden die Staatlichen Ämter für Arbeitsschutz und die Staatlichen Umweltämter aufgelöst und als Arbeitsschutzdezernate in die fünf Bezirksregierungen eingegliedert.
  • In Rheinland-Pfalz werden die Aufgaben der Gewerbeaufsicht durch die Struktur- und Genehmigungsdirektionen Nord und Süd mit fünf Regionalstellen Gewerbeaufsicht wahrgenommen.
  • In Schleswig-Holstein informiert und berät seit 2008 die Staatliche Arbeitsschutzbehörde bei der Unfallkasse Nord die Betriebe und ihre Beschäftigten bezüglich der Rechtsvorschriften zum Arbeitsschutz und kontrolliert deren Einhaltung. Sie ist als Landesbehörde integriert in eine Unfallkasse.

Eine vergleichbare Heterogenität gibt es aufseiten der Unfallversicherungsträger noch in zwei Bundesländern (Bayern und Niedersachsen), in denen finanzielle beziehungsweise politische Überlegungen der Landesregierung respektive der Regierungen einzelner Regionen die Bildung einer landeseinheitlichen Unfallkasse verhinderten. Hinzu kommen die Feuerwehrunfallkassen in einigen Bundesländern, die sich ausschließlich um die Zielgruppe der freiwilligen Feuerwehren kümmern. Die übrigen 15 Unfallkassen sowie die neun Berufsgenossenschaften weisen hingegen in ihrer Prävention vergleichbare Strukturen auf.

Personelle und finanzielle Ausstattung

Die beschriebenen sehr unterschiedlichen Strukturen bedingen auch die personelle und finanzielle Ausstattung der Aufsichtsbehörden und den damit verbundenen Output. Hier unterscheiden sich die ASV der Länder und die Unfallversicherungsträger sowohl in den Zahlen als auch der Tendenz stark.[7]

Abbildung 2: Aus dem Vergleich der Zahlen der Jahre 2015 und 2019 können Tendenzen hinsichtlich des Outputs von ASV und Unfallversicherungsträgern abgelesen werden. Bewusst wurden hier Zahlen aus der Vor-Pandemie-Zeit gewählt, um die Tendenzen nicht durch Pandemieeffekte zu verfälschen.  In einer früheren Version dieser Tabelle waren versehentlich fehlerhafte Daten dargestellt. | © Dr. Torsten Kunz, Unfallkasse Hessen (UKH) / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 2: Aus dem Vergleich der Zahlen der Jahre 2015 und 2019 können Tendenzen hinsichtlich des Outputs von ASV und Unfallversicherungsträgern abgelesen werden. Bewusst wurden hier Zahlen aus der Vor-Pandemie-Zeit gewählt, um die Tendenzen nicht durch Pandemieeffekte zu verfälschen. In einer früheren Version dieser Tabelle waren versehentlich fehlerhafte Daten dargestellt. ©Dr. Torsten Kunz, Unfallkasse Hessen (UKH) / Grafik: kleonstudio.com

Es ist erkennbar, dass in einigen Bereichen – etwa der Zahl der durchgeführten Besichtigungen oder der besichtigten Betriebe – die Entwicklung bei Ländern und Unfallversicherungsträgern gegenläufig ist. Da man davon ausgehen kann, dass die äußeren Rahmenbedingungen für beide Beteiligte in der Zeit von 2015 bis 2019 konstant waren, können nur politisch-strategische Vorgaben der politischen Leitungsebene die Tendenzen erklären.

Bei den ASV der Länder sind die Vorgaben oft in Schwerpunktprogrammen niedergelegt. Vergleichbare Schwerpunktbildungen – oft festgehalten in Programmen, Leitbildern oder Kampagnen – gibt es auch aufseiten der Unfallversicherungsträger.

Selbstverständlich haben auch die zur Verfügung stehenden Ressourcen einen Einfluss auf den Output: In der Auswertung der in den Arbeitsschutzbehörden der Länder 2018 durchgeführten Pilotierung des Konzepts einer risikoorientierten Überwachung wird das Nichterreichen der in LASI-Veröffentlichungen (LV 1) vereinbarten Besichtigungsquote für aktive, insbesondere risikoorientiert ausgewählte Überwachungen (Zielgröße: Einsatz von 25 Prozent der Nettoarbeitszeit) mit zu geringen Personalressourcen begründet. Die zur Verfügung stehenden Personalressourcen werden in der Mehrzahl der ASV zugunsten reaktiver Maßnahmen (unter anderem Beschwerden, Unfälle) eingesetzt. Die Nichtanwendung der risikoorientierten Betriebsauswahl (RSA) wird zudem mit einer unzureichenden Datenbasis über die im Aufsichtsgebiet vorhandenen Betriebsstätten erklärt.

Dies griff auch der Bericht „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2019“, Seite 29 auf: „In wichtigen Zielstellungen der LV 1 bestehen in den Ländern aber noch erhebliche Defizite. Dies betrifft insbesondere die Erreichung eines Zeitvolumens von 25 Prozent der Nettoarbeitszeit der Arbeitsschutzbehörden für die aktive Überwachung, die über eine risikoorientierte Auswahl der Betriebe erfolgen soll. Der vorgegebene Anteil wird von den meisten Ländern nicht erfüllt. Insbesondere wird das Konzept der risikoorientierten Überwachung in einzelnen Ländern (insgesamt neun) gar nicht umgesetzt, in anderen Ländern nur zum Teil. Lediglich die Länder Brandenburg, Hessen und Schleswig-Holstein setzen das Konzept nahezu vollständig um.“

Unabhängigkeit der Überwachung

Im Dresdner Forum Prävention 2022 stellte der Vertreter der Länder in der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz die These auf, die Arbeitsschutzbehörden der Länder könnten ihren Überwachungsauftrag unabhängiger wahrnehmen als die Unfallversicherungsträger, da durch deren strukturelle Nähe zu den Arbeitgeber- und Versichertenvertretungen eine höhere Abhängigkeit gegeben wäre. Die Unterstellung einer „Überwachung auf Bestellung“ der Unfallversicherungsträger wurde zwar von diesen bereits zurückgewiesen, soll aber in diesem Kontext Anlass sein, sich die Abhängigkeiten beider Seiten grundlegend anzuschauen.

Vergleicht man die Arbeitsschutzsysteme der Länder und der Unfallversicherungsträger, stellt man zunächst einige Gemeinsamkeiten in einem dreistufigen System fest:
 

  • Bei beiden gibt es eine übergeordnete Entscheidungsebene, die mit dem Haushalt und dem Stellenplan der Überwachungsbehörde deren personelle und finanzielle Ausstattung sowie Struktur festlegt und auch Gesetze sowie Vorschriften beschließt. Bei den Ländern sind dies die Landtage und Senate, bei den Unfallversicherungsträgern die Vertreterversammlungen.
  • Wichtige fachliche Entscheidungen werden dann aufseiten der Länder in den Regierungen, bei den Unfallversicherungsträgern in den Vorständen getroffen.
  • Das Tagesgeschäft führen die Ministerinnen und Minister aufseiten der Länder, die Geschäftsführungen aufseiten der Unfallversicherungsträger – beide mit Unterstützung der für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit zuständigen Fachabteilungen.

Die Mechanismen der Entscheidungen in den Gremien unterscheiden sich dabei aber grundsätzlich: Während sich bei den Ländern die politischen Vorstellungen der jeweiligen Regierungspartei(en) in den Landtagen und Regierungen im Regelfall durchsetzen (diese haben die Mehrheit gegenüber der Opposition; relevant sind somit deren aktuelle Parteiprogramme und Koalitionsverträge), herrscht bei den Unfallversicherungsträgern das Konsenssystem vor: Da paritätisch besetzt, müssen sich die Vertretungen der Arbeitgebenden und der Versicherten (im Regelfall die Gewerkschaften) in jeder Einzelfrage auf eine gemeinsame Linie einigen. Kampfabstimmungen sind daher die Ausnahme, da bereits im Vorfeld klar ist, dass sie in einem Patt enden würden.

Daraus resultiert, dass das konsensorientierte System der gesetzlichen Unfallversicherung nicht weniger unabhängig ist als das politische System der Länder, da letzteres vom Wechsel der regierenden Parteien lebt. Hier ist grundsätzlich der strukturelle Einfluss einer Regierungspartei und ihrer Partikularinteressen für die betreffende Legislaturperiode stärker möglich als bei den Unfallversicherungsträgern, bei denen die Vertreterversammlungen im Regelfall so zusammengesetzt sind, dass alle relevanten Gruppen in den Listen berücksichtigt sind und Partikularinteressen damit neutralisiert werden. Eine Einflussnahme zugunsten eines einzelnen Mitglieds oder einer Gruppe von Mitgliedern ist in den Selbstverwaltungsorganen der Unfallversicherungsträger kaum denkbar, da die finanziellen Lasten dieser Intervention von der Solidargemeinschaft aller Betriebe getragen werden müssten. Diese würde schon aus einem Eigeninteresse solchen Abweichungen von gemeinschaftlich erstellten Regeln nicht zustimmen.

Auch stehen Regierungen deutlich stärker unter politischem und medialem Druck als die Unfallversicherungsträger. Dies hat zur Folge, dass in parteipolitiknahen Institutionen regionale und politische Überlegungen deutlich stärker Einfluss auf das Tagesgeschäft nehmen können als bei Körperschaften außerhalb der Parteipolitik.

Daher kann die These, das staatliche, politiknahe System der Überwachung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sei dem selbstverwalteten im Hinblick auf die fachliche und strukturelle Unabhängigkeit überlegen, als widerlegt angesehen werden.

Fazit und Ausblick

Auf den ersten Blick scheinen die Arbeitsweisen von Unfallversicherungsträgern und staatlichen ASV identisch – schließlich überwachen, beraten und betreuen sie teilweise die gleichen Betriebe. Betrachtet man aber die gesetzlichen Aufträge und auch die Arbeit in der Realität genauer, so stellt man zunächst fest, dass es eine Fülle von Aufgaben und Zuständigkeiten gibt, in denen sich Unfallversicherungsträger und ASV unterscheiden und damit ergänzen.

Nur bei einem kleinen Teil der Aufgaben von ASV und Unfallversicherungsträgern sind überhaupt Schnittmengen zu identifizieren – insbesondere bei der Überwachung von Betrieben mit Arbeitskräften, Angestellten oder Auszubildenden nach dem Arbeitsschutzgesetz. Aber bereits hier gibt es gravierende Unterschiede beim gesetzlichen Auftrag, der Auswahl der zu besichtigenden Betriebe, der Art der Überwachungsplanung und der Grundlagen der Überwachung. Noch deutlichere Unterschiede gibt es hinsichtlich der Struktur, der Ressourcen, der Unabhängigkeit der beiden Beteiligten und insbesondere bei der Zahl der Überwachungen.

Somit ist grundsätzlich Überwachung nicht gleich Überwachung – man kann hier eher von komplementären Bereichen sprechen. Mit der Überwachung und Beratung der Betriebe durch zwei Träger mit deutlich anderem Blickwinkel wird sichergestellt, dass wirklich alle Aspekte der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und Ausbildung berücksichtigt werden. Daher ignorieren alle Versuche einer Vereinheitlichung der Aufgaben der Unfallversicherungsträger und ASV nicht nur deren rechtliche und fachliche Grundlagen, sie schwächen auch das Gesamtsystem: Die Arbeit mit unterschiedlicher Perspektive ist kein Manko, sondern eine der Stärken des deutschen Systems zur Erhaltung der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.

Aus diesen Gründen sollte man zur Verbesserung des deutschen Arbeitsschutzsystems nicht eine Vereinheitlichung der beiden heterogenen Systeme anstreben, sondern deren komplementäre Stärken noch stärker nutzen – etwa durch die weitere Verbesserung der Zusammenarbeit insbesondere an der Basis. So haben die vielfältigen Herausforderungen während der Corona-Pandemie die Stärken der Zusammenarbeit der Unfallversicherungsträger mit Bund und Ländern deutlich werden lassen.

Die Übersicht über die Aufgaben in Abbildung 1 erinnert nicht zufällig an einen Schmetterling, der – wie auch unser duales System – zwei starke, aber unterschiedliche Flügel braucht, um gut voranzukommen.

Literatur

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2015. Unfallverhütungsbericht Arbeit, (SuGA 2015), 2. Auflage, Dortmund, 2016, www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Suga-2015.html (abgerufen am 30.03.2023).

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2018. Unfallverhütungsbericht Arbeit, (SuGA 2018), 2. Auflage, Dortmund, 2020, www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Suga-2018.html (abgerufen am 30.03.2023).

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2019. Unfallverhütungsbericht Arbeit, (SuGA 2019), Dortmund, 2020, www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Suga-2019.html (abgerufen am 30.03.2023).

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV): Präventionsleistungen der Unfallversicherungsträger der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, Berlin, 2019

Quellen zur Struktur der Aufsichtssysteme der Länder (abgerufen am 29.03.2023):
www.lubw.baden-wuerttemberg.de; www.freistaat.bayern.de; www.berlin.de; www.arbeitswelt.hessen.de; www.mags.nrw.de; www.gewerbeaufsicht.niedersachsen.de sowie www.mastd.rlp.de