Sicherheits- und Gesundheitskompetenz – individuell und organisational

Bisherige Definitionen von Gesundheitskompetenz enthalten aus Sicht der Autorinnen und des Autors nicht alle relevanten Aspekte für den Arbeitskontext. Es wurde deshalb ein Kompetenzbegriff entwickelt, der zum einen Sicherheit und Gesundheit berücksichtigt, zum anderen einzelne Personen und ganze Organisationen betrachtet.

Neuere Entwicklungen in der Arbeitswelt wie beispielsweise die digitale Transformation oder mobiles Arbeiten bedeuten und ermöglichen deutlich mehr Flexibilität in der Arbeitsgestaltung. Das betrifft nicht nur den Arbeitsort und die Arbeitszeit, die beide bei vielen Tätigkeiten durch die Nutzung mobiler Endgeräte relativ frei gewählt werden können. Das betrifft gleichermaßen die Kommunikation im Team über Videokonferenzen oder das Lernen, das in Form von Webinaren oder Blended-Learning-Angeboten ganz anders gestaltet werden kann als bisher.

Darüber hinaus war jedoch immer schon jeder und jede Beschäftigte gefragt, an seinem oder ihrem Arbeitsplatz selbst ein Auge darauf zu haben, ob an diesem ein sicheres und gesundheitsgerechtes Arbeiten gewährleistet ist. Um tatsächlich einschätzen zu können, ob mögliche Risiken minimiert und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren gebannt sind, ist mehr vonnöten als lediglich das Wissen über Sicherheits- und Gesundheitsthemen. Es braucht Kompetenz in dem Sinne, dass vorhandenes Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten auch zielorientiert in Handlungen umgesetzt werden.[1]

Sicherheits- und Gesundheitskompetenz im beruflichen Alltag

Vermutlich kennt es jeder und jede: Wider besseres Wissen werden Gefährdungen ignoriert und Risiken eingegangen, weil die Arbeit schneller ausgeführt werden kann, weil es bequemer ist, weil es cool ist, weil … Gründe dafür gibt es viele. Im Alltag heißt das, dass eben doch der Stuhl als Leiterersatz dient, weil diese erst geholt werden müsste. Oder in puncto Gesundheit wird immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig regelmäßige Bewegung ist. Dennoch bleiben die guten Vorsätze oft auf der Strecke.

Das Handeln gegen eigenes Wissen kann gravierende Folgen haben. Möglicherweise hatte die oder der Betreffende aber noch keine Gelegenheit, eine entsprechende Kompetenz zu entwickeln, weil die Arbeitsstelle neu ist oder die im Laufe des (Arbeits-)Lebens erworbene Erfahrung fehlt.

Die Pandemie der vergangenen Jahre hat das Bewusstsein für Gesundheitsthemen stark gefördert und geprägt. Ein großer Teil der Beschäftigten musste sehr plötzlich den eigenen Arbeitsplatz in die häusliche Umgebung verlagern. Dort lagen ganz andere Arbeitsbedingungen vor als beispielsweise im Büro im Betrieb. Zudem kamen durch die Mischung von Privat- und Arbeitsleben auf oft engem Raum Gefahrenquellen dazu, die am Arbeitsplatz im Betrieb nicht vorhanden waren. Für viele Arbeitnehmende ist – das haben die Coronazeiten gezeigt – eine selbstständig vorzunehmende Einschätzung möglicher Risiken eine Herausforderung.

Individuelle Sicherheits- und Gesundheitskompetenz

Bereits im DGUV Forum 8/2020[2] wurde eine Definition vorgestellt, wie im Arbeitskontext individuelle Sicherheits- und Gesundheitskompetenz verstanden werden kann. In der umfangreich ausgewerteten Literatur finden sich nur wenige entsprechende Definitionen, die jedoch aus Sicht des Autors und der Autorinnen nicht alle für den Arbeitsschutzkontext relevanten Kriterien betrachten. Somit war eine Neuentwicklung der gewünschten Begrifflichkeit notwendig. Durch verschiedentliche Diskussionen mit und Rückmeldungen von erfahrenen Akteurinnen und Akteuren sowie Fachleuten im Arbeitsschutz hat sich die Definition gegenüber der damaligen Veröffentlichung noch einmal geringfügig geändert und sei deshalb hier wiederholt (siehe Abbildung 1):

„Individuelle Sicherheits- und Gesundheitskompetenz umfasst die kognitiven Fähigkeiten sowie die Fertigkeiten und die Motivation, in vielfältigen Situationen sicherheits- und gesundheitsrelevante Faktoren für sich und andere vorherzusehen oder zu erkennen, risikomindernde, gesundheitserhaltende und -fördernde Entscheidungen zu treffen, sowie die Selbstregulation, diese verantwortungsvoll umzusetzen.“[3]

Abbildung 1: Im Sachgebiet Beschäftigungsfähigkeit des Fachbereichs Gesundheit im Betrieb erarbeitete Definition von individueller Sicherheits- und Gesundheitskompetenz | © DGUV
Abbildung 1: Im Sachgebiet Beschäftigungsfähigkeit des Fachbereichs Gesundheit im Betrieb erarbeitete Definition von individueller Sicherheits- und Gesundheitskompetenz ©DGUV

Die in dieser Definition verwendeten Begrifflichkeiten bedürfen einer Erläuterung, um sie auf den Kontext der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit beziehen zu können:

Angeborene Fähigkeiten, erworbene Fertigkeiten oder auch erlerntes Wissen sind wesentliche Bestandteile von Kompetenz. Da Kompetenz handlungsorientiert verstanden wird, reicht es aber nicht aus, sich mit Sicherheits- und Gesundheitsthemen zu beschäftigen oder diese zu „lernen“. Zusätzlich muss die Motivation vorhanden sein, entsprechendes Wissen und gewonnene Erkenntnisse in Handlung umzusetzen. Darüber hinaus ist wesentlich, dass sich der präventive Blick für risikobehaftete und potenziell gesundheitsschädliche Situationen nicht nur auf die eigene Person, sondern auch auf weitere Personen in der Arbeitsumgebung und im Umfeld, wie Kollegen und Kolleginnen oder Kooperationspartner, bezieht. Erworbene Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten befähigen die Person, Entscheidungen zum eigenen Schutz und dem der anderen zu treffen. Gleiches gilt für die aus den Entscheidungen resultierenden Handlungen. Ob und wie dies gelingen kann, hängt davon ab, ob die Person ihr Verhalten möglichst gut an die Anforderungen der Situation anpassen und regulieren kann. Dazu gehört auch – wenn nötig –, eigene Gefühle, Bedürfnisse oder Ziele zurückzustellen.

Organisationale Sicherheits- und Gesundheitskompetenz

Die Arbeitsgrundlage des Sachgebiets Beschäftigungsfähigkeit im DGUV Fachbereich Gesundheit im Betrieb beinhaltet das Verständnis, dass Sicherheits- und Gesundheitskompetenz einer der Schlüsselfaktoren für Beschäftigungsfähigkeit ist.[4] Dabei wird diese Kompetenz nicht nur den einzelnen Arbeitnehmenden zugerechnet. Das Sachgebiet sieht die Notwendigkeit einer entsprechenden Kompetenz auch aufseiten der Arbeitgebenden beziehungsweise der Organisation. Wie aber kann eine Organisation sicherheits- und gesundheitskompetent agieren? Ist es möglich, die entscheidenden Begriffe in der Definition für individuelle Sicherheits- und Gesundheitskompetenz auf eine Organisation zu übertragen?

In der Literatur finden sich bereits Erwähnungen der Gesundheitskompetenz von Organisationen. Überwiegend sind damit aber Organisationen des Gesundheitssystems gemeint, die die Gesundheitskompetenz ihrer Zielgruppe durch Information, Beratung, Bildung und Anleitung aktiv fördern sollen. Aus Sicht der Autorinnen und des Autors dieses Artikels ist organisationale Gesundheitskompetenz weiter zu fassen. Das betrifft nicht nur die Ergänzung des Sicherheitsaspekts, sondern auch die Anwendung auf die Arbeitswelt.

Entsprechend der Ausprägung von Fähigkeiten und Fertigkeiten auf individueller Ebene bildet das gesammelte Wissen um Sicherheit und Gesundheit einer Organisation die Basis für ihr Vermögen und ihre Bereitschaft, etwas zu initiieren und umzusetzen. Dabei weiß man in der Präventionsarbeit, dass es nicht mit der Realisierung einzelner Maßnahmen wie zum Beispiel einer punktuellen Risikobetrachtung einer Maschine oder der Veranstaltung einzelner Gesundheitstage getan ist. Vielmehr bedarf es innerhalb der Organisation eines ganzheitlichen Ansatzes, der sich im Aufbau einer Sicherheits- und Gesundheitskultur manifestieren kann. Jeder Betrieb hat „a priori“ durch seinen Umgang mit Sicherheits- und Gesundheitsfragen eine solche Kultur. Die organisationale Kompetenz zielt jedoch darauf ab, eine möglichst positive und in ihren Maßnahmen erfolgreiche Kultur zu schaffen, die sich kontinuierlich verbessert. Durch die aktuellen Entwicklungen in der Arbeitsgestaltung, insbesondere in neuen Arbeitsformen, kann dieses Anliegen sehr komplex und herausfordernd sein.

Die daraus resultierenden Handlungen auf der organisationalen Ebene sind vorrangig durch die Gestaltung der Arbeitsbedingungen bestimmt, erfordern also vor allem verhältnispräventive Maßnahmen. Nicht nur, dass die Arbeitnehmenden möglicherweise an ganz unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten arbeiten. Auch erfordern die Nutzung neuer Technologien wie digitale oder virtuelle Darstellungen von Arbeitsanleitungen und -situationen, Fernwartungen oder die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) ein hohes Maß an Einschätzungsvermögen von Risiken und Gesundheitsgefahren aller Beteiligten.

Die Bereitschaft einer Organisation zur Schaffung einer erfolgreichen Sicherheits- und Gesundheitskultur hängt von allen Angehörigen dieser Organisation ab. Geprägt wird sie jedoch maßgeblich von der Unternehmensführung. Deren Bereitschaft zur Schaffung einer solchen Kultur kommt insbesondere dadurch zum Ausdruck, dass sie Arbeitsschutz als selbstverständlich und langfristig lohnende Investition ansieht. Hier spielen zum einen verpflichtende Vorgaben aus Gesetzen und Regelwerken eine Rolle. Zum anderen sind für Unternehmen primär wirtschaftliche Ziele relevant. Die Schaffung und kontinuierliche Verbesserung einer Sicherheits- und Gesundheitskultur können ebenso an ökologischen Zielen ausgerichtet werden oder an selbst gesteckten betrieblichen Arbeitsschutzzielen, die über die Pflicht hinausgehen.

Die Sicherheits- und Gesundheitskultur ist nach dem Verständnis des Sachgebiets Beschäftigungsfähigkeit nicht mit der Präventionskultur in einem Unternehmen identisch. Dem Verständnis der vor einigen Jahren von der DGUV vorangetriebenen Präventionskampagne „kommmitmensch“ gemäß umfasst Präventionskultur die Bereiche Führung, Kommunikation, Fehlerkultur, Betriebsklima sowie Beteiligung und blickt somit eher von einer übergeordneten Warte aus auf den Stellenwert von Sicherheit und Gesundheit.[5] Damit ist der Begriff deutlich weiter zu fassen als bei der hier eingeführten Sicherheits- und Gesundheitskultur.

Die Übertragung der zentralen Begriffe aus der Definition der individuellen Sicherheits- und Gesundheitskompetenz auf die organisationale Ebene führt zusammengefasst zu folgender Definition (Abbildung 2):

„Organisationale Sicherheits- und Gesundheitskompetenz ist die Bereitschaft und das Vermögen einer Organisation zur Schaffung einer Sicherheits- und Gesundheitskultur, um komplexe Anforderungen erfolgreich bewältigen zu können. Die Bewältigung gelingt, wenn Rahmenbedingungen entsprechend gestaltet sowie individuelle Sicherheits- und Gesundheitskompetenzen der Angehörigen der Organisation eingebracht werden.

Die organisationale Sicherheits- und Gesundheitskompetenz ist somit ‚mehr‘ als die Summe der Sicherheits- und Gesundheitskompetenzen der zur Organisation gehörenden Personen. Organisationale und individuelle Ebene beeinflussen sich gegenseitig und führen, im positiven Fall, zu einer neuen Qualität der Arbeitsbedingungen und eines sicheren und gesunden Miteinanders (Kultur der Prävention). Diese neue Qualität kann die individuellen Sicherheits- und Gesundheitskompetenzen verbessern.“

Abbildung 2: Übertragung der Faktoren aus der individuellen Sicherheits- und Gesundheitskompetenz auf die organisationale Ebene | © DGUV
Abbildung 2: Übertragung der Faktoren aus der individuellen Sicherheits- und Gesundheitskompetenz auf die organisationale Ebene ©DGUV

Verbindung von individueller und organisationaler Kompetenz

Die hier vorgestellten Kompetenzen auf organisationaler und auf individueller Ebene beeinflussen sich gegenseitig.

Wenn in einer Organisation keine oder nur sehr wenige Personen über individuelle Sicherheits- und Gesundheitskompetenz verfügen, kann auch die entsprechende organisationale Kompetenz kein hohes Level erreichen. Selbst wenn alle Angehörigen der Organisation eine ausgeprägte und gute Sicherheits- und Gesundheitskompetenz aufweisen, führt das nicht zwangsläufig zu einer guten organisationalen Kompetenz.

Gleichermaßen gilt: In einer Organisation mit geringer organisationaler Sicherheits- und Gesundheitskompetenz können die Mitarbeitenden ihre individuelle Sicherheits- und Gesundheitskompetenz weder optimal entwickeln noch optimal weiterentwickeln.

Im besten Fall jedoch ist die Kompetenz auf organisationaler Ebene etwas qualitativ Neues, das mehr als die Summe der Einzelkomponenten ist und auch die individuellen Kompetenzen stetig weiterentwickelt.

Sicherheit und Gesundheit, beides wird gebraucht

Die anfangs kurz skizzierten Beispiele von Fehleinschätzungen in gefährlichen Situationen am Arbeitsplatz zeigen, dass eine Kompetenz allein in Bezug auf Gesundheit unter Auslassung der Sicherheit nicht ausreicht, um sichere und gesunde Arbeitsbedingungen sowie entsprechendes Verhalten zu schaffen. Im Kontext von Arbeit ist folglich eine Kompetenz erforderlich, die beides – Sicherheit und Gesundheit – einschätzen kann und zu entsprechenden Handlungen führt. Auf diese Erweiterung des bisher vorrangig genutzten Begriffs der Gesundheitskompetenz für den Kontext der Arbeit (siehe Abbildung 3) haben sich die Präventionsleitungen der Unfallversicherungsträger verständigt.

Abbildung 3: Es sollte immer ein Verständnis für beides, Sicherheit und Gesundheit, vorhanden sein, und zwar sowohl auf individueller als auch organisationaler Ebene. | © DGUV
Abbildung 3: Es sollte immer ein Verständnis für beides, Sicherheit und Gesundheit, vorhanden sein, und zwar sowohl auf individueller als auch organisationaler Ebene. ©DGUV

Fazit und Ausblick

Bisherige gängige Definitionen von Gesundheitskompetenz enthalten nicht alle relevanten Aspekte für den Arbeitskontext im Regelungsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung. Da es im Arbeitsschutz sowohl darum geht, ein möglichst hohes Sicherheitsniveau zu erreichen, als auch darum, Gesundheit zu erhalten und bestenfalls zu fördern, wurde entsprechend ein Kompetenzbegriff entwickelt, der beides berücksichtigt. Damit einher geht eine stärkere Beachtung der Verhältnisprävention als zuvor, die insbesondere im organisationalen Kontext eine Rolle spielt.

Bisher sind die beiden Definitionen theoretisch hergeleitet. Der Theorie muss nun die Implementierung in die Praxis folgen. 

Es gilt, gute Beispiele zu sammeln, die eine entwickelte Sicherheits- und Gesundheitskompetenz erkennen lassen. Außerdem muss eine entsprechende Kompetenzentwicklung in Bildungseinrichtungen noch stärker in den Fokus gerückt werden. Gegebenenfalls wird die Frage beantwortet werden müssen, welchen Nutzen die Erweiterung des Kompetenzbegriffs insgesamt für die Praxis bietet.