Gemeinsam verleihen wir unseren Anliegen in Europa mehr Gewicht
Im kommenden Jahr wird das Europäische Forum der Versicherungen gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten 30 Jahre alt. Wir sprachen mit seiner amtierenden Präsidentin, der stellvertretenden DGUV-Hauptgeschäftsführerin Dr. Edlyn Höller, über Chancen und Herausforderungen für Unfallversicherer in Europa.
Frau Dr. Höller, 2022 wird das Europäische Forum Unfallversicherung 30 Jahre alt. Kurz vor diesem Jubiläum haben die Mitglieder nun eine beispiellose Herausforderung zu bewältigen: die COVID-19-Pandemie. Wie schlagen sich die Mitglieder in der Krise?
Die Pandemie ist tatsächlich eine enorme Herausforderung für alle. Aber sie hat auch gezeigt: Es ist gut, dass es eine Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten gibt. Natürlich mussten alle Unfallversicherungsträger in Europa zunächst das Tagesgeschäft unter Infektionsschutzbedingungen organisieren. Die eigentliche Herausforderung bestand und besteht aber darin, erkrankten Versicherten Unterstützung anzubieten. Insbesondere Beschäftigte im Gesundheitswesen und in der Pflege sind häufig betroffen. Dass diese Menschen – im Englischen sagt man „frontline workers“ – sich dabei auf den Schutz ihrer Unfallversicherung verlassen können, ist wichtig in dieser historischen Ausnahmesituation. Nicht umsonst hat Arbeitsminister Hubertus Heil die Unfallversicherung bei der Eröffnung der Konferenz des Forums für ihren Beitrag zur Bewältigung der Pandemie gelobt.
Bei der Konferenz im Juni haben Sie sich neben der Pandemie vor allem mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt.
Ja, egal wo wir in der Unfallversicherung hinschauen, Digitalisierung spielt immer eine Rolle. Sogar bei Berufskrankheiten. Spätestens wenn man sich mit dem Einfluss von Arbeit auf die Gesundheit befasst – was machen ständige Erreichbarkeit, Überforderung, mobiles Arbeiten mit uns? –, ist die Digitalisierung ein Thema.
Das Thema lädt zum Vergleich ein. Wie ist die deutsche Unfallversicherung im internationalen Vergleich aufgestellt?
Wir haben in Deutschland bereits einiges auf den Weg gebracht – die elektronische Unfallanzeige oder den digitalen Lohnnachweis zum Beispiel. Wenn man sich aber anschaut, was in den nordischen und baltischen Ländern passiert, sieht man, dass in Sachen E-Government und elektronischer Datenaustausch noch mehr möglich ist. Für mich ist das aber nicht die größte Herausforderung auf diesem Feld, denn wir haben ja die Beispiele aus anderen Ländern, von denen wir lernen können. Das macht das Netzwerk des Europäischen Forums so wertvoll.
Noch spannender finde ich allerdings die Nutzung der künstlichen Intelligenz, um unsere eigenen Prozesse zu verbessern. KI bietet interessante Möglichkeiten, wie wir bei unseren Kollegen von der Schweizer Suva oder in Deutschland bei der BG ETEM sehen konnten.
Interessant ist, dass Sie gerade „Herausforderung“ sagten und nicht etwa „Chance“.
Stimmt. Es gibt hier einen Dualismus: Chance einerseits – wenn man KI benutzt, um zum Beispiel Standardprozesse automatisiert ablaufen zu lassen oder um in Unmengen von Daten und Informationen, die ein Mensch allein nicht aufnehmen und verarbeiten könnte, Muster zu erkennen und daraus neue Erkenntnisse zu generieren.
Herausforderung andererseits, denn wir müssen einen Bias in der jeweiligen Anwendung vermeiden.
Sie meinen, dass KI Menschen systematisch bevorteilt oder benachteiligt.
Genau. KI ermöglicht, dass wir uns ein Stück weit vom Menschen als Entscheider lösen. Menschen machen natürlich auch Fehler. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass einem das auch mit KI passieren kann. Dass KI per se vorurteilsfrei handelt, ist eine Illusion. Die große Herausforderung ist, Bias zu verhindern, indem wir die KI mit den richtigen Daten und Ausgangsoptionen füttern – und das Ganze dann so machen, dass es nachvollziehbar und damit auch justiziabel ist. Das ist für eine staatliche Institution, die auf dem Boden des Rechts steht, besonders wichtig.
Würde es eigentlich eine Rolle spielen, ob ein Mensch oder eine Software entscheidet?
Ich denke, das ist nicht zuletzt eine Frage der Akzeptanz des Ergebnisses. Ein wesentlicher Punkt für die Akzeptanz von Entscheidungen ist, dass ich sie nachvollziehen kann. Ein Mensch kann erklären, wie er zu seinen Schlüssen kommt, warum er wie entschieden hat. Nicht umsonst sind Bescheide zu begründen. Die Blackbox KI gibt keine Begründung. Ob es für die rechtsstaatlichen Anforderungen ausreichen würde, dass der Algorithmus offengelegt wird, ist bereits fraglich. Aber selbst dann: Eine 300-seitige Dokumentation, wie die KI Entscheidungen trifft, würde einem normalen Menschen nicht helfen, sie zu verstehen.
Insofern geht es in einem ersten Schritt darum, KI zu nutzen, um Entscheidungen vorzubereiten beziehungsweise Sachverhalte und Wissen aufzubereiten, und dem menschlichen Bearbeiter zur Verfügung zu stellen. Dieser entscheidet dann.
Um die Chancen der Digitalisierung nutzen zu können, braucht es einen innovationsfreundlichen Rechtsrahmen. Den Rechtsrahmen setzt im Wesentlichen Brüssel. Muss das Europäische Forum vor diesem Hintergrund nicht seine Rolle verändern? Von der Austauschplattform hin zur Interessenvertretung?
Vom Grundsatz her ist das Forum als gemeinsame Interessenvertretung angelegt. Ziel meiner Präsidentschaft war und ist es, diese Seite des Forums wieder nach vorn zu bringen. Sie ist ja das große Pfund des Europäischen Forums: Man hat die Chance, gemeinsam in Europa vorzusprechen. Gemeinsam verleihen wir unseren Anliegen mehr Gewicht, als wenn jeder alleine vorstellig wird. In der Vergangenheit ist uns ein solch gemeinsames Vorgehen auch schon gelungen: So sind wir beispielsweise in einer konzertierten Aktion gegen die Pläne der EU, die Mehrwertsteuer auf soziale Dienstleistungen auszuweiten, vorgegangen. Voraussetzung für gemeinsames Handeln ist allerdings: Man muss ständig in Kontakt bleiben, es muss ein Thema geben, das alle angeht, und es muss den entsprechenden Willen geben.
Wo sehen Sie Entwicklungen von solch übergreifender Bedeutung?
Plattformarbeit ist so ein Feld, weil es von vornherein ein länderübergreifendes Thema ist. Dann die Frage: Wie geht es weiter mit der Säule sozialer Rechte? Europa hat zwar dezidiert keine Kompetenz im Bereich der Systeme der sozialen Sicherheit. Die EU hat aber viele Wege gefunden und sucht sie auch weiter, auf diesem Feld tätig zu werden. Zum Beispiel über Konsultationsverfahren, eine großzügige Auslegung vorhandener Kompetenzen in angrenzenden Politikfeldern oder die offene Methode der Koordinierung. Wir müssen gemeinsam beobachten, was passiert da? Deswegen gibt es im Forum eine neue Unterarbeitsgruppe der Working Group Legislation mit dem Namen EU Policy. Hier wollen wir uns nicht nur untereinander austauschen. Wir wollen uns ganz gezielt anschauen, welche Initiativen die EU anstößt, uns gegenseitig informieren und gegebenenfalls auch gemeinsam reagieren.
Wie sehen Sie die längerfristige Entwicklung? Eine der Sessions der Konferenz warf ja den Blick in die Glaskugel: auf das Jahr 2050.
Europa tendiert dazu, im Rahmen der Verträge immer mehr Kompetenzen im Bereich der sozialen Sicherheit an sich zu ziehen – wobei das eine großzügige Auslegung der Verträge ist. Wenn sich das fortsetzt, könnte man spekulieren, ob es 2050 tatsächlich nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Sozialunion gibt. So etwas würde natürlich viele Folgefragen aufwerfen, zum Beispiel wer für die Finanzierung der sozialen Sicherheit Verantwortung trägt.
Neben Digitalisierung und der Zukunft der Unfallversicherung wurde auf der Konferenz auch über Berufskrankheiten gesprochen. Wie sieht es da aktuell aus?
Berufskrankheiten sind nach wie vor das Feld, wo wir am meisten voneinander entfernt sind. Anders als bei den Arbeitsunfällen. Da ist zumindest die grundsätzliche Systematik überall die gleiche. Nicht jedes Unfallversicherungssystem baut auf der Idee der Haftungsablösung auf und selbst die, die diese Idee gemein haben, bewerten Haftung im Falle von Erkrankungen unterschiedlich. Da ist es schwer, versicherungsrechtlich eine gemeinsame Linie zu finden.
Eigentlich überrascht das. Denn die naturwissenschaftlichen Wirkmechanismen sind ja überall die gleichen.
Das ist richtig. Eine Asbestfaser ist in Spanien oder Polen genauso gefährlich wie bei uns. Und die Sonnenstrahlung ist zwar in Intensität und Dauer von Region zu Region verschieden und trifft auf unterschiedliche Hauttypen, kann aber überall Hautkrebs verursachen. Die Frage, welcher Einwirkung welche rechtliche Bedeutung zugemessen wird, ist allerdings keine rein naturwissenschaftliche. Sie hängt von der jeweiligen Rechtssystematik und auch vom Aufbau des jeweiligen sozialen Sicherungssystems ab.
Heißt das, Sie sehen für Zusammenarbeit auf diesem Feld keine Perspektive?
Doch. Aber eher in der Prävention. Da haben wir unheimliche Möglichkeiten, wenn wir unser Wissen, unsere Kompetenzen zusammennehmen, gemeinsam forschen und gemeinsam Informationen generieren. Gerade mit Blick auf neue Gefahrstoffe sehe ich hier großes Potenzial. Die Erforschung und Nutzung innovativer Materialien haben sich in den vergangenen Jahren enorm beschleunigt. Schritt halten können wir angesichts dieser Entwicklung besser gemeinsam.
Ein weiteres Thema, das aktuell überall diskutiert wird, sind die beruflichen Einwirkungen auf die Psyche und deren Einfluss auf die Gesundheit. Die Grundprobleme sind dabei überall die gleichen: dass die Grenzen zwischen beruflichen und privaten Einflüssen fließend sind und dass nicht alles für jeden gleich belastend ist. Auch hier ist der Austausch über die verschiedenen Präventionsansätze überaus wertvoll.
Ihre Amtszeit als Präsidentin des Europäischen Forums geht noch bis Ende des Jahres. Wie geht es in dieser Zeit weiter?
Die Konferenz hat eine Menge Input ergeben. Diesen wollen wir aufgreifen. Unser Ziel war ja, Fragestellungen und Aufgaben für die Working Groups des Forums zu identifizieren. Diese sind zusammengefasst in der „Berlin Agenda“. Die Working Groups können diese nun schrittweise aufgreifen. Unsere Hoffnung ist, dass wir bereits bei der nächsten Konferenz – 2022 in Moskau – erste Ergebnisse sehen werden.
Frau Dr. Höller, ich bedanke mich für das Gespräch.
Das Interview führte Stefan Boltz, DGUV