Wie weit ist die Digitalisierung in deutschen Unternehmen schon angekommen?
Die digitale Transformation verändert die Arbeitswelt. In einer Auswertung von mehr als 90 Studien der vergangenen drei Jahre wurde untersucht, wie weit sie in deutschen Unternehmen bereits fortgeschritten ist und sich auf Sicherheit und Gesundheit auswirkt.
Was gehört zur Digitalisierung?
Auf die Frage, was in Unternehmen oder Organisationen Digitalisierung ausmacht, fallen den meisten Menschen einzelne technische Errungenschaften ein. Man ist per Smartphone ortsunabhängig erreichbar oder mit dem Internet verbunden. 3D-Drucker können schnell und ohne Logistikaufwand Ersatzteile an den Ort „liefern“, an dem diese benötigt werden. Drohnen ermöglichen der Dachdeckerin einen Blick auf das Hausdach, ohne dass sie hinaufsteigen muss. Maschinen arbeiten selbstständig vernetzt und können ferngewartet werden. Erste Roboter-Exoskelette geben dem Nutzer oder der Nutzerin Rückmeldung über ergonomische Bewegungsabläufe. Die Beispiele zeigen, dass solche technischen Neuerungen auch Konsequenzen für die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit haben.
Die vielfältigen mit Digitalisierung verbundenen Entwicklungen sind bisher in unterschiedlichem Ausmaß in Produktion und Dienstleistung verbreitet. Laptops und Smartphones sind bereits gängig. Im Vergleich dazu steht der Markt für aktive Exoskelette oder Datenbrillen noch relativ am Anfang, um nur ein paar Beispiele aufzugreifen.
Die neuen Entwicklungen schreiten rapide voran. Es ist nicht einfach, in gleicher Geschwindigkeit ihre Auswirkungen auf die Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit auszuloten. Um bei den genannten Beispielen zu bleiben: Untersuchungen mit Exoskeletten zeigen bisher keine eindeutigen Ergebnisse hinsichtlich physischer Entlastung. Auch der Einsatz von Datenbrillen überzeugt nur zum Teil. In der Nutzung werden vorläufig noch Tablets bevorzugt. Studien, die die Sicherheit und Gesundheit betreffen, wurden fast ausschließlich im Labor durchgeführt und nicht im Feld. Sie zeigen zudem häufig keine eindeutigen Ergebnisse.
Die Einsatz- oder Anwendungsfelder für neue Technik können sehr unterschiedlich sein (Abbildung 1). Das leuchtet in Bezug auf Information und Kommunikation (IuK) unmittelbar ein, gilt aber gleichermaßen zum Beispiel für Roboter. Diese werden schon lange in der Autoproduktion eingesetzt, ihre „Kollegen“ erobern langsam aber auch den Pflegebereich. Welche Nutzung jeweils im Vordergrund steht oder wie Techniken miteinander vernetzt werden, bestimmt ganze Technologiefelder in Aufbau und Einsatzzweck, in Abbildung 1 „Technologien“ genannt. Möglicherweise lassen sich Technologiefelder und Anwendungsfelder nicht in jedem Fall scharf voneinander abgrenzen. Die Begriffswahl soll jedoch verdeutlichen, dass es unterschiedliche Perspektiven auf das Thema gibt.
Daneben spielen ebenso die Arbeitsformen für den Einsatz innovativer Technik eine Rolle. Smartphone und Laptop beispielsweise ermöglichen Arbeiten zu jeder Zeit an jedem Ort, also ein hohes Maß an Flexibilität. Gleichzeitig dienen sie dem Akquirieren von Aufträgen: So können Clickworkerinnen und Clickworker per Computer von einem Ort aus weltweit ihre Expertise anbieten.
Wo in Unternehmen nimmt Digitalisierung zu?
In Abhängigkeit von Branche und Größe sind die Unternehmen mehr oder weniger von der digitalen Transformation betroffen. Je nachdem, ob eher Kreativität gefragt oder vorrangig Standardisierung möglich ist, bestimmt die Digitalisierung die betrieblichen Prozesse in industrieller Produktion, im Dienstleistungsgewerbe oder im Handwerk in unterschiedlichem Maß: in der Wertschöpfungskette (Input, Leistungserstellung, Output), in der IT-Infrastruktur oder im Management einschließlich des Gewinnens und Koordinierens von Personalressourcen (Abbildung 2). Um den Stand der Digitalisierung abzubilden, reicht es also nicht aus, punktuell den Einsatz neuer Technik zu betrachten, sondern die Analyse muss prozessgeleitet erfolgen.
Einzelne Techniken und Anwendungsfelder – zum Beispiel Smartphone und Laptop, Informationsrecherchen im Internet – werden in fast allen Unternehmen in allen Geschäftsbereichen seit Langem genutzt. Je nachdem, wie diese intern miteinander oder mit Externen (insbesondere Einkauf und Vertrieb) kommunizieren, ob sie miteinander vernetzt sind, auf gemeinsame Daten oder Datenbanken zugreifen, oder an verschiedenen Teilen der Wertschöpfungskette greifen, kommen unterschiedliche Technologien zum Einsatz.
Literaturstudie zum Thema
Eine vom Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG) in Auftrag gegebene Literaturrecherche (durchgeführt von der Content5 AG) sollte die Frage beantworten, in welchem Umfang und in welcher Tiefe Digitalisierung bereits in Unternehmen unterschiedlicher Größe in Deutschland angekommen ist. Dabei wurden folgende betriebliche Bereiche unterschieden (Abbildung 2):
- der Wertschöpfungsprozess, inklusive Einkauf, Leistungserstellung, Marketing, Vertrieb
- die IT-Infrastruktur
- das Management, inklusive Personalwesen
- die Entwicklung innovativer Produkte und Angebote
Insbesondere war es Ziel der Recherche, Auswirkungen der zunehmenden Digitalisierung auf Sicherheit und Gesundheit zu erkennen.
Insgesamt wurden 92 Studien, vorrangig Befragungen von wissenschaftlichen Einrichtungen, Ministerien und Behörden, aus den vergangenen drei Jahren ausgewertet. Erstaunlicherweise kommt die deutliche Mehrheit der Studien ohne eine konkrete Definition oder Beschreibung darüber aus, was sie unter „Digitalisierung“ versteht. Das erschwert den Vergleich der Ergebnisse.
Es zeigte sich, dass – und das ist keine Überraschung – größere Unternehmen stärker digitalisiert sind als kleinere. Größere Unternehmen scheinen eher von einem ganzheitlichen Digitalisierungsverständnis im Sinne einer digitalen Transformation auszugehen. Wird gefragt, aus welcher Perspektive Unternehmen das Thema Digitalisierung angehen, so zeigt sich: Über alle Unternehmensgrößen hinweg dominiert eine technologiezentrierte Perspektive, die auch den Einsatz einzelner Tools oder Techniken umfasst. Großunternehmen nennen ähnlich häufig die Perspektive einer Gesamttransformation der Geschäftsmodelle oder Key Performance Indicators, was auf einen breiteren Digitalisierungsansatz hindeutet.
Eine vielversprechende Herangehensweise besteht darin, den Digitalisierungsgrad von Unternehmen mit einem Digitalisierungsindex zu erfassen. Mehrere Studien sind so vorgegangen und errechnen ähnliche mittlere Indexwerte um 55 auf einer Skala von 0 bis 100. Jedoch werden die Indizes aus unterschiedlichen Items gebildet, sodass die Werte wiederum nicht unmittelbar miteinander verglichen werden können.
Es zeigt sich ferner, dass das Ausmaß der digitalen Durchdringung entscheidend von der Branche und der Ausrichtung des Betriebs abhängt. Je nach Studie ist die Durchdringung bei Versicherungen und Banken, im IuK-Bereich und bei naturwissenschaftlichen Dienstleistungen hoch. Dazu stellt eine Umfrage des BKK Dachverbands fest, dass sich Beschäftigte in solchen Bereichen, in denen viel digitale Technik genutzt und mobil oder von zu Hause aus gearbeitet, am stärksten belastet fühlen.[1] Im DGB-Index „Gute Arbeit“[2] werden Arbeiten unter Zeitdruck sowie häufige Störungen und Unterbrechungen als Belastungsfaktoren genannt. „Digitaler Stress“ ist in diesem Zusammenhang eine Wortprägung, die das Unvermögen meint, mit neuer Technologie in einer gesunden Art umzugehen. Keine einheitliche Aussage findet sich zur Frage, welche Branchen den geringsten Digitalisierungsgrad aufweisen.
Einschätzungen, welche betrieblichen Bereiche (Abbildung 2) vorrangig digitalisiert sind, differieren. Zum einen werden in den Studien die Unternehmensbereiche unterschiedlich abgegrenzt. Zum anderen fällt auf, dass der gesamte Betriebsbereich der IT-Infrastruktur in mehreren Befragungen nicht erfasst wurde, die Nutzung einzelner IT-Anwendungen jedoch stark berücksichtigt ist.
Am häufigsten wird die Digitalisierung im Bereich der Wertschöpfung untersucht, am wenigsten im Entwicklungsprozess neuer Produkte. Dabei unterscheiden sich die Intensität der digitalen Durchdringung und ihre Folgen wiederum je nach betrieblichem Bereich: So berichten laut einem Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) von 2016.[3] Beschäftigte in Produktion und Service häufiger über einen Anforderungsrückgang und befürchten eher einen Arbeitsplatzverlust als solche aus Verwaltung und Vertrieb. Allerdings hängen die Ergebnisse erneut an der Definition, was unter Digitalisierung verstanden wird: Mancher Dienstleistungsbetrieb im Bürobereich sieht bereits im Faxen per Computer ein Indiz für zunehmende Digitalisierung.
Die Vernetzung von Bereichen oder Prozessen, sowohl innerhalb eines Unternehmens als auch mit Externen, wurde so gut wie nicht untersucht.
Ergebnisse der Literaturstudie mit Bezug zu Sicherheit und Gesundheit
Nur 15 der 92 einbezogenen Studien haben Auswirkungen der Digitalisierung auf Sicherheit und Gesundheit untersucht. Über fast alle diese Studien hinweg besteht Konsens, dass die zunehmende Digitalisierung zu erhöhter psychischer Belastung führt, und zwar vorrangig durch erweiterte Erreichbarkeit und digitalen Stress. Die Belastungsfaktoren korrelierten zum Teil signifikant mit Erschöpfung, kognitiven und emotionalen Irritationen, Niedergeschlagenheit, Nicht-abschalten-Können, mangelnder Erholungsfähigkeit und subjektiv schlechter Schlafqualität.
Heterogene Effekte zeigen sich hinsichtlich der Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort. Während eine Studie ein signifikant häufigeres Leiden an Erschöpfung, Wut und Verärgerung bei mobil Arbeitenden konstatiert, stellt eine andere eine geringere emotionale Erschöpfung fest.
Dass sich physische Belastungen im Zuge der Digitalisierung verringern, da schwere körperliche Arbeiten zunehmend von Maschinen übernommen werden, wird häufig beweislos angenommen. Keine der einbezogenen Studien hat diesen Zusammenhang jedoch anhand konkreter Faktoren untersucht. Allerdings wurden in die Literaturrecherche auch nur Befragungen und keine Belastungsmessungen einbezogen. Messungen erfolgten bisher im Wesentlichen nur unter Laborbedingungen beziehungsweise als Einzeluntersuchungen an definierten Arbeitsplätzen. Bisher gibt es so gut wie keine statistisch auswertbaren Ergebnisse aus Felduntersuchungen.
Hinzu kommt, dass sich die Mehrzahl der relevanten Studien nicht mit den konkreten Wirkungen auf den arbeitenden Menschen befasst, sondern mit durch die Digitalisierung veränderten Belastungen, die gesundheitliche Folgen auslösen können. So wurde festgestellt, dass die zunehmende Digitalisierung der Arbeit
- zur Steigerung der Arbeits- und Informationsmenge führt, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen, und Arbeitsprozesse tendenziell komplexer geworden sind.
- zu einer Verbesserung der Work-Life-Balance führt. Die Ergebnisse sind jedoch nicht eindeutig. Die mit erweiterter Erreichbarkeit einhergehende Entgrenzung zwischen Beruf und Privatleben beispielsweise wird mehrheitlich als stressauslösend empfunden.
- Überwachung und Leistungskontrolle ermöglicht und bewirkt.
- Ablenkungen und Unterbrechungen bei der Arbeit fördert.
Die Betrachtung der auslösenden Belastungsfaktoren kann erste Hinweise für präventive Maßnahmen geben.
Fazit und Ausblick
Insgesamt gibt es eine Vielzahl an Ergebnissen zum Thema der digitalen Durchdringung von Unternehmen, die aber wenig einheitliche Tendenzen aufweisen. Zudem gehen die verschiedenen Branchen und Unternehmensgrößen von unterschiedlichen Digitalisierungsbegriffen aus.
Für die Präventionsarbeit der Unfallversicherungsträger (UVT) ist eine einheitliche Definition vermutlich nicht zwingend notwendig. Erforderlich ist aber eine Zusammenstellung und Systematisierung aller Aspekte, die die digitale Transformation prägen und gleichzeitig für Sicherheit und Gesundheit relevant sind. Dies sind Aspekte, die mit den in der Arbeitswelt und konkret am Arbeitsplatz auftretenden Veränderungen einhergehen, Belastungen für den arbeitenden Menschen darstellen und zu Beeinträchtigungen führen können. Viele dieser Belastungen hängen eher mit diesen Veränderungen als mit den branchenspezifischen Tätigkeiten zusammen. Die Gliederung in Abbildung 1 könnte in einem ersten Schritt die Grundlage für eine systematische Erfassung bilden. Die Unfallversicherungsträger haben durch ihre betrieblichen Kontakte den Überblick, welche Techniken und Technologien in den unterschiedlichen Anwendungsfeldern im Kontext der unterschiedlichen Arbeitsformen eingesetzt werden. Durch eine anschließende Verbindung der Perspektiven aus Abbildung 1 mit den betrieblichen Bereichen aus Abbildung 2 ergibt sich eine branchenunabhängige Matrix. Jedes Matrixfeld könnte dann mit den entsprechenden spezifischen Gefährdungen unterlegt werden und schließlich als Basis für die Ableitung von Präventionsmaßnahmen dienen. Damit lassen sich Belastungen identifizieren, die technikorientiert erfasst sind und für die gezielt Präventionsmaßnahmen entwickelt werden können.
Eine Schwierigkeit hinsichtlich der Analyse digitaler Entwicklungen ist deren permanent wachsende Geschwindigkeit. Das hat Konsequenzen: Zum einen müssen die auf sie zurückzuführenden Belastungen fast zeitgleich erfasst, analysiert sowie entsprechende Präventionsmaßnahmen entwickelt werden. Das macht für das Erarbeiten gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse und ihre Niederlegung im Vorschriften- und Regelwerk ebenso eine neue Dynamik notwendig. Das ist auch deshalb unerlässlich, weil die nächsten neuen Entwicklungen bereits beginnen und ebenso hinsichtlich Sicherheit und Gesundheit bewertet werden müssen. „Künstliche Intelligenz“ beispielsweise ist ein Thema, das sich aktuell stark entwickelt und bisher kaum an der betrieblichen Praxis gespiegelt wurde. Zum anderen müssen zeitgleich Qualifizierungsmaßnahmen entwickelt werden, die sowohl die digitale Transformation zum Thema haben als auch in ihrer Form selbst Gegenstand der Veränderungen sind.