„Europäischer Zusammenhalt und Solidarität sind notwendiger denn je“

Deutsche Ratspräsidentschaft und europäisches Krisenmanagement in Coronazeiten. Ein Gespräch mit Ilka Wölfle, Direktorin der Deutschen Sozialversicherung Europavertretung, zu aktuellen Themen der sozialen Sicherheit in Europa.

Frau Wölfle, mit Beginn der Coronapandemie waren schnelle Entscheidungen nötig. Die haben die EU-Staaten für sich in unterschiedlicher Weise getroffen. Wie haben Sie die Handlungsfähigkeit der EU wahrgenommen?

Die Pandemie und deren Auswirkungen haben uns alle überrascht. Es stand und steht viel auf dem Spiel, was miteinander nicht einfach in Einklang zu bringen ist: das Leben und die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger, das Überleben ganzer Volkswirtschaften und nicht zuletzt fundamentale Freiheitsrechte. Die Reaktionen der Mitgliedstaaten erschienen wie ein Flickenteppich – eine Vielfalt nicht immer gut miteinander kommunizierter Maßnahmen. Dafür wurde die EU kritisiert – sie habe nicht oder zu spät reagiert. Man muss aber Folgendes bedenken: Wenn es in Notsituationen, wie der Bekämpfung des Coronavirus, um gesundheits- und sicherheitspolitische Initiativen geht, hat die EU keine großen Handlungsspielräume. Sie kann nicht viel mehr tun als koordinieren. Das hat sie auch getan.

Schon zu Beginn der Pandemie wurde eine ganze Reihe von Leitlinien und Mitteilungen veröffentlicht. Dort wo die EU mehr Spielräume hat, zum Beispiel bei den Finanzen und der Einhegung der wirtschaftlichen Folgen, hat sie finanzielle Hilfen in einer noch nie dagewesenen Höhe bereitgestellt.

Mitten in der Krise startete die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. In den Fokus gerückt sind die Stabilisierung Europas und die Vorbereitung auf mögliche neue Wellen der Pandemie. Was ist dafür nötig?

Um auf eine Herausforderung wie die Pandemie zu reagieren, sind europäischer Zusammenhalt und Solidarität notwendiger denn je. Für den Weg aus der Krise muss die EU souveräner, solidarischer und stärker werden. Eine Verbesserung des Krisenmanagements ist sicherlich auch notwendig. Auch die Fähigkeit der EU, wirksam auf neue, künftige grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren zu reagieren, sollte überdacht werden.

Deutschland hat sich seinen Vorsitz im Rat sicherlich anders vorgestellt. Die Coronapandemie hat die Prioritäten verschoben, im Vordergrund stehen nun die Eindämmung des Virus und der wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau. Deutschland hat sich deswegen zum Ziel gesetzt, bis Ende des Jahres eine Einigung zu erzielen über das zur Konjunkturbelebung vorgeschlagene wirtschaftliche und soziale Wiederaufbauprogramm „NextGenerationEU“ sowie über den Haushalt der EU – den mehrjährigen Finanzrahmen 2021 bis 2027.

Es sind natürlich auch Themen der Sozial- und Gesundheitssysteme in den Vordergrund gerückt: der Schutz für Selbstständige und Plattformbeschäftigte und die Einführung von Mindestsicherungssystemen. Aber auch Digitalisierung und der demografische Wandel sind politische Prioritäten, die zu einer gesellschaftlichen Stärkung beitragen, um besser vor möglichen neuen Wellen gerüstet zu sein.

Ilka Wölfle ist Direktorin der Deutschen Sozialversicherung Europavertretung | © Felix Kindermann
Ilka Wölfle ist Direktorin der Deutschen Sozialversicherung Europavertretung ©Felix Kindermann

Welche Themen stehen im Fokus der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung?

Ein zentrales Thema ist die strategische Unabhängigkeit, die Liefersicherheit und die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln. Vor allem die während der Pandemie kurzfristig gestiegene Nachfrage und Nachfragekonzentration auf bestimmte Wirkstoffe hat die Debatte um Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln in Europa noch einmal beschleunigt. Daneben beschäftigen wir uns nach wie vor mit der sozialen Absicherung aller Erwerbstätigen. Hier sind während der Krise bestehende Lücken noch einmal sehr deutlich geworden. Wir haben beide Themen im Rahmen einer hochkarätigen Fachkonferenz diskutiert.

Auf unserer Agenda stehen auch Digitalisierung, künstliche Intelligenz und der demografische Wandel. Besonders gespannt sind wir, wie die vonseiten der EU- Kommission angekündigte Gesetzesinitiative zu nachhaltigen Lieferketten aussehen wird. Die Pandemie hat auch hier noch einmal die „Verletzlichkeit“ globaler Lieferketten und der Menschen, die darin arbeiten, offengelegt.

Es ist wichtig, auch bezüglich des Arbeitsschutzes, Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Diese ‚lessons learned‘ müssen dann zum Beispiel im neuen strategischen Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz berücksichtigt werden.

Ilka Wölfle

Der Arbeitsschutz gewinnt durch die Pandemie an Bedeutung. „Arbeitsschutz ist Gesundheitsschutz“ – so hat es Dr. Hussy, Hauptgeschäftsführer der DGUV, auf den Punkt gebracht. Gibt es Erfahrungen aus anderen Ländern?

Die meisten Mitgliedstaaten haben verschiedenste – auch branchenspezifische –Maßnahmen  ergriffen, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Infektionen mit SARS-CoV-2 zu schützen. Eine interessante Lösung für Kleinunternehmen hat beispielsweise Frankreich entwickelt. Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten wurden aufgefordert, in Präventionsmaßnahmen – auch gegen COVID-19 – zu investieren. Dabei wurden bis zu 50 Prozent der Kosten durch Zuschüsse der Assurance Maladie (CNAM) erstattet. Voraussetzung war eine Gefährdungsbeurteilung der Arbeitsplätze mithilfe eines interaktiven Online-Tools.

Aber auch auf europäischer Ebene wurde schnell reagiert, zum Beispiel mit Hilfestellungen seitens der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Die Europäische Kommission hat dafür gesorgt, dass SARS-CoV-2 in die Liste der biologischen Arbeitsstoffe aufgenommen wurde.

Es ist wichtig, auch bezüglich des Arbeitsschutzes, Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Diese „lessons learned“ müssen dann zum Beispiel im neuen strategischen Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz berücksichtigt werden.

Die EU-Kommission hat ein Weißbuch zur künstlichen Intelligenz vorgelegt hat. Wo liegen die Chancen von KI im Bereich der sozialen Sicherheit?

Das Potenzial der sogenannten künstlichen Intelligenz ist vielfältig im Bereich der Sozialversicherung. Es reicht von Anwendungen in der medizinischen Diagnose über digitale persönliche Assistenten, kollaborierende Roboter und intelligente Lernsysteme bis hin zur Fallbearbeitung und -steuerung oder der Ermittlung von Betrugsmustern. Vor dem Einsatz der KI-Techniken sind allerdings noch einige Fragen zu klären. Künstliche Intelligenz „lebt“ von Daten. Sozialdaten aber sind sensible Daten, die entsprechend geschützt werden müssen. Insgesamt bedarf es ethischer Grundsätze und eines sicheren Rechtsrahmens, um das Potenzial der KI sicher und diskriminierungsfrei auszuschöpfen. Die Europäische Kommission hat im Februar 2020 ein Weißbuch mit politischen Optionen zur Förderung der Nutzung künstlicher Intelligenz veröffentlicht. Die DGUV und die weiteren Spitzenverbände der deutschen Sozialversicherung haben sich über die Europavertretung zu diesen Optionen positioniert und sich in die Diskussion eingebracht.

Die Coronapandemie hat auch schlechte Arbeitsbedingungen von saisonalen Arbeitskräften und Beschäftigten mit Grenzgängerstatus in den Fokus gerückt. Was muss hier passieren?

Gerade saisonale Arbeitskräfte sind aufgrund des befristeten Charakters ihrer Arbeit häufig besonders anfällig für prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen. Bereits bestehende Regeln zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit werden häufig nicht umgesetzt. Aktuell haben diese schlechten Bedingungen zu lokalen COVID-19-Hotspots geführt. Problematisch ist auch, dass die betroffenen Arbeitskräfte häufig nicht ausreichend über ihre Rechte und Pflichten informiert sind oder sie aufgrund von Sprachbarrieren nicht nutzen können.

Um diese Situation zu verbessern, müssen die Rechte von Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeitern gestärkt werden. Dazu müssen bestehende Regelungen zum Schutz von Saisonarbeitskräften und mobilen Arbeitskräften konsequent durchgesetzt werden. Dies betrifft sowohl die Arbeits- und Lebensbedingungen der Betroffenen als auch den Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Außerdem hat der Europarat vorgeschlagen, dass die Mitgliedstaaten ihrerseits prüfen, ob die in ihren Ländern vorgesehenen Inspektionen zur Durchsetzung bestehender Rechtsvorschriften ausreichen.

Gerade saisonale Arbeitskräfte sind aufgrund des befristeten Charakters ihrer Arbeit häufig besonders anfällig für prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen. Bereits bestehende Regeln zu Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit werden häufig nicht umgesetzt.

Ilka Wölfle

Wie unterstützt die EU die Mitgliedstaaten dabei, die Durchsetzung der Arbeits- und Sozialvorschriften bei diesen Beschäftigungsverhältnissen zu verbessern?

Die Europäische Kommission hat reagiert und im Juli 2020 Leitlinien für Saisonarbeitskräfte vorgelegt. Sie möchte damit die nationalen Behörden wie beispielsweise Arbeitsaufsichtsbehörden, aber auch die Sozialpartner unterstützen, ihren Pflichten nachzukommen und die Sicherheit und Gesundheit von Saisonarbeitskräften zu gewährleisten. Die Leitlinien betreffen unter anderem angemessene Lebens- und Arbeitsbedingungen, angemessene Hygienemaßnahmen, die Unterrichtung der Arbeitskräfte über ihre Rechte, Aspekte der Schwarzarbeit und die soziale Sicherung.

Auch die neu gegründete Europäische Arbeitsbehörde (ELA) soll den Mitgliedstaaten und der Kommission bei der Durchsetzung europäischer Regeln im Zusammenhang mit der Arbeitskräftemobilität und der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit helfen. Sie hat im Oktober 2019 ihre Arbeit aufgenommen und wird voraussichtlich ab 2024 mit voller Kapazität arbeiten. Die ELA soll zum Beispiel ein Forum für die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen nationalen Verwaltungen einrichten. Sie soll auch bei der Verbesserung der Informationsangebote für Saisonbeschäftigte unterstützen. Ferner wird sie eine Sensibilisierungskampagne für die Branchen starten, die besonders auf Saisonarbeit angewiesen sind. Nicht zuletzt soll die ELA die Mitgliedstaaten auch bei der Koordinierung gemeinsamer und konzertierter Arbeitskontrollen unterstützen.

Während seiner Ratspräsidentschaft möchte Deutschland erste Impulse für einen europäischen Rahmen für die nationalen Grundsicherungssysteme anstoßen. Wie kann das gelingen?

Das ist das mit Abstand schwierigste Vorhaben. Deutschland bewegt sich dabei auf einem schmalen Grat. Es darf sich nur so viel vornehmen, wie auch finanzierbar ist. Das muss auf der anderen Seite aber so viel sein, dass die Menschen nicht enttäuscht sind.

Ganz konkret geht es zunächst um die Einführung eines europäischen Mindesteinkommens. Präziser gesagt geht es um die Setzung von verpflichtenden Mindeststandards für ein Mindesteinkommen. Aber schon bei der Definition gehen die Meinungen auseinander. Die einen wollen eine Art universelles Grundeinkommen. Andere denken eher an eine Art Sozialhilfe, die streng an Bedingungen geknüpft wäre. Solange hier kein Konsens besteht, ist auch der Streit über die Höhe des Mindesteinkommens müßig.

Ilka Wölfle sieht Europa auf einem guten Weg: „Es wurde schnell reagiert seitens der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.“ | © Felix Kindermann
Ilka Wölfle sieht Europa auf einem guten Weg: „Es wurde schnell reagiert seitens der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.“ ©Felix Kindermann

Besonders hart betroffen von der Pandemie sind auch die Soloselbstständigen, eine Berufsgruppe, die bislang kaum sozial abgesichert ist. Wie können neue Beschäftigungsverhältnisse in die soziale Sicherung einbezogen werden?

Zunächst einmal muss man differenzieren: Auch die Soloselbstständigen sind in manche Zweige der sozialen Sicherheit gut integriert. Lücken gibt es dagegen aus vielfältigen Gründen bei verschiedenen Lohnersatzleistungen, angefangen beim Krankengeld bis hin zu den Renten. Eine konsequente Einbeziehung in beitragspflichtige Sozialversicherungssysteme wäre der richtige Ansatz.

Zur Gruppe der Soloselbstständigen zählt auch die Plattformökonomie. Gibt es Perspektiven, für diesen Bereich faire Arbeitsbedingungen zu schaffen?

Es ist zu bedenken, dass Plattformarbeit oft grenzüberschreitende Komponenten hat. Diskutiert wird zum Beispiel ein europaweites Meldesystem für Plattformarbeit, um die Einkünfte aus dieser Arbeit besser zu erfassen. Diese könnten dann – je nach Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Sozialsysteme – für Beiträge zur Sozialversicherung herangezogen werden und damit zur Verbesserung des Sozialschutzes für Beschäftigte einer Plattform beitragen. Das wäre auch ein Beitrag zu fairen Wettbewerbsbedingungen zwischen verschiedenen Arbeitsformen. Bislang konzentrieren sich die europäischen Initiativen noch auf die Erfassung derartiger Daten zu Steuerzwecken. Hier könnte man einen Schritt weitergehen. Die Europäische Kommission hat jedenfalls für 2021 einen Legislativvorschlag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Plattformbeschäftigte angekündigt.

Ein weiteres Thema sind die globalen Lieferketten. Wie kann sich Europa für gute Arbeitsbedingungen am Beginn der Lieferketten einsetzen?

Europa hat hier konkrete Vorstellungen. Ein europäisches Sorgfaltspflichtengesetz soll die Unternehmen in die Pflicht nehmen. Sie sollen Nachhaltigkeitsfragen im Hinblick auf soziale Standards, Menschenrechte und Umweltbelange in ihren eigenen Geschäftsabläufen und Wertschöpfungsketten besser steuern. Die Chefinnen und Chefs der Unternehmen sollen angehalten werden, nicht nur auf kurzfristige Anlegerinteressen zu schauen, sondern die Interessen aller Stakeholder zu berücksichtigen. Als mögliches „Vorbild“ wird häufig das französische „Droit de Vigilance“ genannt. Es verpflichtet Aktiengesellschaften – allerdings erst ab einer Größe von 5.000 Beschäftigten in Frankreich oder 10.000 Beschäftigten weltweit –, einen Sorgfaltsplan zu erstellen, anzuwenden und zu veröffentlichen. Auch einige andere europäische Staaten diskutieren Regelungen zu Sorgfaltspflichten von Unternehmen oder haben solche bereits erlassen, zum Beispiel das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Dänemark, Norwegen und die Schweiz.

Das Interview führte Kathrin Baltscheit und Diana Grupp, DGUV