KI im Straßenverkehr: Vorteile und Herausforderungen für die Vision Zero
KI-Systeme erobern nach und nach den Verkehrssektor, und zwar in vielerlei Hinsicht. Sie sollen den Verkehr sicherer, effizienter, barrierefreier und umweltfreundlicher machen. Diese Technologien sind so weit fortgeschritten, dass sie inzwischen bei Fahrerassistenzsystemen, der Planung der Infrastruktur und in der Verkehrssteuerung eingesetzt werden.
Seit November 2024 sorgt in Hamm die bundesweit erste Ampel, die mit künstlicher Intelligenz (KI) arbeitet, für Ärger. Die Stadt hatte die „intelligente“ Ampel 2023 installiert, um Menschen, die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind, zu bevorzugen. Baustellen haben aber die Rahmenbedingungen für den Verkehr verändert. Dadurch ergaben sich lange Wartezeiten für die Autos, die Folge waren lange Staus. Nun will Hamm die KI-Funktion zeitweise deaktivieren.
Dieses Beispiel zeigt, dass künstliche Intelligenz im Verkehrsbereich bereits viele Potenziale entfaltet, aber auch noch mit Problemen konfrontiert ist. Nachfolgend werden Entwicklungen und Herausforderungen in zentralen Bereichen vorgestellt.
KI-Systeme in der Verkehrssteuerung
Ziel einer guten Verkehrssteuerung ist ein fließender Verkehr und Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmenden. Zu den effektivsten Anwendungen der Verkehrssteuerung gehört die adaptive Ampelsteuerung. Auf Basis von KI-Algorithmen lassen sich in Echtzeit Verkehrsströme analysieren und Ampelschaltungen anpassen. Verantwortliche für Verkehrsplanung und Kommunen versprechen sich davon weniger Staus und damit weniger Emissionen.
Das KI-System der Ampel in Hamm wurde so ausgelegt, dass es den Fuß- und Radverkehr bevorzugt. Die Ampel erfasst das Geschehen mit Kameras und der integrierte Computer berechnet aus der Geschwindigkeit und Art des Verkehrs die nötigen Grünphasen der Ampel. Autos müssen etwas warten. Ändern sich die Rahmenbedingungen, zum Beispiel durch Baustellenumfahrungen in der Innenstadt oder hohes Verkehrsaufkommen, kann sich die KI diesen neuen Bedingungen nicht adäquat anpassen und es entstehen Staus. Das führt zu schwindendem Vertrauen in diese Technologie. Das KI-System in Hamm soll jetzt in den Stoßzeiten zu einer ganz normalen Ampel werden – die KI wird also zeitweise deaktiviert.
Um die Infrastruktur KI-unterstützt zu steuern, sind erhebliche Investitionen nötig. Dazu gehören innovative Sensoren, schnelle Rechner, zuverlässige und manipulationssichere Kommunikationskanäle oder Gateways. Viele spezifische Komponenten sind also notwendig. Nicht zuletzt müssen die KI-Systeme nachvollziehbar funktionieren. Alles mit dem Ziel, den Verkehr gerechter, emissionsärmer und sicherer zu gestalten.
KI-Unterstützung bei Fahrerassistenzsystemen
Betrachtet man Fahraufgaben von Menschen wie Stabilisierung, Bahnführung oder Navigation haben Fahrerassistenzsysteme das Potenzial, menschliche Unzulänglichkeiten und Fehler zu reduzieren. Moderne Fahrzeuge sind deshalb mit einer Vielzahl von Fahrerassistenzsystemen ausgestattet.[1] Sie verbessern den Komfort, erkennen beispielsweise Verkehrsschilder und schalten das Licht bei Dämmerung automatisch ein. Sie warnen oder greifen ein, um Unfälle zu verhindern oder zumindest die Folgen zu mildern.
Im Gegensatz zu Menschen ist ein Fahrerassistenzsystem immer aufmerksam, es lässt sich nicht ablenken, zum Beispiel durch Telefonate. Es fällt auch nicht in einen Sekundenschlaf, überschätzt sich nicht beim Überholen und hält sich strikt an die Verkehrsregeln. Ein Beispiel dafür ist der automatische Notbremsassistent.
Je nach Fahrzeughersteller warnt der Notbremsassistent die Fahrenden vor einer möglichen Kollision und greift als letztes Mittel ein, um eine Kollision zu verhindern oder mindestens abzumildern. Neue Entwicklungen von Hard- und Software ermöglichen die Erkennung von Fußverkehr. Für Lkws ist der automatische Notbremsassistent seit 2018 verpflichtend vorgeschrieben und seit dem 5. Juli 2024 auch für neu zugelassene Pkws, UN-weit ab 2028 für alle Neufahrzeuge.[2] Aus der Kombination von Fahrzeugdaten (Lenkwinkel, Lenkradwinkel, Pedalstellungen, Geschwindigkeit, Fahrerbereitschaft) und Sensoren zur Messung der vorderen, hinteren und seitlichen Abstände berechnen und erkennen Bordcomputer potenziell kritische Situationen mit anderen Fahrzeugen.
Derzeitige KI-Systeme können auch andere Verkehrsteilnehmende in der Umgebung des Fahrzeugs erkennen, insbesondere Personen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind. Deren dynamisches Verhalten lässt sich mit KI-Systemen erfassen und vorhersagen; Unfälle können vermieden werden. Das ist ganz im Sinne der Vision Zero. Weitere Fahrerassistenzsysteme, die mit Sensoren und KI-Systemen die Umgebung analysieren, sind beispielsweise Verkehrszeichenerkennung, adaptive Geschwindigkeitsregelung, Spurhalte-, Totwinkel- oder Abbiegeassistent.
KI-Systeme können auch im Innenraum des Fahrzeugs unterstützen: Ist die Person am Steuer aufmerksam oder müde? Verändert die Person gerade eine Einstellung auf dem Touchbildschirm und zieht dabei unabsichtlich in Richtung Mittellinie? Aktuelle KI-gestützte Fahrerassistenzsysteme erfassen Handhaltung, Kopfdrehung, Körperhaltung über spezialisierte Kameras im Innenraum und erkennen die Bereitschaft der Fahrerin oder des Fahrers. Wird sie als mangelhaft eingestuft, löst das System situationsangepasste Maßnahmen aus, die die Aufmerksamkeit wiederherstellen.
Gerade bei Abbiegevorgängen ist fehlende Aufmerksamkeit ein Problem. KI-Systeme können helfen, den Rad- und Fußverkehr zu erkennen und Unfälle, die durch den toten Winkel oder fehlende Aufmerksamkeit verursacht werden, zu vermeiden. Derartige Warnsysteme sind in der Verordnung (EU) 2021/1341 für Erstzulassungen von Pkws und leichten Nutzfahrzeugen seit dem 5. Juli 2024 vorgeschrieben.
KI-Systeme in der Verkehrsinfrastruktur
Mit geeignetem Training können KI-Systeme das Unfallgeschehen an unfallträchtigen Punkten der Infrastruktur, beispielsweise an einer Kreuzung oder einem Fußgängerüberweg, vorhersagen. Die Informationen an diesen Punkten können für KI-gestützte Navigationssysteme hilfreich sein, um die Kreuzung zu meiden.
An besonders kritischen Stellen können stationäre Sensor- und Kameradaten über normierte Kommunikationsprotokolle (Vehicle-to-Infrastructure V2I, I2V – drahtlose Kommunikation von Autos mit Geräten in der Umgebung) zur Verfügung gestellt werden. Geeignete Fahrzeuge können die Zusatzinformationen der externen Sensorik nutzen, um Unfälle zu vermeiden.
Herausforderungen bei der Integration von KI-Systemen
Um die Vision Zero „Alle kommen an, niemand kommt um“ zu realisieren, müssen KI-Systeme dauerhaft störungsfrei, manipulationssicher und zuverlässig sein. Das bedeutet, es sind noch viele technische und organisationale Veränderungen notwendig.
Die Vorteile und Herausforderungen von KI-Unterstützung in einem fortschrittlichen Assistenzsystem lassen sich anhand des Notbremsassistenten darstellen:
Elementar zur Unfallvermeidung ist die Erkennung von Hindernissen und Personen und deren zukünftiges Verhalten. Das KI-System muss erkennen, ob sich in Blickrichtung der Kamera beziehungsweise der Sensoren eine „Person“ befindet. Für uns Menschen eine Kleinigkeit, haben wir doch eine Menge Erfahrungen, wie Menschen aussehen können – in ihrer Vielfalt und in besonderen Situationen. Regnet es, haben Menschen oft einen Regenschirm aufgespannt, im Winter tragen sie eine dicke Jacke, im Sommer leichte Kleidung, manchmal Trachten und im Fasching beziehungsweise Karneval Verkleidungen.
Das KI-System muss also auf die unterschiedlichsten Ansichten von Menschen trainiert werden, um eine „Person“ hinreichend sicher zu erkennen. Auswahl und Menge der Trainingsdaten sind entscheidend für die Erkennungsleistung. Es ist ethisch nicht akzeptabel, dass verkleidete Menschen oder Menschen, die einen Einkaufswagen schieben[3], nicht als „Person“ erkannt werden. In der Trainingsphase müssen sehr viele Daten (Bilder, Videos, aufbereitete Sensordaten von Menschen) vom KI-System analysiert werden, um die Erkennungsleistung für Personen zu trainieren. Dies stellt sehr hohe Anforderungen an die Datenqualität und -menge, insbesondere wenn es in Ägypten (Sahara, Kamele) oder in Australien (Linksverkehr, Kängurus) genauso sicher funktionieren soll wie in Deutschland. Und trotzdem bleibt eine kleine Unsicherheit mit möglicherweise fatalen Folgen.
Ist das KI-System fertig trainiert, kann es einen Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit als „Person“ erkennen. Kamera- und Sensordaten in einer Größenordnung von mindestens 1 GB pro Sekunde müssen dafür verarbeitet werden. Andere Schätzungen gehen von 2,3 GB bis 300 GB pro Sekunde aus.[4]
Nehmen wir für unser Beispiel an, eine Person wurde mit der geforderten Sicherheit erkannt. Nun muss eine andere Komponente des KI-Systems entscheiden, ob die Person mit dem Fahrzeug kollidieren könnte und wie die Kollision vermieden werden kann. Daher muss das Fahrzeug-KI-System die eigene Richtung und die Geschwindigkeit kennen und zusätzlich die Richtung und Geschwindigkeit der Person anhand von Indikatoren schätzen. Während der Schätzung muss gewährleistet sein, dass die Person ein bis fünf Sekunden durchgehend erkannt werden kann[5] – Sichtbehinderungen können hier zum Problem werden.
Droht eine Kollision mit dem Fahrzeug, kann das KI-System beispielsweise warnen, die Fahrzeuggeschwindigkeit verringern, bremsen oder ausweichen. Oder hupen. Das KI-System muss im urbanen Umfeld auch andere Personen auf Verkehrsmitteln wie Fahrrädern, E-Scootern oder Kamelen (Sahara!) sicher erkennen.[6] Auch hier werden viele Trainingsdaten in hoher Qualität für das KI-System benötigt. Ein Restrisiko bleibt trotzdem.
Solange ein Mensch die Kontrolle über das Fahrzeug hat, könnten Probleme der KI-Systeme bei der Erkennung von Kollisionen noch abgefangen werden. Je weniger der Mensch aktiv in die Fahraufgabe involviert ist, desto geringer ist sein Situationsbewusstsein. Eine Übersicht dazu liefert Abbildung 1 mit den Automatisierungsstufen, den sogenannten SAE-Leveln. So muss ein Mensch in SAE-Level 3 Betriebsmodus[7] des Fahrzeugs nur überwachende Tätigkeiten ausführen und bei Bedarf schnell übernehmen. Das schafft neue Probleme: Entweder werden die Fahrenden schnell müde oder die Übernahmezeiten verschlechtern sich.[8] Und eine zeitkritische Übernahme durch einen Teleoperator, der das Fahrzeug fernsteuert, ist rechtlich und psychologisch umstritten.[9] Bei hochautomatisierten Fahrzeugen in den Stufen SAE L4 und L5 sitzen Menschen zumindest zeitweise als Passagiere ohne Interaktion im Fahrzeug. Eine zeitkritische Übernahme der Fahraufgabe ist nicht vorgesehen.

Datensicherheit und Transparenz
Damit KI-Systeme sicher durch den Verkehr navigieren können, müssen die Umgebungskarten stets aktuell sein. Hierfür wird eine Verbindung ins Netzwerk benötigt. Steht die Verbindung, lassen sich rechenintensive KI-Funktionen zu Rechenzentren auslagern. Trotzdem müssen alle sicherheitskritischen Funktionen „on board“ vorgehalten werden, denn Mobilfunkverbindungen sind nicht immer stabil.
Oftmals ungeklärt sind Art und Umfang der Datenübertragung zum Hersteller ebenso wie die Datenhoheit der fahrenden Person.[10][11][12] Bislang entscheiden die Hersteller der Fahrzeuge allein, für wen die Daten zusätzlich zu den gesetzlich vorgegebenen Daten zugänglich sind.[13] Eine erste Maßnahme zur Datentransparenz könnte der Event-Datenschreiber (EDR)[14] darstellen. Dieser ist in der Europäischen Union seit Juli 2024 bei Neuwagen vorgeschrieben. Stimmt der Halter oder die Halterin zu oder ordnet es ein Richter oder eine Richterin an, können Fahrzeugdaten nach einem Unfall auch ohne Mitwirkung des Herstellers ausgelesen werden.
Die nächsten Jahre werden zeigen, ob die Hoffnungen auf mehr Sicherheit durch KI-Unterstützung erfüllt werden. Das Vertrauen in die Technologie lässt sich durch transparente Datenerhebung und nachvollziehbare Entscheidungen der KI Systeme stärken.[15]