Mehr Sicherheit am Arbeitsplatz für Frauen: Daten sammeln, Strategien entwickeln

Frauen und Männer sind an scheinbar gleichen Arbeitsplätzen unterschiedlichen Gefährdungen ausgesetzt. Auch die gesundheitlichen  Auswirkungen sind deshalb unterschiedlich. Präventions- und Ausgleichsprogramme sind möglicherweise schlecht auf Frauen und ihre Arbeitsplätze abgestimmt. Der Beitrag beschäftigt sich mit dem sich daraus ergebenden Handlungsbedarf.

Was über Gender und Gesundheit am Arbeitsplatz bekannt ist

Frauen* und Männer haben unterschiedliche Arbeitsplätze, bekommen unterschiedliche Aufgaben zugewiesen und sind unterschiedlich gefährdet. Sie sind in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen, Berufen und Aufgabenbereichen tätig, die unterschiedliche Gefährdungen mit sich bringen.[1][2][3][4] Beispielsweise sind 47 Prozent der kanadischen Erwerbsbevölkerung Frauen[5]; die Berufe von Frauen und Männern unterscheiden sich jedoch: Nur zwei der zehn häufigsten Berufsbezeichnungen für Frauen (Einzelhandelskauffrau und Restaurantangestellte) gehören auch zu den zehn häufigsten für Männer.[6] Um eine gleichmäßige Verteilung von Frauen und Männern in der Erwerbsbevölkerung zu erreichen, müsste etwa die Hälfte den Arbeitsplatz wechseln.[7] Und selbst dann sind die Aufgaben an einem Arbeitsplatz nicht gleich. In Fabriken arbeiten Männer eher am Anfang und am Ende von Fließbändern, während Frauen in der Mitte tätig sind, wo ihre Arbeitsgeschwindigkeit durch die Männer vor und hinter ihnen gesteigert wird. Verkäuferinnen im Einzelhandel verkaufen im Vergleich zu ihren Kollegen häufiger Kleidung, während männliche Einzelhandelsangestellte häufiger elektronische Geräte verkaufen. Frauen in der Gastronomie gehen mit einer höheren Geschwindigkeit und sind während ihrer Arbeitszeit mehr in Bewegung als ihre Kollegen. Weibliche Reinigungskräfte putzen mehr Toiletten als ihre Kollegen, wischen jedoch seltener den Boden. Männer, die bei der Arbeit stehen, bewegen sich im Allgemeinen mehr als bei der Arbeit stehende Frauen; Letztere haben eine verkrampftere Haltung im Stehen.[8]

Geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Aufgabenzuweisung führen zu Unterschieden bei der Exposition von Gefährdungen, die sich auf die Gesundheit auswirken. Während der COVID-19-Pandemie hatten Frauen in Nordamerika (vor allem rassistisch diskriminierte Frauen) etwa 76 Prozent der am stärksten exponierten Arbeitsplätze inne, zum Beispiel die „systemrelevanten“ Arbeitsplätze im Gesundheitswesen und im Einzelhandel.[9] Folglich waren 73 Prozent der infizierten Beschäftigten im Gesundheitswesen Frauen.[10] Sie erkranken zudem viel häufiger an arbeitsbedingten Muskel-Skelett-Erkrankungen als Männer[11], und Frauen berichten häufiger über psychische Auswirkungen der Arbeit.[12] Bei Frauen werden etwa 50 Prozent mehr arbeitsbedingte Muskel-Skelett-Erkrankungen[13] und psychische[14] Probleme festgestellt. Bei Männern dagegen werden mehr Arbeitsunfälle und Todesfälle verzeichnet. Männer leiden zudem häufiger an berufsbedingten Krebserkrankungen, berufsbedingter Taubheit und chemischen Vergiftungen am Arbeitsplatz. Es ist jedoch schwer zu sagen, ob der beobachtete Unterschied zwischen Männern und Frauen in Bezug auf die Gesundheit am Arbeitsplatz mit Unterschieden durch berufliche Gefährdungen oder mit biologischen Geschlechtsunterschieden zwischen Frauen und Männern zusammenhängt.

Biologisches Geschlecht und arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken

Biologisch bedingte Geschlechtsunterschiede beeinflussen sowohl Gefährdungen als auch gesundheitliche Auswirkungen. Frauen sind im Durchschnitt kleiner als Männer und wiegen weniger, obwohl es auch Frauen gibt, die größer und schwerer als die meisten Männer sind. Zudem sind Frauen im Allgemeinen anders gebaut als Männer. Mit diesen Unterschieden wird nicht immer angemessen umgegangen. Wenn Frauen, von denen es heißt, dass sie Gerüche besser wahrnehmen können[15], in einer Fabrik aufgefordert werden, Lösungsmittel durch Riechen zu identifizieren, sind sie gefährlichen Chemikalien potenziell stärker ausgesetzt.[16]

Neben unterschiedlichen Gefährdungsmustern gegenüber Gesundheitsrisiken scheinen Frauen und Männer auch unterschiedlich auf Risikofaktoren zu reagieren. Viele weibliche Körperfunktionen können durch den Arbeitsplatz beeinflusst werden; die Forschung hat die Auswirkungen bisher jedoch kaum untersucht. So werden beispielsweise Dysmenorrhoe und Unregelmäßigkeiten des Menstruationszyklus mit Arbeiten bei Kälte, Schichtarbeit und schwerem Heben in Zusammenhang gebracht.[17] Einige chemische Belastungen werden mit einer vorzeitigen Menopause in Verbindung gebracht.[18] Bei bisherigen Untersuchungen der Auswirkungen des Arbeitsplatzes auf die Schwangerschaft lag das Augenmerk fast ausschließlich auf dem Fötus, obwohl die Arbeitsbedingungen auch einen Einfluss auf die Gesundheit der Schwangeren haben können.[19]

Frauen wurden bewusst von Studien über die Auswirkungen vieler Chemikalien am Arbeitsplatz ausgeschlossen, um einheitliche Stichproben zu erhalten (siehe zum Beispiel Brauner et al., 2020[20]). Daher ist nicht klar, ob die derzeitigen Grenzwerte für alle angemessen sind. Es steht jedoch fest, dass der Stoffwechsel von Frauen und Männern auf einige Chemikalien am Arbeitsplatz unterschiedlich reagiert.[21] Frauen wurden auch lange von vielen Studien über berufsbedingte Krebserkrankungen ausgeschlossen, mittlerweile bessert sich die Situation.[22][23]

Bedeutung für die Prävention: Überlegungen zur Gestaltung

Die offensichtlichste Folge von Arbeitsumgebungen, bei deren Gestaltung Frauen nicht berücksichtigt wurden, ist die mangelnde Anpassung an die Größe und den Körperbau von Frauen. Wenn Frauen jedoch nach einer angemessenen Ausstattung fragen, könnten Kollegen und Vorgesetzte denken, dass sie eine Sonderbehandlung wünschten oder für den Job ungeeignet seien.[24] Dennoch ist es wichtig, dass Frauen bei der Entwicklung sämtlicher Aspekte des Arbeitsumfelds berücksichtigt werden.

Die mangelhafte Passform von Schutzmasken beispielsweise wurde häufig als Faktor für die Übertragung von Viren ermittelt. Mitunter passt die Form nicht ausreichend gut zu den kleineren Gesichtern von Frauen (und zu den Gesichtsproportionen einer Vielzahl von Ethnien). Auch Masken, die vor Chemikalien schützen, könnten vor allem bei weißen Männern getestet worden sein. Dieselben Probleme gelten auch für die Gestaltung anderer Schutzkleidung. Ungeeignete Kleidung ist eine der Hauptursachen für Gesundheitsrisiken bei Frauen, die in kalten Umgebungen arbeiten. Durch ungeeignete Kleidung können unter anderem der Toilettengang und der hygienische Schutz erschwert werden.[25]

Die Gefährdung durch Chemikalien kann durch die Ausmaße des unmittelbaren Arbeitsumfelds beeinflusst werden. Wenn die Arbeitsflächen zu hoch sind und die Belüftung unzureichend ist, befinden sich die Nasen von Frauen unter Umständen dichter an Behältern mit gefährlichen Lösungsmitteln und die Augen näher an ätzenden Chemikalien als die von Männern.

Auch Werkzeuge und Ausrüstungen müssen für Frauen angepasst werden. Grad und Ausmaß der Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Benutzung von Gegenständen hängen von verschiedenen Parametern der Arbeitssituation ab, die möglicherweise angepasst werden können.[26] Als eine der wenigen Frauen in einer Maschinenwerkstatt mit mehr als 1.000 Männern gebeten wurde, Schrauben an einem Dieselmotor anzuziehen, dauerte es eine Weile, bis ihr auffiel, dass sie einen längeren Schraubenschlüssel brauchte. Als sie einen gleich langen Schraubenschlüssel benutzte wie ihr Kollege, brauchte sie 40 Prozent mehr Zeit zum Anziehen der Schrauben als ihr Kollege. Als sie einen doppelt so langen Schraubenschlüssel bekam, war sie um 60 Prozent schneller als ihr Kollege.[27] Der längere Schraubenschlüssel verschaffte ihr einen mechanischen Vorteil, sodass sie weniger Kraft brauchte, obwohl die Hebelbewegung über eine längere Strecke ausgeführt werden musste. Ihre gemessene Griffkraft betrug weniger als die Hälfte des Durchschnittswerts ihrer Kollegen und nur ein Drittel der Griffkraft des vorher genannten Kollegen, doch mit dem richtigen Werkzeug erledigte sie die Aufgabe schneller als er.

Es ist erstaunlich, dass selbst dann, wenn eine Tätigkeit hauptsächlich von Frauen ausgeübt wird, die Abmessungen des Arbeitsplatzes unpassend sein können. Die Höhe von Küchenarbeitsplatten, die Abmessungen von Computertastaturen und -mäusen, ja sogar die Höhe der Schiebestangen an den Wagen von Hotelreinigungskräften wurden anhand der Durchschnittsmaße weißer männlicher Bevölkerungsgruppen festgelegt.[28]

Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Nicht nur das physische Arbeitsumfeld, sondern auch das organisatorische Umfeld ist durch die fehlende oder unsichtbare Beteiligung von Frauen geprägt. Dies führt zu einer konzeptionellen Trennung zwischen dem Schutz von Gesundheit und Sicherheit sowie der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Viele Parameter am Arbeitsplatz beeinflussen jedoch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die am häufigsten genannten Aspekte sind die Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit der Arbeitszeiten, die Möglichkeit, während der Arbeit zu telefonieren und Anrufe entgegenzunehmen, die Arbeit aufgrund von familiären Notfällen verlassen zu können sowie die zunehmende Müdigkeit.[29]

Lösungen für diese Aspekte sind ein wichtiges Thema für Fachleute für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, die sich mit Arbeitsplanung beschäftigen. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, wie man Arbeitsplätze für Frauen und andere Personen mit starken familiären Verpflichtungen freundlicher gestalten könnte. Beispielsweise könnten sich feste Arbeitsteams, erleichterte Möglichkeiten zum Tausch von Schichten sowie aus familiären Gründen gewährter Sonderurlaub positiv auswirken. Für schwangere Arbeitnehmerinnen könnten Vorkehrungen getroffen werden, um den Arbeitsplatz und die Arbeitsaufgaben an die körperlichen Veränderungen anzupassen.

Arbeit als kollektives Produkt betrachten

Arbeit und betrieblicher Gesundheitsschutz werden häufig vom Individuum her betrachtet, bewertet und gehandhabt. Die meiste Arbeit wird jedoch in Teams geleistet, und dies gilt insbesondere für einige Frauenberufe im Gesundheitswesen und in Büros sowie für viele mehrheitlich von Männern ausgeübte Berufe, die nun auch Frauen zunehmend ergreifen. Zu einem effizienten Gesundheitsschutz gehört auch, zu untersuchen, wie das Arbeitsumfeld die Teamarbeit beeinflusst, unabhängig davon, ob im Team nur ein Geschlecht oder beide vertreten sind. So mussten beispielsweise während der Corona-Pandemie viele reguläre Beschäftigte des Gesundheitswesens aufgrund von COVID-19-Infektionen oder Erschöpfung von anderen vertreten werden. Die Krankenhäuser stellten kurzfristig Zeitarbeitskräfte ein, die von externen Agenturen bereitgestellt wurden. Die Arbeit im Gesundheitswesen erfordert jedoch ein hohes Maß an Teamarbeit, und wer neu in einer Krankenhausabteilung anfängt, braucht zusätzliche Zeit, um zu lernen, welche Bedürfnisse die einzelnen Patientinnen und Patienten haben, wo die Vorräte gelagert werden, wie die Anweisungen für die Nachsorge bei der Entlassung der Patientinnen und Patienten übermittelt werden und wie die Zusammenarbeit mit den anderen Teammitgliedern funktioniert.[30] Zusätzliche Schwierigkeiten können auftreten, wenn sich die Arbeitsteams aus Frauen und Männern[31] oder aus verschiedenen Ethnien zusammensetzen. Das arbeitsmedizinische Fachpersonal muss in seine Überlegungen einbeziehen, wie es diese Zusammenarbeit erleichtern kann.

Einbeziehung von Geschlecht in die Arbeitsplatzbewertung

Es ist erstaunlich schwierig, das Geschlecht (oder andere Ursachen sozialer Ungleichheit) in die Bewertung von Arbeitsplätzen einzubeziehen, weil Fachleute nicht daran gewöhnt sind, soziodemografische Merkmale von Beschäftigten zu berücksichtigen.[32][33] Fachleute für Ergonomie zum Beispiel sind daran gewöhnt, die Eignung einer einzelnen arbeitenden Person für ihre Aufgaben zu untersuchen, und nicht daran, die Verteilung von Arbeitsplätzen nach Geschlecht oder Hautfarbe zu analysieren. Solche Analysen können jedoch entscheidend sein, um Gesundheitsrisiken für die Beschäftigten zu ermitteln. Eine Analyse der Verteilung von Alter, Geschlecht und Betriebszugehörigkeit der Beschäftigten in einer französischen Druckerei ergab zum Beispiel überraschenderweise, dass Männer nie länger als ein paar Monate in der Abteilung blieben. Nach kurzer Zeit wurden sie entweder befördert oder sie verließen die Abteilung, um einen anderen, besseren Job zu finden. Als der Ergonom genauer hinsah, stellte er fest, dass die Produktion der Abteilung dreimal so schnell gestiegen war wie die Zahl der Beschäftigten und dass diejenigen, die geblieben waren, unter Erschöpfung und Schmerzen litten. Die Männer hatten mehr Möglichkeiten gehabt, die Abteilung zu verlassen, waren also weniger gefährdet.[34]

Die Einbeziehung des Geschlechts in Arbeitsplatzanalysen kann zwar wertvolle Informationen liefern, jedoch auch zu Problemen für Fachkräfte führen. Firmenleitungen möchten unter Umständen zwischen weiblichen und männlichen Beschäftigten keine Spannungen riskieren, die schnell persönlich werden und das Arbeitsklima gefährden können.[35] Es kann notwendig sein, Fachleute mit besonderen sozialen Fähigkeiten in solche Vorhaben einzubeziehen. Andererseits kann die Tatsache, dass Spannungen, Unmut und Konkurrenzdenken auftauchen, bedeuten, dass sie die ganze Zeit vorhanden waren und nur nicht erkannt wurden und dass die Firmenleitungen darüber Bescheid wissen müssen.

Schlussfolgerung

Fachleute müssen verstehen, wie das Geschlecht die Gesundheit am Arbeitsplatz bestimmt oder beeinflusst und wie sie eingreifen können, um Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und unsichtbare Gefährdungen für bestimmte Gruppen, einschließlich Frauen, zu beseitigen.

 

* Es handelt sich bei diesem Text um eine Übersetzung aus dem Englischen.

„Gender“ ist die englische Bezeichnung für das soziale, das gelebte und gefühlte Geschlecht und wird in diesem Beitrag mit „Geschlecht“ übersetzt. Der im englischen Original benutzte Begriff „Sex“ meint im Deutschen das biologische Geschlecht. (Anmerkung Chefredaktion)